Die Kunst der Täuschung und der Illusion: die verblüffende Welt des argentinischen Künstlers Leandro Erlich im Kunstmuseum Wolfsburg
Wer würde nicht gerne einmal den Mond betreten? Im Kunstmuseum Wolfsburg hat man jetzt sogar Gelegenheit, in den Mond hineinzugehen. Der argentinische Künstler Leandro Erlich hat für seine Ausstellung „Schwerelos“ den Erdtrabanten in der großen, abgedunkelten Halle des Museums aus Holz, Stahl, Aluminium, Polystyrol und Farbe nachgebaut – rund 13 Meter hoch und über 17 Meter im Durchmesser. Entstanden ist eine spektakuläre, hochgradig immersive Installation, deren illusionistische Kraft manche Besucher:innen so sehr überwältigt, dass sie den Raum schnell wieder verlassen müssen. Ein dunkler Gang führt zunächst in den halbkugelförmigen Mond hinein. Man betritt einen reflektierenden Spiegelboden, und findet sich in einer 360°-Videoprojektion mit NASA-Bildern vom Sternenhimmel sowie Satellitenaufnahmen von nächtlichen Städten und Landschaften wieder.
In dieser mit Sphärenklängen erfüllten, intergalaktischen Umgebung kommt sogleich ein Gefühl der Schwerelosigkeit auf. Nichts scheint mehr stabil zu sein. Der Boden wird einem förmlich unter den Füßen weggezogen. Man fühlt sich an Filme wie Lars von Triers „Melancholia“ oder Stanley Kubricks Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ erinnert. Aber auch die Licht-Installationen des ZERO-Künstlers Otto Piene oder die Unendlichkeit vortäuschenden Spiegelkammern einer Yayoi Kusama kommen einem gleich in den Sinn.
Wer diesen Vertigo-Moment hinter sich lässt, der kann über eine verwinkelte Stahltreppe noch eine kleine Aussichtsplattform oberhalb der Mondskulptur erklimmen. Von hier oben lohnt sich nicht nur der Detailblick auf die von unzähligen Kratern übersäte Oberfläche des Himmelskörpers, sondern auch der Rundblick in die 36 X 36 Meter große Ausstellungshalle.
Zurück im Erdgeschoss, kann man dann ein weiteres Highlight der Schau entdecken. Unter der Decke des Ausstellungsraums schwebt ein von innen beleuchtetes, historisch wirkendes Einfamilienhaus mit grünen Fensterläden und Dachgauben. Und auch im Haus selbst ist offenbar so einiges ins Wanken geraten. Ein Sofa und Stühle, der Toaster, ein Mixer sowie Bücher und Zeitschriften schweben wie schwerelos durch den Raum. Besonders augenfällig sind die massiven Baumwurzeln unter dem Gebäude, die den Eindruck vermitteln, das gemütliche Zuhause sei seiner ursprünglichen Umgebung brutal entrissen worden und schwebe nun ort- und orientierungslos in einem unbestimmten Nirgendwo. Der Titel der Arbeit lautet denn auch „Pulled by the Roots“ (2015-2024). Die narrativ aufgeladene Installation lässt sich als Allegorie für den Verlust von Heimat, aber auch als menetekelhaftes Sinnbild für die vom Klimawandel ausgelösten Verwüstungen durch Hurrikane und Flutwellen lesen. Das vermeintlich Heimelige kippt ins Unheimliche. Und genau das ist auch beabsichtigt. Denn, so Leandro Erlich: „Der Wendepunkt, den ich an der Illusion interessant finde, ist die Erzeugung von Zweifeln; auf diese Weise kann die Illusion kritisches Denken fördern.“
Leandro Erlichs Werk verhandelt zentrale Fragen der Kunst, aber auch unserer heutigen, massenmedialen Wirklichkeit. Mit den Mitteln der Irritation und der Illusion lädt sie zum Nachdenken, Innehalten und kritischen Hinterfragen ein.
Der österreichisch-britische Kunsthistoriker Ernst Gombrich beschrieb in seinem zentralen Werk „Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung“ (1959) das Sehen als überaus komplexen Wahrnehmungsvorgang unter Beteiligung unterschiedlichster Hirnareale. Die vom Auge empfangenen Netzhautreize werden, laut Gombrich, mit Erinnerungen und Erfahrungswerten abgeglichen, so dass das Bewusstsein sich seine eigene Wirklichkeit formt. Leandro Erlichs künstlerische Praxis offeriert den Betrachter:innen genau diese Art der Wirklichkeitskonstruktion im Spannungsfeld zwischen Vertrautem und Unvertrautem. Sie reiht sich somit ein in die lange Geschichte der Augentäuscherei und der Trugbilder in der Kunst. Diese reicht von der schon in der Antike bekannten Trompe-l’Œil Malerei über die illusionistischen Raumbilder des niederländischen Künstlers M.C. Escher bis hin zur Virtual Reality der digitalen Welt von heute. Leandro Erlich greift einerseits kunstgeschichtliche Aspekte auf, daneben aber auch brisante Themen aus Ökologie und Naturwissenschaft.
In seiner vierteiligen Arbeit „The Cloud“ (2018-2022) scheint es Erlich zu gelingen, Wolken gefangen zu nehmen und zu konservieren. Aus einiger Entfernung heraus wirkt es tatsächlich so, als schwebten die flüchtigen Himmelserscheinungen in Glaskästen. Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppt sich auch das als perfekt umgesetzte Augentäuschung. Erlich hat Wolkenbilder auf eine Reihe von Glasscheiben drucken lassen, die er nun parallel hintereinander geschichtet präsentiert, um eine räumliche Wirkung zu erzielen. Und diejenigen, die noch genauer hinsehen, entdecken, dass sich in den scheinbaren Wolkenbildern die Silhouetten von Tieren und des südamerikanischen Kontinents abzeichnen.
