Wie muss die Aussagekraft des Theaters sein? In einer Gesellschaft, die Information und Meinungsbildung über Kanäle bezieht, die weiß Gott visuell stärker, schneller und roher daherkommen als ein Bühnenstück. Ein Gespräch mit dem Regisseur Luk Perceval und den Dramaturgen Tarun Kade und Jochen Strauch.
Unsere Redaktionssitzungen mit dem Regisseur Luk Perceval, dem Dramaturgen Tarun Kade und dem Kommunikationsstrategen Jochen Strauch fielen in den Hochsommer. Brüllende Hitze, keiner trug Schuhe. Wir erinnern uns an die Nachmittage, weil im Hintergrund die WM lief: Portugal zerlegte Nordkorea 7 zu 1. Spanien und die Niederlande standen im WM-Finale. Selbst Luk Perceval, immerhin Belgier, hielt es mit den Holländern, weil auch ihm das spanische Kurzpassspiel zu abgezockt erschein. Noch am Nachmittag fuhr er – es war der Beginn der Spielzeitferien – auf sein Boot, die „Ilonda“, die an einem Ostseehafen vertäut lag. Man saß auf gepackten Koffern, war irgendwie auf dem Sprung und musste noch substantielle Einschätzungen zum Regietheater abgeben. Jochen Strauch: Capri. Tarun Kade: New York. Der Autor nahm die Gesprächsnotizen mit nach Lissabon.
Seither ist viel geschehen, was ein Update oder eine Kommentarfunktion des Artikels nahelegen würde. Für die Printversion im Magazin vom Oktober 2010 also ein dezenter Disclaimer. Als wir aus den heißen, südlichen Ländern nach Hamburg zurückkamen, war Christoph Schlingensief gestorben, die Spex hatte in ihrer September-Ausgabe ein letztes Interview mit ihm gedruckt, und eines mit René Pollesch, das Selbstverständnis der Hamburger Staatstheater war durch den Kahlschlag der Kulturpolitik erschüttert. Am Deutschen Schauspielhaus wird sozialer Ungehorsam und Agitprop geübt wie sonst nur im besetzten Gängeviertel. Die Medien haben die bildungs- und kulturpolitische Legitimation des subventionierten Kulturbetriebes aufgegriffen.
Kaum etwas davon fand ausreichend Einzug in diese Gesprächsdokumentation. Man kann das so sehen: Die redaktionelle Form entspricht in der DARE Ausgabe „Multitasking Overflow“ dem gewählten Schwerpunktthema: Ein statischer Essay ist nicht so tragfähig wie man gemeinhin annimmt. Hier also: ein bewusst gewähltes, rohes Wiki-Verfahren, das die Suchbewegungen unserer Redaktionssitzungen nachvollzieht.
Das Theater – und das ist eine sehr ursprüngliche Auffassung und beinahe eine Binsenweisheit – ist immer noch vor allem ein Ort der Ruhe, des Schauens und der Konzentration. Das unterscheidet es fundamental von allen digitalen Medien und Erzählformen. Die klassische, psycho-realistische Erzählweise wurde aber immer mehr abgelöst durch eine Form der Inszenierung, die Produktionsprozesse auf der Bühne offenlegt. Schauspieler funktionieren als Trägerfiguren und Vermittler von Haltungen.
Sich überlagernde mediale Schichten geben dem Erzählfluss einen nichtchronologischen, verdichteten Charakter. Dennoch: das grundsätzliche Setting bleibt ein gemeinsames Sitzen in einem überwiegend abgedunkelten Raum, anderthalb, vielleicht zweieinhalb Stunden lang, ein irgendwie transitorischer Zustand, ein Spannungsverhältnis mit einer irgendwie gearteten Live-Kommunikation zwischen einer Zuschauermenge – beobachtend, ruhig, auf Input gestimmt – und einem Schauspieler, vorn auf der hellen Bühne, ein Akteur mit stark manipulativer Wirkung.
Mit einer Rollenverteilung aus dem Stierkampf beschrieb Christoph Schlingensief das grundsätzlich empathievolle aber gleichzeitig voyeuristische Verhältnis des Zuschauers zum Bühnengeschehen.
