Dass man als Autor oder Künstler eher mit Neid auf die Aussagekraft der erstaunlichsten und oft nicht glaubhaften Ereignisse des Alltags blicken muss und fiktive Repräsentationen derselben häufig blasser ausfallen, ist mittlerweile zum Topos gewordene (künstlerische) Erfahrung. Doch wie das Reale ins Bild rücken, wenn auch das Dokumentarische vor dem Hintergrund einer immer komplexeren Informationsgesellschaft und Medienkultur Authentizität und Faktizität nicht gewährleisten kann?
Niemand glaubt mehr an einen neutralen Wahrheitsanspruch des Dokumentarischen. Dennoch hat dieses Mißtrauen nur wenig Einfluß auf die Formen des Dokumentarismus unserer Medienkultur. Und dennoch bleibt die Arbeit am Dokument so wichtig wie nie. Wir bewegen uns in einer Welt, die wir zunehmend als nicht-erlebte kennen, die wir aber als reale wiedererkennen, da sie sich in ihrer medialen Inszenierung manifestiert hat. In unserem Wunsch nach einer Teilhabe an der Welt okkupieren uns die Bilder von ihr und nehmen ihren Platz ein. Es ist nicht mehr das zu Repräsentierende, sondern das Repräsentierte, das Fakten schafft und die Diskurse anführt. Wie das Reale ins Bild rücken, wenn es sich in seiner medialen Repräsentation zunehmend maskiert?
Aernout Mik widmet sich seit Ende der 90er Jahre mit raumgreifenden, oft begehbaren Videoinstallationen den politischen und psychosozialen Verfaßtheiten unserer gegenwärtigen Gesellschaften mit all ihren Brüchen, Veränderungen, Ängsten und Widersprüchen. In den letzen Jahren hat Mik fast enzyklopädisch über aktuelle Themen wie Globalisierung, Diktatur, Krieg, Migration, Ausbeutung, Konsumkultur, ökonomische und ökologische Katastrophen gearbeitet.
Dabei hat er wie kaum ein anderer Künstler spezifische, jeweils werkeigene, dokumentarische und fiktionale Stilmittel und Strategien entwickelt. Vorrangige Operationsfelder der messerscharfen Analysen und Auswertungen sind dabei die medialen Repräsentationen der Ereignisse, die Bilder, die unsere Verfaßtheit bestimmen. Mik zeigt nicht (etwa im aufklärerischen Duktus), was wir eigentlich sehen sollten. Er zeigt, was wir sehen, wie oft, wie wir es sehen und vor allem, was davon übrig bleibt.
Miks Videoarbeiten entstehen in spezifischen Filmsets und mit gecasteten Statisten bzw. Laiendarstellern. Erst in den letzten Jahren begann der Künstler auch an Originalschauplätzen, so im Kulturpalast in Warschau oder im E.U.R. in Rom zu drehen. Zu den markanten Arbeiten in seiner Werkbiographie gehört die zweikanalige Videoarbeit „Raw Footage“ (2006), in der erstmals Found-Footage-Material, hier von Nachrichtenagenturen über den Jugoslawien-Krieg, verwendet wurde.
Mittlerweile sind weitere Werke wie „Convergencies“ (2007) und „Shifting Sitting for Spinoza“ (2009) entstanden, in denen Mik mit existierendem Filmmaterial arbeitet. „Raw Footage“ ist eine beklemmende Montage von nicht gesendetem bzw. gekürztem Material von Agenturen, die der Medienlogik der Kriegsberichterstattung im Sinne der Konzentration auf das Katastrophische, Ereignishafte und Spektakuläre nicht folgt. Vielmehr korrigierte er die Gewichtung von Ereignis und Nicht-Ereignis, von Aktivität und Inaktivität, von Exzess und Routine. Auf der anderen Seite gerieten Opfer- und Täterzuschreibungen in eine ebenso gleitende Ununterscheidbarkeit, in der die Realität von Bürgerkriegen ihren höchst verwirrenden Ausdruck fand.
