Die Ausstellung „Aléas“ des marokkanisch-französischen Künstlers Hicham Berrada in der Galerie Stadt Sindelfingen entführt das Publikum in eine ambivalent aufgeladene Welt der sich selbst hervorbringenden materiellen Erscheinungen
Kunstwerke, so die gängige Auffassung, haben sich gefälligst nicht zu verändern. Museen, Auktionshäuser und um den Werterhalt ihrer Schätze besorgte Privatsammler geben viel Geld für geeigneten UV-Schutz, Klimatisierung und – im Falle einer Beschädigung des ursprünglichen Zustands – für hochqualifizierte Restaurator:innen aus. Stabilität lautet hier das Dogma. Schwankungen und Veränderungen sind in der Kunst in der Regel unerwünscht.
Nicht so in den großen Installationen des marokkanisch-französischen Künstlers Hicham Berrada. In seinen sich nach und nach verändernden Werken treten vollkommen andere Triebkräfte und Dynamiken zu Tage. Unter dem Titel „Aléas“ (etwa: Unangenehme Zufälle) zeigt jetzt die Galerie Stadt Sindelfingen die erste institutionelle Einzelausstellung des 1986 im marokkanischen Casablanca geborenen und heute in Frankreich lebenden Künstlers. Zu sehen sind diverse Videoarbeiten, Installationen, Skulpturen und Objekte.
Klimakammer als programmatisches Zentrum der Schau
Die zentrale Arbeit mit dem Titel „Chambre Climatique“ (2024) bildet das programmatische Zentrum der Schau. Gleich im ersten Raum treffen die Besucher:innen auf einen aus seinem Inneren heraus leuchtenden Glaskasten mit den Maßen 240 x 200 x 200 cm. In der an ein Terrarium erinnernden Box befindet sich ein geheimnisvolles, leicht schrumpeliges Gebilde, dessen rosa-beigefarbene Oberfläche ein wenig an menschliche Haut erinnert. Flankiert wird es von weiteren, zunächst einmal unvertraut wirkenden Formen und Strukturen, die ebenfalls an Kreatürliches denken lassen.
Aus dem torfartigen Boden heraus wachsen wiederum Farne. Künstliches Licht und Wasserschläuche scheinen das Ensemble am Leben zu halten. Was ist hier künstlich erzeugt? Was lebendig? Und was bloß unbelebte Materie? Alles Fragen, die nicht so leicht zu beantworten sind. Hicham Berrada führt den Betrachter:innen in dieser Installation einen ambivalenten Mikrokosmos vor Augen, in dem alles mit allem zusammenhängt – und der am Ende der Ausstellung ganz anders aussehen wird.
Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts
Die in einem zeitaufwändigen Prozess im 3D-Drucker produzierten, an bizarre Kreaturen erinnernden Körper bestehen zwar aus synthetischen Polymeren, also einer Art Kunststoff. Hergestellt sind diese jedoch aus Maisstärke und daher biologisch abbaubar. Genau das geschieht in den nächsten Wochen und Monaten. Angeregt auch durch das die Sonne simulierende künstliche UV-Licht und die Feuchtigkeit, werden in der Kammer vielfältige Stoffwechselprozesse in Gang gesetzt, die die Moleküle gewissermaßen zum Tanzen bringen. Am Ende werden die rätselhaften Gebilde, die an fantastische Lebensformen auf fernen Planeten erinnern, wie man sie aus Science-Fiction-Formaten wie „Star Trek“ kennt, nach und nach durch Myzelien, also Pilzfäden, aufgelöst und mit dem Nährboden verschmolzen sein. Von Berrada in Gang gesetzt wird ein Prozess, der als Bioremediation bezeichnet wird und sozusagen das ökologische Gleichgewicht wiederherstellt.
Pflanzen, Mikroben, Bakterien, Metalle, Seltene Erden, Salze, Mineralien und andere organische und anorganische Stoffe werden in Hicham Berradas oftmals extraterrestrisch bunt wirkenden Werken unter Zuhilfenahme von Licht und Energie zu Veränderungsprozessen angeregt, die der Künstler nur bis zu einem gewissen Grad steuern kann. Der Rest ist Zufall. In Berradas Praxis kommen die elementaren Bausteine unseres Planeten zu Wort und werden sozusagen zu gleichberechtigten Ko-Autoren einer prozesshaften, potenziell nie abgeschlossenen Kunst.
Hicham Berrada dazu: „Ich versuche, die Phänomene, die ich mobilisiere, zu kontrollieren, so wie ein Maler seine Pigmente und Pinsel kontrolliert. Meine Pinsel und Pigmente stellen Parameter wie Temperatur, Magnetismus oder Licht dar.“ Statt illusionistischer Repräsentationen von Landschaft erzeugt er an Versuchsanordnungen erinnernde Settings, in welchen sich die Dinge durch gezielte Steuerung, aber letztendlich auch durch seltsame Zufälle selbst hervorbringen und vor den Betrachter:innen in Erscheinung treten.