Videos: Christoph Schlingensiefs „United Trash“, „Eine Kirche der Angst“
Gemeinsames Lachen oder gemeinsames Weinen über den Tod – dem Regisseur Luk Perceval geht es um genau diese Einfühlung. Denn obwohl jeder Theatergänger sich des Zeichensystems und der Konvention bewusst ist: Bei aller Künstlichkeit einer Bühnenaufführung kommt es gerade hier zu wirklicher Nähe, zu wirklichem Mitfühlen. In einem hochartifizellen Raum, der jedem bewusst macht, dass hier nicht in die Wirklichkeit hineingeschaut wird, stattdessen aber ein verfremdeter Einblick in Wirklichkeit gegeben wird.
Nähe und Mitfühlen werden nicht einmal über dramatische schauspielerische Effekte erzielt, sondern über ein Verfahren, das Perceval schlicht „Weglassen“ nennt: Die bewusst in die Regie eingefügten Leerstellen schaffen Projektionsbereiche für die Interpretation des Zuschauers. Auf Behauptung wird verzichtet. Ein Bild, das nicht voll ausgemalt ist, ein Satz, der wie eine Frage im Raum steht und nach Halt sucht, die Handlung scheint ins Stocken zu geraten, nur einen kurzen, kaum merklichen Augenblick lang, ein Innehalten – in dem der Zuschauer auf sich selbst zurückgeworfen ist.
Dass diese Erzählform des Weglassens eine sehr intuitive ist, die einen „trainierten“ Zuschauer fordert, ist Luk Perceval, Tarun Kade und Jochen Strauch bewusst. An dieser Stelle findet sich am ehesten eine Verbindung des Regietheaters zu den Erzählformen in anderen Kunstgenres – und zum Informationsfluss der digitalen Medien. Um zu navigieren, brauche ich trainierte Sinnesorgane. Das kann Medienkompetenz genannt werden oder intuitives Erzählen oder Dechiffrierung. In jedem Fall haben wir es mit einer gewissen Uneindeutigkeit zu tun, der erst durch die entschlussfreudige Interpretation des Zuschauers oder Lesers eine Bedeutung zugeschrieben wird. Ein Verfahren, das Anwendung findet beim Nachspüren einer Debatte in der Bloggosphäre, bei einem David Lynch Film oder einer Bühnenarbeit von René Pollesch oder Jan Fabre.
Unsere fragmentierte Welt scheint wieder eine Sehnsucht zu verspüren nach der großen Saga. Luk Perceval
Überhaupt das filmische Erzählen: Neben seiner Arbeit am Theater hat Luk Perceval einen Lehrstuhl für Regie und Schauspiel an der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg inne. Wenn er mit ihnen über Erzählformen spricht, beklagen seine Kollegen vom Film die zunehmende consumer-orientated Produktion in den großen Studios – vom Kino gingen allenfalls noch kameratechnische Impulse aus, das lineare, neunzigminütige Erzählen aber sei längst ermüdet. Offenbar bietet das erstarrte Format nicht genügend Raum oder besser gesagt Zeit, um der Komplexität von Geschehen und Figuren gerecht zu werden. Mutige Produktionsfirmen und Sendeanstalten lassen sich daher auf lang angelegte Formate wie „The Wire“, „Californication“ oder Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ ein. TV-Serien, die auf abgeschlossene Episoden verzichten und die Entwicklung der Charaktäre und Handlungsstränge über Stunden – und also über Sendewochen – hinweg vorantreiben. Einem Format wie „Sopranos“ wird von Medienwissenschaftlern unumwunden attestiert, an die großen Familienromane des neunzehnten Jahrhunderts anzuknüpfen.
Abbildung: „Im Angesicht des Verbrechens“
Nun muss man einwenden: ein Quotenerfolg sind die Serien nicht, zumal nicht in Deutschland, wo die „Sopranos“ vor neun Jahren im Spätabendprogramm marginalisiert und nach drei Staffeln eingestellt wurden. David Lynch Drehbücher haben ähnlich wie die Serien eine zwar stark infizierte, aber recht überschaubare Fangemeinde. Dasselbe ließe sich sagen über die hier angeführten Theaterregisseure. Stilprägend zu arbeiten bedeutet eben nicht, breitenwirksam zu operieren. Am Ende eine Frage der ästhetischen Erziehung und der Kognition?