Mit „Raw Footage“ offenbarte Mik auch die eigene Heransgehensweise für die parallel entstandene Arbeit „Scapegoats“ (2006), ließ sich quasi „tiefer in die Karten schauen“. Er verlagerte Situationen aus dem Material in eine heimische Sporthalle und führte die denkbare lokale, unspektakuläre, „normale“ Variante vor, wobei sehr schnell deutlich wurde, dass die „Simulation einer Kriegssituation“ von den Projektionen, Vorstellungen, Verhaltensdispositionen und vor allem internalisierten Bildern der handelnden und interpretierenden Akteure maßgeblich bestimmt wurde. Beide Arbeiten verdeutlichten umso mehr wie unmöglich es ist, mit ausreichend Fakten konfrontiert zu sein, genügend Informationen aufzutreiben, um tatsächlich auch ein fundiertes Verständnis der Orte und Geschehnisse zu erlangen. Diese Gegenläufigkeit von Spiel und Ernst, Fiktion und realem Geschehen, Normalität und Ausnahmezustand, Ereignis und Nicht-Ereignis, Täter- und Opfer allegorisiert die Spannungen, Spaltungen und Risse, welche die heutigen Gesellschaften kennzeichnen; eine subtile Kriegsführung, die sich unterhalb von Ordnung und Frieden abspielt und in der wir alle involviert sind.
Während Mik mit „Scapegoats“ das weit entfernte – der Krieg, der nicht bei uns stattfindet – in die Nähe rückte, führt er in zwei jüngeren Arbeiten das politische Spektakel an Originalschauplätze zurück, die dabei selber zu Akteuren werden und ebenso ins Bild gesetzt werden wie die Darsteller. Spiel, Ritual und Theatralisches erhalten dabei eine stärkere Betonung.
„Die Protagonisten und Komparsen der politischen Szene müssen ihre Maske fallen lassen. Vielleicht wird es kein angenehmes Schauspiel, doch heutzutage muss man sich mit wenig zufrieden geben“, hieß es Anfang Oktober 2011 in der Turiner Tageszeitung „La Stampa“. Berlusconi hatte nach einer verlorenen Abstimmung im italienischen Parlament erneut die Vertrauensfrage, zum 51. Mal seit seinem Amtsantritt 2008, gestellt und überstand sie nur denkbar knapp. Das Maskenkonterfei des ehemaligen Staatspräsidenten, dem per se Doppelgesichtigkeit und Maskenspiel nachgesagt wurde, gehörte bereits lange zu den Top-Sellern und fand ihren Einsatz nicht nur bei Protestaktionen, sondern auch in Parlamentssitzungen. Die Maske ist nur eines der zahlreichen Motive, Zitate, Anspielungen, Gesten und Rituale, die Aernout Mik in seiner dreiteiligen Videoinstallation „Shifting Sitting“ zusammenführt.
Zum ersten Mal in seinem Werk bezieht sich der niederländische Künstler so dezidiert auf eine zuordbare realpolitische Person. Dennoch ist auch diese Arbeit alles andere als ein dokumentarisches Portrait oder eine Reinszenierung von Tatbeständen und sie gerät keineswegs in den Fallstrick des Tagespolitischen. Bereits im Januar 2011 waren die Dreharbeiten abgeschlossen; basierend auf einer jahrelangen Analyse von Zeitungs- und Fernsehbildern, die bis in die 90er Jahre zurückführen. Die Videoinstallation ist weder Reportage noch Dokumentation, sondern eine sich immer wieder neu modellierende Verkettung von Motiven, die nach der sich verlagernden Unschärfe der Grenzen zwischen Justiz und Politik, gesetzgebender und ausführender Gewalt fragt.
