Die österreichische Hauptstadt im Herbst: Albrecht Dürer in der Albertina, die Kunstmesse Vienna Contemporary und das Galerienfestival „curated by“ – Wien bietet in diesen Wochen ein vielfältiges Angebot, das auch zahlreiche internationale Kunstinteressierte in die Donaumetropole lockt
Die Wiener Ringstraßenbahn rattert wie immer zuverlässig und in dichtem Takt durch die Innere Stadt. Vorbei an Wahlplakaten und Würstelständen, nächster Halt: Staatsoper. Von hier aus sind es nur wenige Schritte bis zur Albertina, wo in diesen Tagen eine Jahrhundertausstellung zu sehen ist. Meisterwerke von Albrecht Dürer vom legendären Aquarell „Feldhase“ über „Das große Rasenstück“ bis hin zu selten in dieser Fülle gezeigten Ikonen der frühen Druckgrafik sind hier versammelt. Seit 1959 ist es die erste große Albrecht Dürer-Schau weltweit. Viele Besucher reisen von weither an, um die häufig reproduzierten Motive des Nürnberger Meisters einmal im Original betrachten zu können.
Ein internationales Publikum war jedoch in diesen Herbsttagen ohnehin in Wien. Gerade ist die Messe Vienna Contemporary zu Ende gegangen, die zwar nicht als eine Kunstmesse der absoluten Oberliga gilt, jedoch mit ihren Schwerpunktsetzungen in der Wiener Szene und als wichtiges Schaufenster osteuropäischer Galerien bei den angereisten Sammlern durchaus punkten konnte. Wer nach dem Besuch der 110 Galerien aus 26 Ländern noch Energie hatte, fuhr von der Marx Halle im Schlachthofviertel noch weiter an den Stadtrand, um in einem ehemaligen Bürogebäude aus den frühen 90er Jahren die Satellitenmesse „Parallel Vienna“ zu besuchen. Hier drängten sich auf drei vollgestopften Etagen Hunderte von Künstlern, die entweder von Galerien, Projekträumen oder Kunstvereinen gezeigt wurden, in Klassen-Ausstellungen der Wiener Akademien präsent waren oder sich ganz einfach selbst promoteten. Ein buntes Sammelsurium, das dem Besucher viel Zeit und Ausdauer abverlangte, um die Perlen herauszufischen.
Unbedingt dazu zählte der sechsminütige Experimentalfilm „Ore“ (2018) der Wiener Künstlerin Claudia Larcher, gezeigt bei der Galerie Lisi Hämmerle aus Bregenz. Zunächst bleibt unklar, ob es sich um Bilder aus der Mikro- oder Makroperspektive handelt. Die Kamera bewegt sich, untermalt von trägen Hammerschlägen auf Metall, über eine zerklüftete Oberfläche, die sich nach und nach als eine offenbar vom Bergbau versehrte Landschaft entpuppt. Tatsächlich handelt es sich um eine digitale Collage aus unzähligen Bildern und Videosequenzen von alpinen Bergwerken, die Claudia Larcher hier zu einer imaginären Landschaft amalgamiert hat.
Doch zurück zur Hauptmesse Vienna Contemporary, die in diesem Jahr erstmals von der aus Berlin zugezogenen, deutsch-polnischen Kunstmarktkennerin Johanna Chromik geleitet wurde. Während im Hauptsektor neben Wiener Platzhirschen wie den Galerien nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Krinzinger, Christine König oder Georg Karl Fine Arts auch viele interessante Galerien aus Osteuropa ihr Programm präsentierten, stach in der benachbarten Halle der vom Österreichischen Bundeskanzleramt geförderte und von der Wiener Kunsthistorikerin, Autorin und Galeriedirektorin Fiona Liewehr kuratierte Sektor „Zone1“ hervor. Hier wurden Einzelpositionen gezeigt, die einen Bezug zu Österreich haben, also KünstlerInnen, die entweder die österreichische Staatsangehörigkeit besitzen, in Österreich leben oder dort studiert haben. Alle ausgestellten KünstlerInnen sind unter 40 Jahre alt.
Gleich im Eingangsbereich der „Zone1“ fiel die bereits 2009 entstandene, standfüllende Installation „Educational Model: A Construction for Sitting, Reading, Writing, Drawing and Learning“ der tschechischen Künstlerin Eva Kot’átková, Jahrgang 1982, bei der Galerie hunt kastner aus Prag ins Auge. Das modulartige Ensemble aus Tischen und Hockern ganz unterschiedlicher Höhe kann als kritische Auseinandersetzung mit einem elitären Bildungssystem betrachtet werden, das es nur wenigen erlaubt, ganz oben an der Spitze anzukommen. Dazu präsentierte die Galerie kleinformatige, figurative Tuschezeichnungen der Künstlerin aus dem Jahre 2008 zu den Themen Lernen und Schule.