Die toxische Schönheit von Zufallsprozessen
Dabei geht es dem Sohn einer Biologieprofessorin und eines Pharmazeuten keineswegs darum, sein Publikum mit irgendwelchen „Special Effects“ zu verblüffen. Hicham Berradas Anliegen ist wesentlich ernsthafter. Für seine Serie der „Cartes mères“ (2022/2023), zu deutsch „Mutterplatinen“, hat Hicham Berrada Computerbauteile wie Speicher, Prozessoren und Grafikkarten elektrolytischen Tauchbädern ausgesetzt. Dermaßen stimuliert, beginnen die verbauten Materialien teilweise heftig miteinander zu reagieren. Es entstehen bizarre, an Miniaturlandschaften erinnernde Formationen. An einem bestimmten Punkt aber stoppt Hicham Berrada diesen Prozess durch die Zugabe von Kunstharz. Das Ergebnis sind ebenso poetische wie aufrüttelnd-beängstigende Oberflächen. Er lenkt unseren Blick auf die Ausbeutung unseres Planeten und die toxische Schönheit von chemisch-physikalischen Zerfallsprozessen.
Wie in eine Unterwasserwelt eintauchen können die Besucher:innen der Galerie Stadt Sindelfingen dann im ersten Obergeschoss im markanten Anbau des Altbaus, dem von dem Berliner Architekten Josef Paul Kleihues (1933-2004) entworfenen Oktogon. Der achteckig angelegte Turm bietet die perfekten Rahmenbedingungen für die Präsentation der immersiven 8-Kanal-Videoinstallation „Présage 07/07/2024 14h18“ (2024). Das Publikum taucht hier in die 360°-Ansicht eines Aquariums ein, in welchem über einen Zeitraum von fast neun Minuten immer wieder neue chemische Reaktionen ablaufen.
Choreographie vom Werden und Vergehen
Durch die Zugabe chemischer Substanzen hat Hicham Berrada eine Art Unterwasserfeuerwerk erzeugt, in dessen Verlauf die bizarrsten und buntesten Formen und Gebilde entstehen – teilweise um sich nach wenigen Sekunden bereits wieder aufzulösen und die Grundlage neuer Farb- und Formexplosionen zu bilden. So erzeugt er eine Choreographie vom Werden und Vergehen, die auch als Metapher für die Zeit vor dem Anthropozän sowie für die posthumane Zukunft unseres Planeten gelesen werden kann.
Hicham Berrada kombiniert in seiner künstlerischen Praxis kunsthistorische Anspielungen, etwa auf den Aspekt des Pittoresken in der Landschaftsmalerei, die Ästhetik der Wunderkammer oder die Metapher des Bildes als „Fenster zur Welt“ mit virulenten Fragestellungen der Realwelt.
Überproduktion, Rohstoffausbeutung, Fragen der Entsorgung und Wiederaufbereitung von Seltenen Erden, Stoffwechselkreisläufe und andere Phänomene bettet er in neue, oftmals auch poetische und humorvolle Bedeutungs- und Verweiszusammenhänge ein. Das Publikum regt er so zum Nachdenken über die Gegenwart und Zukunft des Planeten an, gleichzeitig weiß er es aber auch visuell zu fesseln.
Robert Smithson als Vorläufer
Sicherlich nicht unbeeinflusst ist Berrada dabei von Vorläufern wie etwa dem amerikanischen Land-Art-Künstler Robert Smithson (1938-1973). Dieser postulierte die freie Verfügbarkeit aller Dinge, um sie für ästhetische Prozesse nutzbar zu machen. Und er demonstrierte bereits in den 1960er Jahren die Unumkehrbarkeit physikalischer Prozesse anschaulich auf Industriebrachen und führte gleichzeitig den Begriff der „Entropie“ als Synonym für Chaos und Verfall in den Kunstdiskurs ein. Auch Hicham Berrada beschäftigt sich, ähnlich wie Smithson, mit Phänomenen wie Fragmentierung, Korrosion, Dekomposition, Disintegration und Sedimentation. Gleichzeitig führt er uns aber in Arbeiten wie der oben erwähnten „Chambre Climatique“ auch die Selbstheilungskräfte einer Natur vor, die, wenn man sie nur lange genug in Ruhe lässt, durchaus dazu in der Lage ist, sich zu regenerieren. Ein bisschen Hoffnung bleibt also.
Hannah Eckstein, die erst seit Juli 2023 neue Leiterin des Hauses ist, ist es mit dieser Ausstellung gelungen, diesen international viel beachteten Künstler, der bereits in der Punta della Dogana, dem Museum der Pinault Collection in Venedig, im Palais de Tokyo in Paris und im MoMA PS1 in New York ausgestellt hat, an ihrer neuen Wirkungsstätte in Sindelfingen erstmals so umfassend in Deutschland zu präsentieren.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Hicham Berrada. Aléas
Ort: Galerie Stadt Sindelfingen, Marktplatz 1, 71063 Sindelfingen
Zeit: bis 16.2.2025, Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa-So, Feiertage 10-17 Uhr
Katalog: in Vorbereitung
Internet: www.galerie-sindelfingen.de