In der Pariser Bourse de Commerce feiert die Pinault Collection die Arte Povera – grandios inszeniert von der ehemaligen Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev
Erde, Kohle, Altkleider, Zweige, Holz, Jutesäcke, Bindfäden oder gar Kartoffeln: Die Künstler:innen der Arte Povera vollführten Mitte der 1960er Jahre eine radikale Abkehr von den tradierten Materialien der Bildenden Kunst. Statt mit Öl oder Acryl auf Leinwand zu malen, mit Tusche auf Papier zu aquarellieren oder skulpturale Werke in Bronze oder Marmor zu schaffen, wendeten sie sich banalen Stoffen zu, die zuvor nicht als kunstwürdig gegolten hatten. Die Straße, die Natur, Eisenwaren- und Kohlenhandlungen, Elektrofachgeschäfte, Baustoffhandlungen, Betonsteinwerke oder die Altkleidersammlung genügten ihnen, um sich mit vielfältigen Materialien einzudecken.
Diese transformierten sie in mal entwaffnend poetische, mal technisch aufwendige und maschinell-prozedurale Werke. Das lag nicht etwa an Geldmangel, sondern eher an einer rebellischen Haltung, die die Grundfesten des als kommerzialisiert empfundenen, etablierten Kunstsystems erschüttern und in Frage stellen wollte. Nicht zuletzt war die Arte Povera auch eine europäische Gegenbewegung zum Triumph der amerikanischen Pop Art. Die Bourse de Commerce in Paris präsentiert das Phänomen Arte Povera noch bis zum 20. Januar in einer großen Übersichtsausstellung.
Kuratorin der sehenswerten Schau ist die US-amerikanisch-italienische Ausstellungsmacherin Carolyn Christov-Bakargiev, die spätestens seit der Veröffentlichung ihres 220 Seiten dicken Standardwerks zur Arte Povera 1999 im Londoner Phaidon Verlag weltweit als eine der wichtigsten Expert:innen für die Strömung gilt. 2012 erlangte sie als Leiterin der von der Kritik und vom Publikum überwiegend positiv aufgenommenen dOCUMENTA (13) in Kassel weitere internationale Bekanntheit.
Bakargiev hat mehr als 250 historische und zeitgenössische Werke und Dokumente für die Ausstellung ausgewählt. Die Schau wartet auf mit den 13 aus ihrer Sicht emblematischsten Vertreter:innen der Arte Povera: Gilberto Zorio, Emilio Prini, Jannis Kounelis, Marisa Merz, Mario Merz, Michelangelo Pistoletto, Alighiero Boetti, Giuseppe Penone, Giovanni Anselmo, Pier Paolo Calzolari, Luciano Fabro, Pino Pascali und Giulio Paolini.
Erstaunlicherweise alles Männer bis auf eine Frau: nämlich Marisa Merz, die Ehefrau der Turiner Arte Povera-Ikone Mario Merz. Parallel dazu werden 13 zeitgenössische Positionen gezeigt, darunter Künstler:innen wie David Hammons, William Kentridge, Agnieszka Kurant oder Theaster Gates. Doch dazu später mehr.
Das Ausstellungskonzept verdankt sich nicht zuletzt auch den architektonischen und institutionellen Rahmenbedingungen des Ausstellungsortes. Daher ein kurzer historischer Abriss. Die heutige Bourse de Commerce wurde im 18. Jahrhundert ursprünglich als Markthalle für Getreide gebaut. Im zweiten Stock des imposanten Rundbaus im Pariser Hallenviertel befanden sich riesige Getreidespeicher. Nach einem Umbau 1888/89 wurde der Bau dann als Warenbörse wiedereröffnet. Diese existierte bis 1998. Von 2016 bis 2021 hat der für seine minimalistischen Sichtbetonbauten bekannte japanische Architekt Tadao Andō die Bourse im Auftrag des Pariser Unternehmers und Kunstsammlers François Pinault zu einem eleganten Museum mit 3.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche umgebaut. Die Stadt Paris hatte Pinault zuvor für 50 Jahre die Nutzungsrechte übertragen. Zustande gekommen ist die Ausstellung nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Pinault selbst ein begeisterter Sammler der Arte Povera ist. Allein in seiner Kollektion befinden sich 150 Arte Povera-Werke.