Es ist die physiologische Vertrautheit des Gesichtes, die uns den Protagonisten in der bisweilen bizarr sich verwandelnden Szenerie so selbstverständlich erscheinen läßt. Dabei gehört das Gesicht dem Doppelgänger Maurizio Antonioni, der aufgrund seiner frappierenden Ähnlichkeit als Schauspieler in der Politsatire „Bye Bye Berlusconi“ von Jan Henrik Stahlberg aus dem Jahr 2006 internationalen Durchbruch erlangte und zusammen mit den über 100 Statisten ein Gerichtsspektakel inszenierte. „Berlusconi im Gerichtssaal“ ist ein zur Ikone gewordenenes Bild, dessen Selbstverständlichkeit kaum mehr in Frage gestellt wurde, da es zur medialen Alltagserfahrung wurde. Anders als das klassische Historienbild, das ein spezifisches Ereignis thematisiert, inszeniert Mik hier den zum Normalfall gewordenen Rechtsbruch: ein Exempel eines Politikers, der ein System der Gewaltentrennung vertreten soll und die Institution mit Füßen tritt, die er zu schützen hat.
Doch mit einer singulären De-Maskierung ist es nicht getan. Die Masken wandern ununterbrochen weiter und machen die Runde. Wie funktionieren Zuschreibungsmodelle generell? Auf drei großformatigen in den Raum eingebetteten Projektionswänden, die die Personen nahezu in Lebensgröße zeigen, führt Mik sich ständig verändernde Situationen, Verwandlungen, Rollenwechsel und „Temperaturstimmungen“ vor. Der Titel „Shifting Sitting“ deutet an, was als Leitthema des Filmes gesehen werden kann: ein ständiges Entgleiten von Tatbeständen und Festschreibungen, ein ständiger „Shift“, ein „Ver-rücken“ von Handlungen, bisweilen kaum mehr wahrnehmbar. Auch wenn wir die Situationen zu kennen glauben, ist nichts mehr, wie wir es gewohnt sind. Plötzlich ist Berlusconi im wahrsten Sinne des Wortes „hinter Gittern“, zugleich ein Schutzraum, der sich ebenso in ein Podium verwandeln kann.
Fast körperlich erfahrbar – auch durch die Größe der Bilder – wird die metaphorische Bedeutung von „Sitzen und Stehen“ in unterschiedlichen Rollen. Spontanes Aufstehen und Bewegen zeigt sich als agierend mobiler Zustand, während dem Sitzen als statischem Zustand die Konnotation eines zu bewahrenden „Status Quo“ beikommt. Die Ritualität einzelner Situationen, Gesten und Momente wird da besonders deutlich, wo die Rollen vertauscht werden; ein choreographisches Stilmittel bei Aernout Mik, das er in zahlreichen Arbeiten eingesetzt hat. Eine unmerkliche Verschiebung bzw. Verzerrung erreicht der Künstler auch, indem er für die drei Videobilder drei verschiedene Formate nutzt: das Panoramaformat, das 16 : 9 Format und ein 2.8 : 1 Format. Fast unbewusst erfahren wir damit in unserer körperlichen Wahrnehmung sowohl Ausweitung als auch Komprimierung des Bildes.
Man kann wie bei allen Werken Miks keine Handlungsabläufe wiedergeben, lediglich ihre motivischen und rituellen Muster rekonstruieren und Situationen nachzeichnen. Es wird viel gelacht, posiert, aber auch gebrüllt und protestiert. Die Videoarbeit ist lautlos. Es gibt bei Mik keine Sprache, keine Texte, keinen Ton. Übrig bleibt ein nicht enden wollendes Theater, das wir selbst intuitiv synchronisieren.
In einer Zeit, in der Daten-, Informations- und Finanzströme in ständiger Bewegung gelesen und ausgewertet werden, erscheinen Miks endlose Bewegungschoreographien besonders sinnfällig. Nur können sie eben nicht statistisch oder systemisch ausgewertet werden. Mik katapultiert die Figuren aus den Filmen förmlich heraus und läßt sie mit den Betrachtern verschmelzen und lädt den Betrachter ein, Teil des Geschehens der Projektion zu werden. Hier geht es um schwierige Entscheidungsfindungen. In den Filmen gibt es gefrorene und dynamische Momente, in denen nicht angegeben ist, wie es weitergehen wird, in welche Richtung es geht, welches Potential sich entwickeln kann. Als Betrachter werden wir unmittelbar eingezogen in die Handlungsenergien bzw. das Handlungsvakuum, das sich einem organischen Rhythmus gleich die Waage hält. Mik findet sich nicht mit den herkömmlichen Wirkungsweisen von Medien ab und strickt die Erfahrung der Realität im Kleid der Fiktion weiter. Dies läßt eine ausschließlich beobachtende und distanzierte Position kaum mehr beizubehalten.