Ja, sagen Jochen Strauch, Tarun Kade und Luk Perceval, dass die Akzeptanz von Regietheater schlicht auch eine Altersfrage ist, wird an einem von Abonnement-Publikum geprägten Haus wie dem Thalia Theater an manchem Abend deutlich: Ältere Theaterbesucher zeigen sich von modernen, ambitionierten Inszenierungen regelrecht überfordert – weil sie eine eher explikative, weniger intuitive Dramaturgie gewohnt sind. Ein Clash, der auch am Centraltheater in Leipzig zu beobachten ist, seit dort Sebastian Hartmann das gemäßigt bürgerliche Publikum mit jeder neuen Inszenierung auf harte Proben stellt. Für Digital Natives, geschult an Multitasking und Switchen zwischen den Medien, ist das geschichtete, überlagerte Erzählen eine Selbstverständlichkeit, die sie auch im hochartifiziellen Raum des Theaters vorzufinden erhoffen. Wo dies vermieden oder gar verweigert wird, droht das Label „arriviert & anachronistisch“ und verliert das Theater sein Publikum und seine kulturprägende Kraft.
Video: 3sat „Foyer“ Sendung zum Leipziger Centraltheater
Parallel zu unseren Gesprächen am Hamburger Thalia Theater brach an der Berliner Schaubühne eine Debatte um die Bedeutung und Qualität des heutigen Theaters los. Der Dramatiker Botho Strauß schrieb in einer Laudatio auf die Schauspielerin Jutta Lampe, das Theater habe sich zum “Reservat für unantastbare Dummheit und Bildungsferne” ausgerufen und gebe, “anders als Film, bildende Kunst und Epik, keinerlei Impulse an die Zeit mehr ab”. Es verleugne sich „zugunsten der Reportage, der Installation, der billigen Kunstmarktkopie, des Entertainments, des Medienverschnitts. Es gibt keine Kunstform, die auf so fremdbestimmte Weise der Affe der Zeit wäre”. Just auf diese Anklagepunkte – Reportage, Installation und Medienverschnitt – hin klopften wir in den Redaktionssitzungen die angesprochenen Theaterproduktionen ab: Denn der Einsatz dieser Techniken schien uns Nachgeborenen selbstverständlich.
Das wird auch Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der von Botho Strauß angefahrenen Berliner Schaubühne so gesehen haben. In einer Replik legitimiert er die Ausdifferenziertheit der „ästhetischen und gesellschaftlichen Positionen in unserer Theaterlandschaft“. „Das was Botho Strauß als Moden bezeichnet, sind lediglich unterschiedliche Suchbewegungen, um in dieser unsicher gewordenen Welt Positionen zu finden.” Das Spektrum reiche dabei von “Pollesch, Mayenburg, Richter und Schimmelpfennig, von Lösch und Rimini Protokoll bis zu Thalheimer, Stemann, Schlingensief und Petras. Wir leben in einer Zeit, in der meines Erachtens an so vielen Theatern in unterschiedlichster Art und Weise künstlerisch gearbeitet und experimentiert wird, sodass man sich fragt, wie diese Theaterlandschaft trotz des gebetsmühlenartig wiederkehrenden Krisengeredes so üppig sein kann.”
Die Wirklichkeit scheint trotz vielfältiger zusätzlicher Vermittlungsmedien unüberschaubar geworden. Zersplittert. Partikular. Vielleicht gelingt es dem Theater genau deshalb immer seltener, eine treffende Kondensation aktueller Themen auf die Bühne zu bringen? Jochen Strauch
Luk Perceval fasste zeitgleich in Hamburg die letzten drei Dekaden lakonischer zusammen: Früher hätten Peter Zadek oder Peter Stein es einfach gehabt, sich mit einem linksintellektuellen Publikum gegen gesellschaftspolitische Missstände zu verbünden. Dreißig Jahre und eine Zeitenwende später konfrontieren Regisseure das Publikum mit – sich selbst: Jeder der Zuschauer ist Teil der Schieflage – und Schuld daran. Die entscheidende Frage sei also: Wie macht es ein Theaterschaffender, dass er die Zuschauer nach seiner Inszenierung nicht aus dem Haus schickt mit der Einsicht: Ihr seid blöd, egomanisch, degeneriert, depressiv? Das Theater, besser ausgestattet als alle anderen Medien, hat für diesen Fall das kathartische Element: Das Eingeständnis, manchmal mindestens so ängstlich, aufgewühlt und verunsichert zu sein wie die Bühnenfigur, führt im Zuschauerraum zu einer Offenheit, die im besten Fall als kollektives Gefühl empfunden wird.