Gleich gegenüber zeigte die Wiener Galerie Sophie Tappeiner mit Sophie Thun einen aktuellen Shooting Star der Wiener Szene. Die 1985 geborene Fotokünstlerin war ausschließlich mit analogen, schwarz-weißen Selbstporträts aus ihrer fortlaufenden Serie „After Hours“ vertreten. Die Akte in Hotelzimmern entstehen mittels Selbstauslöser und zwar immer dann, wenn Thun, die für berühmte männliche Kollegen als Assistentin arbeitet, gerade in einer anderen Stadt zu tun hat. Zu sehen ist immer die nur mit ihrer auffälligen Brille bekleidete Künstlerin, die den Betrachter selbstbewusst anschaut. Indem Sophie Thun jeweils zwei dieser Aufnahmen zusammensetzt, entsteht der Eindruck, als hätte sie mit sich selbst Sex. Die Serie berührt dabei sowohl feministische Fragestellungen im Hinblick auf die Rückeroberung und Kontrolle des Bildes vom eigenen, weiblichen Körper, als auch Fragen der Hierarchien und ökonomischen Abhängigkeiten innerhalb des Kunstbetriebs. Schließlich entstehen die Aufnahmen in der knapp bemessenen Zeit, die der Künstlerin für ihr eigenes Werk bleibt, nachdem sie ihren „Brotjob“ erledigt hat. In der Dunkelkammer produziert Sophie Thun dann hochästhetische Fotogramme, indem sie ihre eigenen Hände dabei belichtet, wie sie die beiden Negative zusammenschieben. Die so entstandenen Unikate stießen sowohl bei internationalen Sammlern als auch bei den Medien auf großes Interesse.
Eine weitere interessante jüngere weibliche Position zeigte die Wiener Galerie Raum mit Licht mit der Malerin Titania Seidl, Jahrgang 1988. Die Wienerin bezieht sich in ihrer farbintensiven Malerei auf ihre selbst geschriebenen, tagebuchartigen Texte, die parallel zu den Gemälden entstehen. In collageartiger Schichtung kombiniert Titania Seidl figurative Elemente wie Kleidungsstücke, Vasen, Kordeln, Dekorationsobjekte oder Sonnenbrillen mit abstrakten Zonen. So entstehen, unter anderem auch durch Übermalungen und weiße Leerstellen, am Ende poetische Bilderzählungen, die wie Selbstbespiegelungen der Künstlerin daherkommen. Nicht zuletzt tauchen bestimmte Elemente auf unterschiedlichen Bildern auf. Titania Seidl erläuterte diese Methode des Wiederaufgreifens bestimmter Bildelemente in einem Interview mit dem ORF so: „Es gibt ganz viele Motive, die sich so von Bild zu Bild spielen und die in einem Bild den Ursprung haben und dann im anderen wiederkommen. Es gibt tatsächlich so eine Art Dialog zwischen den Bildern untereinander, aber natürlich auch zwischen dir als Betrachter und den Bildern.“
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der in Wien lebende deutsche Künstler Thomas Geiger, Jahrgang 1983, der von der Münchner Galerie Sperling gezeigt wurde. Geiger hat während einer Performance-Biennale in der nach Plänen von Le Corbusier entstandenen indischen Planstadt Chandigarh Passanten gebeten, auf einem aus Pflastersteinen improvisierten Sockel Haltungen und Posen von europäischen Politikern, Philosophen und Künstlern nachzustellen. Als Basis dieser nachgestellten Posen dienten mitgebrachte Postkarten von Denkmalen aus Europa. Die jungen Inder nehmen mal spielerisch, mal ernsthaft die Posen von Sigmund Freud, Marx und Engels, Mozart, Marie Curie, Winston Churchill oder Sissi ein. Thomas Geigers Farbfotografien thematisieren das Hin- und Hergerissensein seiner Protagonisten zwischen Fremd- und Selbstdarstellung, europäischer und indischer Kultur auf humorvolle, aber auch hintersinnige Art und Weise.
Den Bildrecht SOLO Award für den besten Stand erhielt die Wiener Künstlerin Marina Sula, Jahrgang 1991. Am Stand der Wiener Galerie Gabriele Senn war das Ambiente eines Wartezimmers, wie es etwa in einer psychotherapeutischen Praxis aussehen könnte, flankiert von konzeptuellen Fotografien und Zeichnungen der Künstlerin, zu sehen. Der Bildrecht SOLO Award ist mit 4.000 Euro dotiert.