Die Wolke steht wie kaum ein anderes Phänomen für das Schnelle, Ephemere und Instabile, gleichzeitig aber auch für Traum und Fantasie, für das kurzzeitig Aufscheinende, sich aber ebenso schnell wieder Verflüchtigende. Wolken markieren einen Grenzzustand, irgendwo zwischen Himmel und Erde schwebend, jedoch weder dem Einen noch dem Anderen richtig zugehörig.
Leandro Erlich wurde 1973 in Buenos Aires geboren. Sein Vater war Architekt, was vielleicht sein Interesse an gebauten Räumen erklärt. Nachdem er zunächst eine Kunstakademie in seiner Heimat besucht hatte, entschloss er sich 1998, eine Residency an der Glassell School of Art in Houston, Texas zu absolvieren. Nach nur einem Jahr aber zog er weiter nach New York. Von da an begann seine Karriere an Schwung aufzunehmen. Eine Entwicklung, die bis heute anhält. Bereits im Jahr 2000 nahm er an der New Yorker Whitney Biennale teil, und schon ein Jahr später repräsentierte er Argentinien auf der Biennale in Venedig. Bis heute ist der zwischen Buenos Aires und Montevideo lebende Leandro Erlich weltweit gefragt. Seine erste Retrospektive in Europa fand 2023 in Mailand statt. Die von Museumsdirektor Andreas Beitin und Kurator Dino Steinhof in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler eingerichtete Ausstellung in Wolfsburg markiert jetzt seine erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland.
Als Argentinier ist Leandro Erlich ganz offensichtlich auch geprägt vom Magischen Realismus und von der fantastischen Literatur seines Landes, wie sie etwa in den Werken des Schriftstellers Jorge Luis Borges zum Ausdruck kommt: „In all meinen Werken…zeigt sich die Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise. Was wir sehen, ist immer eine Frage der Wahrnehmung, der stärksten Facette der Realität. Es gibt einen impliziten Aspekt sowohl des Verständnisses als auch der Konstruktion dessen, was wir als »real« bezeichnen. Jede Arbeit ist eine Reflexion über die Architektur dieses Realismus“, sagt Leandro Erlich.
Die Paradoxa und Absurditäten, die seinen Arbeiten innewohnen, haben eine verführerische Qualität, die mitunter an Zauberei denken lässt. Aber das ist in der Kunst mehr als legitim. Schon Theodor W. Adorno stellte fest: „Kunst ist Macht, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
Doch das alles geschieht bei Leandro Erlich keineswegs mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher mit spielerisch-humorvollen Mitteln der Verblüffung und der Partizipation. Besucher:innen werden zu Performern, die sich innerhalb seiner Installationen vor den Blicken der anderen und der Kamera inszenieren. Es lässt sich bereits jetzt voraussagen, dass die Schau in den nächsten acht Monaten auf Social Media-Plattformen wie Instagram & Co. eine große Sichtbarkeit bekommen wird.
Visuell besonders reizvoll dürfte nicht nur für Fotograf:innen die fast 14 Meter hohe Skulptur „Spaceship“ (2024) sein. Die Besucher:innen können die raketenartige Skulptur betreten und sich in dem gleißend weißen Raumschiff scheinbar wie Astronauten fühlen. Mittels raffiniert angeordneter Spiegel wendet Erlich auch hier einige illusionistische Tricks an, um den Effekt der Schwerelosigkeit zu erzielen.
Für europäische Augen etwas gewöhnungsbedürftig sind jedoch die kleinformatigen Objekte aus der Serie „Hybrid Nature (2021-2023), die das Kunstmuseum Wolfsburg auf der Empore präsentiert. Zu sehen sind Skulpturen im Miniaturformat aus Bronze, Keramik, Marmor und Glas, so etwa eine Schnecke aus weißem Carrara-Marmor, deren Haus von einem menschlichen Gehirn gebildet wird, und deren Fühler von ausgestreckten Fingern einer menschlichen Hand repräsentiert werden. In einer anderen Arbeit wächst dann ein kleines Haus aus einem weißen Kohlkopf, oder zwei golden glänzende menschliche Ohren aus Bronze bilden die Flügel eines Schmetterlings. Diese Objekte wirken allerdings arg verspielt und ein wenig kunstgewerblich.
Doch das trübt am Ende nicht den Gesamteindruck. In Zeiten von KI-Simulationen, Deep Fakes etc. lädt Leandro Erlichs Kunst zum genauen Hinsehen und Überprüfen dessen ein, was uns als Wirklichkeit präsentiert wird: Was ist echt? Was nur vorgetäuscht? Welche scheinbaren Wahrheiten werden uns tatsächlich nur vorgegaukelt?
Die Schau „Leandro Erlich. Schwerelos“ ist eine der bisher aufwändigsten und teuersten Ausstellungen, die das Kunstmuseum Wolfsburg in seiner 30-jährigen Geschichte realisiert hat. Deshalb hat sich das Ausstellungshaus auch dazu entschlossen, der „bombastischen Schau“ (so Museumsdirektor Andreas Beitin) eine doppelt so lange Laufzeit wie normalerweise üblich zu gönnen. Die Ausstellung „Schwerelos“ ist daher bis Mitte Juli 2025 zu sehen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Leandro Erlich. Schwerelos
Ort: Kunstmuseum Wolfsburg
Zeit: bis 13. Juli 2025, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr, Öffnungszeiten an den Feiertagen siehe Website
Katalog: zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiges Magazin (dt./engl.) für 12 Euro
Internet: www.kunstmuseum.de