Video: „Molière“ von Luk Perceval, Feridun Zaimoglu, Günter Senke. Schaubühne Berlin
In der Wissenschaft wurde über Jahrzehnte manchmal eine Brille gefunden, mit der sich die Realität vermeintlich scharf fokussieren lässt. Das täuscht. Wir haben immer nur eine degenerierte Form von Wahrnehmung gehabt. Positivismus und Empirismus waren ein überbordender Wissenschaftsirrglaube des Neunzehnten Jahrhunderts. Heute ist ein Großteil aller uns zur Verfügung stehender Informationen nurmehr medial transportiert. Meine Informiertheit ist eine gefilterte Matrix. Ich erlebe und erfahre de facto weniger als die Menschen in vormodernen Zeiten – weil mir nur suggeriert wird, dass ich etwas erlebe. Meine Intuition ist dadurch wichtiger denn je. Den medial gefilterten und vorgeprägten Fakten kann ich ohne eine intuitive Deutung und Einschätzung nicht trauen.
Bildung heißt heute: Medienkompetenz. Die Verwaltung von Wissen wird wichtiger als das Faktenwissen. Tarun Kade
Medienkompetenz schaffen bedeutet Werkzeuge bereitzustellen, die man als Maßstab anlegen kann an die täglichen partikularen Informationsschnipsel. Welcher Art sind diese Werkzeuge? Wie lerne ich, sie selbstverständlich und intuitiv zu bedienen, sie sicher handzuhaben? Was ist die relevante Fragestellung, zu der ich online recherchiere? Wie bringt man jungen Menschen dieses kulturelle Rüstzeug bei? Welcher Art ist kulturelle Bildung, die mich brieft auf meinem Weg zu einer Theaterpremiere? Oper und Theater funktionieren heute in vielen Zusammenhängen entweder als Kristallisationspunkt oder als Panic Room der beschleunigten Kommunikationsgesellschaft – als ein kultureller Rückzugsort für die Absicherung in einer verwirrenden Welt.
Das Theater ist stets eine sich selbst zerstörende Kunst und immer in den Wind geschrieben.Peter Brook
Unsere Redaktionssitzungen verliefen ähnlich wie diese Reportage: mäandrierend, angerissen, voller Überlagerungen und Sprünge. Man müsse so etwas von Zeit zu Zeit auf einer offenen Bühne besprechen, nicht nur unter sich, um einen Arbeitstisch gruppiert, sagte Luk Perceval zum Abschied, als er seine weiße Vespa startete. Ja, sagten wir, das wäre ein Weg, die Sache weiterzuverfolgen. Ein anderer entspräche dem Schwerpunktthema dieses Magazins: Wir haben die Gesprächspassagen bewusst fragmentarisch gesetzt. Als Wiki-Einträge, als Status-Meldungen, als Tweets, die mit offener Kommentarfunktion versehen auf Input warten. Ein Beitrag zur Schwarmintelligenz. Kristallisationspunkt und Rüstzeug für Medienkompetenz – oder Rückzugsort vor dem medialen Overkill? Irgendwo dazwischen sieht sich das Stadttheater, und wie diese Standortbestimmung feinjustiert wird, ist hochspannend weiterzuverfolgen.
Die Gesprächspartner
Tarun Kade *1984. Studium Theaterwissenschaft, Anglistik und Philosophie in Bristol und München. In der Spielzeit 2009/2010 Dramaturgieassistent, 2010/2011 Dramaturg am Hamburger Thalia Theater.
Jochen Strauch *1971. Studium Schauspielregie. 1996 bis 2000 Regieassistent Schauspiel Köln, Münchner Kammerspiele. Ab 2000 Dramaturg und Regisseur am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. 2002 bis 2009 freiberuflicher Regisseur. Parallel ab 2006 Stipendium für das Programm Executive Master in Arts Administration der Universität Zürich. Seit der Spielzeit 2009/2010 entwickelt Jochen Strauch eine neue Abteilung „Marketing & Kommunikation“ am Thalia Theater.
Luk Perceval begann seine Theaterlaufbahn 1979 als Schauspieler am Nationaltheater von Antwerpen. Seine Shakespeare-Produktion „Schlachten!“ wurde 1999 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, im Jahr darauf zum Berliner Theatertreffen eingeladen und zur Aufführung des Jahres gewählt. Opernregie an der Staatsoper Stuttgart, an der Staatsoper Hannover und an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. 2005 bis 2008 Hausregisseur an der Berliner Schaubühne. Seit der Spielzeit 2009/2010 Leitender Regisseur am Thalia Theater.