Während die Vienna Contemporary am vergangenen Sonntagabend mit einer Besucherzahl von mehr als 30.000 zu Ende gegangen ist, läuft in Wien noch offiziell bis zum 12. Oktober das viel beachtete Galerienfestival „curated by“. Einige der Ausstellungen sind jedoch auch noch länger zu sehen. Daran beteiligen sich in diesem Jahr 22 Galerien. Unter dem diesjährigen Thema „Circulation“ haben die teilnehmenden Galerien jeweils einen oder mehrere internationale Kuratoren eingeladen, in ihren Räumen eine Ausstellung einzurichten. Dazu der Galerist Martin Janda, einer der Initiatoren von „curated by“: „Das Besondere an »curated by« ist, dass dieses Ausstellungsmodell aus einer intensiven Zusammenarbeit der Wiener Galerien entstanden ist und nun bereits seit elf Jahren besteht. Wie ein Netz spannt sich eine Vielzahl von Ausstellungen zu einem jährlich wechselnden Leitthema über die ganze Stadt. Die intensive inhaltliche Fokussierung, die unterschiedlichen Herangehensweisen der Kuratorinnen und Kuratoren und die Fülle von neuen künstlerischen Positionen machen »curated by« zu einer faszinierenden Ausstellungsreihe, die auch ein großes internationales Publikum anzieht.“
Auch viele der Besucher der Vienna Contemporary nutzten Gelegenheit, während der Messe auch einige der Galerien zu besuchen, die am Festival „curated by“ teilnehmen. In der Galerie Martin Janda ist die gemeinsam von der ecuadorianischen Kuratorin Manuela Moscoso und dem israelischen Künstler Ariel Schlesinger kuratierte Schau „Coffee Shop – Wine Bar“ mit Gemälden, Videoarbeiten, Objekten und Skulpturen von sechs KünstlerInnen zu sehen, die sich, wie im Konzept beschrieben: „mit verschiedenen Zuständen von Materie, mit Körperverrenkungen und Verschränkungen von Figur und Boden auseinandersetzt.“ Zirkulation pur also. Mit dabei sind etwa Ariel Schlesinger selbst mit einer Skulptur aus Spiegelfragmenten, die neu zusammengefügt wurden, Kitty Kraus mit einem fragil wirkenden Hybrid aus Antenne und Halogenlampe oder der Argentinier Santiago de Paoli mit Gemälden voller merkwürdig verformter Körperteile.
Mit dabei ist auch die Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder. Die Galeristin hat in diesem Jahr den tschechischen Kurator Adam Budak gebeten, eine Gruppenausstellung mit internationalen Künstlern zusammenzustellen. Das Spannende daran: Budak kombiniert ältere, in Wien bisher wenig bekannte Positionen mit jüngeren, zur Zeit international im Fokus stehenden KünstlerInnen wie etwa Katinka Bock. Eine echte Entdeckung in dieser Schau ist die durch Suizid früh aus dem Leben geschiedene Brüsseler Autodidaktin Sophie Podolski (1953-1974), deren erstaunlich begabte, ebenso eigenwillige wie wundersame Zeichnungen und Radierungen genauso wie ihre in extrem verdichteter Schrift aufs Blatt geschriebenen Tagebuchaufzeichnungen von ihrem erschütternd kurzen Leben mit Drogenerfahrungen und Schizophrenie erzählen.
Ein paar Straßen weiter am Parkring 4 befindet sich gleich im ersten Stock eines großbürgerlichen Wohnhauses die Galerie Croy Nielsen. Hier hat die am KW Institute for Contemporary Art tätige Berliner Kuratorin Anna Gritz eine überaus interessante Gruppenausstellung mit KünstlerInnen, die mit ungewöhnlichen Materialien überwiegend skulptural arbeiten, zusammengestellt. Die auf dem Galerieboden präsentierten, aus gefundenen Alltagsmaterialien komponierten Materialassemblagen der jungen, in Genf lebenden Amerikanerin Ser Serpas, Jahrgang 1995, stechen hier besonders heraus. Flankiert wurden sie von Wandtexten mit Gedichten der Künstlerin.
In der Galerie Raum mit Licht im 7. Bezirk in der Kaiserstraße hat das deutsche Kuratorenkollektiv „Institut für Betrachtung“, dem unter anderen auch der ehemalige Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins, Hans-Jürgen Hafner, angehört, eine Gruppenausstellung zusammengestellt, in der es um politische Ansätze, aber auch um das Kuratieren an sich geht. Als Eyecatcher finden sich im Mittelpunkt der sehenswerten Schau frühe Street Fotografien von Victor Burgin aus der Serie „Kings Road“ (1974-84). Auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind unter anderem Londoner Jugendliche mit Punk-Attitüde zu sehen, deren oppositionelle Haltung heute in Zeiten von Brexit und Boris Johnson wieder eine neue Aktualität erhält.
Das Format „curated by“ bringt nun schon seit elf Jahren frischen Wind in die Wiener Galerienszene. Während der Laufzeit des Galerienfestivals lockt ein vielseitiges Programm mit Kuratorenführungen, KünstlerInnengesprächen, Lesungen und Performances ein großes Publikum in die Galerien. Ganz bestimmt könnte „curated by“ auch ein Vorbild für andere Städte sein, nachdem sich Veranstaltungen wie „Gallery Weekends“, die mittlerweile europaweit nach dem Berliner Vorbild kopiert werden, langsam totgelaufen haben. Vienna Calling – es tut sich was in Wien.
Auf einen Blick:
Kunstmesse Vienna Contemporary, www.viennacontemporary.at
Nächster Termin: 24.-27.9.2020
Galerienfestival curated by: Circulation, www.curatedby.at
bis 12.10.2019, einige Ausstellungen sind jedoch noch länger zu sehen