Christov-Bakargiev macht sich zunächst die Weite der großen Rotunde zu Nutze, um hier im Erdgeschoss eine Übersicht über zentrale Werke der 13 ausgewählten Arte Povera-Künstler:innen zu präsentieren. Ihre Methode ähnelt dabei dem „Establishing Shot“ im klassischen Hollywood-Kino. Die Eröffnungsszene, an die sich die Besucher:innen beim weiteren Rundgang immer wieder erinnern werden, führt mit eindrücklichen Beispielen in den Kosmos der „Armen Kunst“ ein. In einer kreisrunden Anordnung wird jeweils ein Schlüsselwerk präsentiert. Bereits hier wird das außerordentlich breite visuelle Spektrum der Arte Povera ersichtlich. Da lässt etwa Mario Merz – jupitergleich – einen gewaltigen Blitz in Form eines weißen Neonstabes in vier gewöhnliche Strohballen fahren.
Der Transformationskünstler Pier Paolo Calzolari ist mit seiner ersten eisgefrorenen Skulptur vertreten: Ein von Frostkristallen überzogener metallener Kühlstab liegt auf einem Viereck aus Kunstrasen, während ein vor sich hinratterndes Kühlaggregat am Rand die nötige Kälte produziert. Von Marisa Merz wiederum ist nur eine ganz kleine und filigrane Arbeit ausgestellt: „Scarpette“ (1975). Es handelt sich um zwei aus Kupferdraht geflochtene, an Unterwasserorganismen erinnernde Damenschühchen. Ein berühmtes Foto im Ausstellungskatalog zeigt die mit den Schuhen bekleidetet Künstlerin in Rückenansicht vor einem geöffneten Fenster, wie sie auf eine nächtliche Gasse hinausschaut.
Darüberhinaus erhalten alle Teilnehmer:innen der Schau ihren eigenen Raum. In aller Breite zu sehen sind Michelangelo Pistolettos Spiegelbilder, Alighiero Boettis von afghanischen Frauen gestickte Textilbilder, Giuseppe Penones Installationen aus Pflanzen oder Jannis Kounellis’ mit Hülsenfrüchten, Mais und Kaffeebohnen gefüllte Jutesäcke, die wunderbar den Bogen zur ursprünglichen Nutzung des Gebäudes als Getreidespeicher schlagen. Selbstverständlich können auch Mario Merz’ berühmte Iglus und Neonarbeiten mit Zahlenreihen in der Fibonacci-Folge in der Ausstellung in aller Tiefe erforscht und betrachtet werden.
Platz ist aber auch für Entdeckungen. Der weniger bekannte Emilio Prini, ein enigmatischer Künstler, der sich am „Armen Theater“ des polnischen Regisseurs Jerzy Grotowski ebenso orientierte wie am amerikanischen „Living Theatre“, überrascht im Untergeschoss mit Knalleffekten. Mit Maschinen, die sich selbst zerstören, hat Prini die Logik der Wertschöpfungsketten des Industriezeitalters immer wieder auf den Prüfstand gestellt. In seinem Künstlerraum in der Bourse de Commerce wird seine Installation „Perimetro d’aria“ (1967) gezeigt, eine unter sich immer wieder entladender Hochspannung stehende Kombination aus Neon- und Soundarbeit. Jeder in seinem Tempo: Wer normalerweise intensiv schaut, sollte zwei bis drei Stunden für die Ausstellung einkalkulieren.
„Ich betrachte die Arte Povera nicht als eine Bewegung sondern als eine Geisteshaltung“, sagt Carolyn Christov-Bakargiev. Und tatsächlich, im Gegensatz zu anderen Künstlergruppen gab es nie so etwas wie ein Manifest oder eine gemeinsame Absichtserklärung. Carolyn Christov-Bakargiev schaut auf die Arte Povera aus der Perspektive von heute: „In einer Zeit, in der alles nur noch abstrahiert ist und die Technologie, mit der wir die Welt vermittelt bekommen, für die meisten Menschen undurchsichtig bleibt, entsteht die Notwendigkeit, zu den Grundlagen zurückzukehren und zu betonen, warum in den Materialien verkörpertes Leben so wichtig ist. Deshalb ist eine Ausstellung über die Arte Povera heute so bedeutend.“
Entstanden ist die Arte Povera Mitte der 1960er Jahre in den Großstädten Turin, Mailand, Genua und Rom. Italien befand sich damals in einer Zeit starker Umbrüche. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus waren noch nicht ganz überwunden. Gleichzeitig wurde das Land von einer enormen Modernisierungs-welle, dem sogenannten „Miracolo Italiano“, erfasst, die zur Zuwanderung zahlreicher Arbeiter:innen aus dem agrarisch geprägten Süden, insbesondere aus Sizilien, in die industriellen Zentren des Nordens führte. Zum Symbol dieses Wirtschaftswunders und der Transformation Italiens zum Industrieland wurde der Fiat 500.