Berlusconi eignet sich auch in anderer Hinsicht als Fallstudie und Repräsentant praktizierter politischer Kultur. Er hat ein Land wie ein privates Unternehmen geführt und das politische Geschäft in ein großes Medienspektakel verwandelt. Die Arbeit „Communitas“ (2010 vor den großen Protesten des arabischen Frühlings entstanden) analysiert in Gegenüberstellung ein ebenso aktuelles Gegenmodell. Auch hier überwiegen in weiten Teilen das Theatralische, das Spiel und die Übung. Gezeigt wird, wie Menschengruppen sich in Demokratien organisieren, von strengen, formalen Strukturen bis hin zu spontanen Aktionen, vor allem aber das Nicht-Spektakuläre von politischen Prozessen und Verhandlungen und die damit verbundene Mühsal, die die Akteure bis in die komatöse Erschöpfung treibt.
Der Titel verweist an den von Victor Turner geprägten Begriff „Communitas“ (Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, 1969), der damit verschiedene Zustandsformen von Gemeinschaften unterschied: die existentielle oder „spontane Communitas“, die „normative Communitas“ (ein soziales, dauerhaftes System, das sich im Lauf der Zeit herausbildet, aufgrund der Nowendigkeit, Ressourcen zu mobilisieren und zu organisieren, und dann die Gruppenmitglieder zur Erreichung der Ziele auch zu kontrollieren) und zuletzt die „ideologische Communitas“ (ein Etikett, das man für eine Vielzahl utopischer Gesellschaftsmodelle verwenden kann, die von der existentiellen Communitas ausgehen. Es ist das Schicksal einer jeden in der Geschichte auftretenden, spontanen Communitas, sich in einem von den meisten Menschen als „Niedergang und Verfall“ aufgefaßten Prozeß in Struktur und Gesetz verwandeln zu müssen.
„Communitas“ fällt stärker als anderen Arbeiten ein utopischer Grundton zu. Auch hier gehen Szenen zitathaft auf mediale Vorbilder zurück bzw. scheinen von ihnen durchtränkt. Dennoch überwiegen das Performative, der unerwartete Verlauf der Ereignisse, das nicht-Vorhersehbare und das Kreative. Das Dokumentarische beruht bei Mik nicht mehr auf Repräsentation, es geht eher um das Über-Führen zeitlicher Zwischenräume zwischen dem Sein/Geschehen und dem Eintritt in eine symbolische Ordnung. Die Protagonisten im Film arbeiten sich an der Frage ab, wie Gemeinschaft heute artikuliert werden kann. Mik führt in gewisser Weise ein Stück auf, das auf den Spielplänen unserer Kultur zunehmend seltener wird. Die Protagonisten verfallen bisweilen aber auch wieder obsessiven kollektiven Ritualen. Die Videoprojektion wird als Triptychon auf drei frei auf dem Boden stehen Projektionsplatten präsentiert, die dem Bild eine traumhafte opake Oberfläche verleihen. Mit den zahlreichen Erzählsträngen, Verweisen, Anspielungen schafft Mik so ein umfassendes Zeitbild, das dennoch das Moment des Trugbildes beinhaltet.
Cover Photo
Aernout Mik – Communitas, 2010. 3 channel video installation. Edition of 4 + 2 a.p. Courtesy of carlier | gebauer, Berlin.
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[…] Brüchen, Veränderungen, Ängsten und Widersprüchen. Im Daremag gibt es unter dem Titel ‘Maskierungen der Macht‘ einen guten Artikel zu seiner Arbeit zwischen Dokumentation und […]