Oder um noch mehr Verwirrung zu stiften: Aby Warburg hat vor gut einem Jahrhundert Dionysos gefunden. Mit der griechischen Gottheit verbindet man nicht nur Wein, Wahnsinn, Wollust – also einen undefinierten rauschhaften Sinnestaumel – sondern als „dionysisch“ wird nicht zuletzt seit Nietzsche eine die Affekte und Leidenschaften ansprechende künstlerische Ausdrucksweise verstanden.
Eine pathetische Ausdruckssteigerung also, die für Warburg den Kern antiker Kunst bildete und deren formalen Eigenschaften in der Renaissancekunst wieder aufgenommen wurden. Auf einem Hamburger Vortrag im Jahr 1905 entwickelte der Kunsthistoriker hierzu den Begriff der „Pathosformel“, der seitdem innerhalb der Kulturwissenschaften als Terminus technicus rege Verwendung findet.
Albrecht Dürer: Der Tod des Orpheus (1494), © Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett / bpk, Photo: Christoph Irrgang
1872 popularisierte Friedrich Nietzsche in seiner ästhetische Betrachtung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik das Begriffspaar ‚apollinisch-dionysisch‘. An die Kunstgottheiten Appollon und Dionysos wird hier die Erkenntnis geknüpft, dass in der griechischen Welt ein starker Gegensatz zwischen der auf Klarheit und Ordnung bezogenen appollinischen, und der rauschhaft unkontrollierten Kraft des Dionysos bestünde.
Eine bipolare Komponente, die in der Antike-Rezeption des 19. Jahrhunderts lange Zeit nicht berücksichtigt wurde. So wurde beispielsweise die späthellenistische Skulpturengruppe des Laokoon zu Rom als „edle Einfalt und stille Größe“ beschrieben und diese formale Eigenschaft als allgemeines Kennzeichen der antiken Kunst proklamiert. Eine Betrachtungsweise, die im Hinblick auf die dargestellte Thematik, nämlich den verzweifelten Todeskampf des trojanischen Priesters und seiner Söhne, etwas leidenschaftslos erscheint.
Und eben auch unvollständig, wie Aby Warburg während seines Vortrages betonte. So sei es durchaus richtig, dass die Bildwerke der Antike ihrer äußeren Erscheinung nach eine „edle Einfalt und stille Größe“ aufweisen, aber man solle nicht vergessen, dass unterhalb ihrer materiellen Beschaffenheit die dionysischen Kräfte als unkontrollierte, schwelende Energie enthalten seien.
Dies lässt sich schon allein wegen der eindringlichen Dramatik der Bildthemen nicht leugnen: Denken wir beispielsweise an die berauschten „Backchen“ des Euripides, die verführte Ariadne auf Naxos oder den tragischen Tod des Orpheus, König der Thraker. Letzterer betörte gleichsam Götter und Menschen mit seinen Sangeskünsten. Nachdem er aus Trauer über den Tod seiner Ehefrau Eurydike jeglicher Liebe zu Frauen abgeschworen hatte und seine Musik ausschließlich in den Dienst seines Vaters Appollon stellte, schickte Dionysos zur Strafe aus seinem Gefolge Mänaden zu Orpheus, die ihn im Sinnestaumel der Ekstase erschlugen.
Diese vor Pathos nur so triefenden Bildthemen der griechischen Mythologie sind nach Warburg jedoch keinesfalls auf die antike Kunstdarstellung beschränkt, sondern finden sich auch im Repertoire späterer Kunstepochen. Am Beispiel einer Auswahl bekannter Stiche und Zeichnungen, allesamt aus der Sammlung der Hamburger Kunsthalle – darunter Albrecht Dürer und Andrea Mantegna -, führte er 1905 den Beweis, dass diese Künstler der Frührenaissance in den Bildwerken der Antike insbesondere ein von Passion gekennzeichnetes dionysisches Menschenbild gesehen hatten, welches sie auf ihre Kunst übertrugen. Mantegna veröffentlichte beispielsweise in seinen Kupferstichen eine Vielzahl an Bacchanalien, der Bacchusfeste im antiken Rom, eine Bildthematik, die auch Dürer in seinen Arbeiten aufgegriffen hat.
Die einst von Warburg dargelegte Auswahl an Bildwerken wird nun erstmals als Rekonstruktion vom 27. März bis 26. Juni im Saal der Meisterzeichnungen der Hamburger Kunsthalle zu sehen sein. Auch heute wird Dürers bekannte Zeichnung „Der Tod des Orpheus“ (1494), die schon über 100 Jahre zuvor von Warburg zum Hauptstück seiner Beweisführung gemacht hatte, im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Diese und die übrigen ehemaligen Exponate Warburgs werden zusätzlich durch Druckgraphiken des 15. und 16. Jahrhunderts ergänzt, sowie erweitert durch eine Einbindung in die Zeit Warburgs mit Quellenmaterial und Werken von Max Klinger und Arnold Böcklin. Insgesamt werden bei dieser umfassenden Schau 40 bis 50 Zeichnungen und Druckgraphiken gezeigt.
Marco Dente da Ravenna: Laokoon (1500-1527), © Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett / bpk, Photo: Christoph Irrgang