Geprägt wurde der Begriff Arte Povera von dem einflussreichen Kurator Germano Celant (1940-2020), der 1967 in Genua eine Ausstellung mit sechs der späteren Hauptprotagonist:innen der gerade aufkeimenden Kunstrichtung zusammenstellte. In dieser kleinen Galerieausstellung zum ersten Mal zu sehen war zum Beispiel auch die überhaupt erste Kohleskulptur von Jannis Kounellis. Mit dieser Werkgruppe gelangte der in Italien lebende Grieche später zu großer Berühmtheit. Über allem stand die Frage, angesichts der massiven Industrialisierung Italiens und des Führungsanspruchs der amerikanischen Kunstszene, einen weniger konsumorientierten, weniger affirmativen künstlerischen Zugang zur Erfassung der Welt zu finden.
Dazu Giuseppe Penone, einer der letzten noch lebenden Protagonisten der Gruppe, dem in der Pariser Ausstellung besonders viel Platz eingeräumt wird: „Die Arte Povera hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit, in der Vorstellung von der Einfachheit und Armut der Dinge. In den Nachkriegsjahren erlebten wir in Italien einen tiefgreifenden Wandel in der Lebensrealität und der sozialen Organisation. Es gab die Notwendigkeit, eine Sprache zu finden, die von verschiedenen Kulturen geteilt werden konnte. Diese Idee der Einfachheit und Radikalität belebte die Arte Povera.“
Der Baum ist für Penone das Beispiel einer perfekten Skulptur. Das stellt er sogar schon mit seiner für jedermann sichtbaren, baumhohen Freiluftskulptur „Idee di Pietra“ (2010) draußen vor dem Eingang der Bourse de Commerce eindrucksvoll unter Beweis.
Was sich jedoch in Form einer das Phänomen musealisierenden Ausstellung wie dieser im Nachhinein nur sehr begrenzt vermitteln lässt, ist der Aktionscharakter der Arte Povera. Vielleicht noch mehr als die bis heute erhaltenen Werke, waren es die „Azioni Poveri“, die oft außerhalb der Exklusivität von Galerie- und Ausstellungsräumen stattfanden, welche den Kern der Arte Povera-Ära ausmachten. Hier verschränkten sich performative und theatrale Strategien. Kunst und Lebenswirklichkeit verschmolzen zu einer Einheit. Wer beim legendären viertägigen Event „arte povera più azioni poveri“ 1968 in Amalfi nicht selbst dabei war, hat es eben verpasst. Die Arte Povera-Künstler:innen sind auf Rollschuhen durch Galerieräume geglitten oder mit Megaphonen ausgerüstet durch italienische Städte gezogen. Und sie haben lebende Tiere in den Ausstellungskontext überführt. So präsentierte Jannis Kounellis 1969 in der Galleria L’Attico in Rom für mehrere Tage zwölf Pferde samt ihrer sich nach und nach entfaltenden Duftwolke. Die kalkuliert provokative öffentliche Handlung war für die Künstler:innen mindestens ebenso wichtig wie das Objekt.
Dankenswerterweise dokumentiert die Pariser Ausstellung die aktionistische Seite der Arte Povera zumindest anhand einer Reihe von Fotografien, insbesondere von Claudio Abate, der als „fotografierender Komplize“ der Gruppe galt.
Entsprechend ihrem Ausstellungskonzept will Carolyn Christov-Bakargiev die Arte Povera nicht als abgeschlossenes kunsthistorisches Kapitel präsentieren, sondern als zentrale Periode in der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, die auch jüngere Künstler:innen bis heute inspiriert. Das in der Sektion „After Arte Povera“ anhand neuerer Arbeiten schlüssig zu vermitteln, gelingt ihr jedoch nur teilweise. Allzu sehr an den Rand gedrängt, teilweise nahezu versteckt, fügen sich die Werke in den Ausstellungsparcours ein. Ein schattenspielgleiches Wandgemälde von William Kentridge entdeckt nur, wer gezielt danach im Nebentreppenhaus sucht. Jimmie Durhams Hommage an Luciano Fabro in Form eines minimal gebogenen Balkens aus brasilianischem Hartholz könnte man mangels Beleuchtung fast übersehen. Und von Theaster Gates, immerhin einem der wichtigsten afroamerikanischen Konzeptkünstler, ist leider nur eine kleine Arbeit in einer Vitrine zu sehen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Arte Povera in der Bourse de Commerce
Ort: Bourse de Commerce, Paris
Zeit: bis 20. Januar 2025, So-Mo 11-19 Uhr, Di geschlossen
Katalog: Édition Dilecta, 352 S., französisch/englisch, 49 Euro
Internet: www.pinaultcollection.com
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