Im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster werden unter dem Titel „Projekt 2077. The Public Matters“ die Vergangenheit und Zukunft der Skulptur Projekte analysiert
Nein, wir sind nicht in Entenhausen. Der Ort: Münster in Westfalen im Jahr 1977. Das Projekt: Ein besorgter „Bürger der Provinzialhauptstadt Münster“ reicht einen Gegenvorschlag zur Bespielung der innerstädtischen Aaseewiesen ein, wo die „Giant Pool Balls“, drei große Billardkugeln aus Beton des US-Künstlers Claes Oldenburg, im Rahmen der Ausstellung „Skulptur 77“ im öffentlichen Diskurs für erhebliche Aufregung sorgen. Auf Millimeterpapier hat der Skulptur-Skeptiker eine Skizze für eine 40 Meter lange, seetaugliche Ente eingereicht, in deren Bauch wie in einer Galeere kräftige Ruderer sitzen sollen, um Fahrgäste über das Gewässer zu schippern. Eine putzige, wenn man so will, auch populistische Idee, die heute, mehr als 40 Jahre später und nach mehreren überaus erfolgreichen Ausgaben der Skulptur Projekte Münster, immer noch ein Schmunzeln hervorruft.
Wie könnten die Skulptur Projekte in einer fernen Zukunft nach dem Zusammenbruch von „Big Data“ und Männer-Dominanz aussehen? „Projekt 2077. The Public Matters“ lautet der Titel eines visionären Ausstellungsprojekts, das auf die Initiative eines multinationalen Kollektivs von 15 jungen KünstlerInnen zurückgeht, die sich einst in der Klasse von Aernout Mik an der Kunstakademie Münster kennengelernt haben und mittlerweile in Amsterdam, Berlin oder anderswo leben. Im Lichthof des LWL-Museums haben sie zusammen mit der Kuratorin Franziska Kunze ein Setting aus Gerüstelementen installiert, das an ein öffentliches Forum erinnert. Auf den Wänden des dreistöckigen Atriums laufen Videoarbeiten, die sich hintergründig und ironisch mit der Geschichte und möglichen Zukunft der Skulptur Projekte und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auseinandersetzen.
Die Basis für die Entstehung dieser mal performativen, mal narrativen, mal persiflierenden Videosequenzen bildet eine intensive Recherchearbeit des Kollektivs im umfangreichen Skulptur Projekte Archiv, das im LWL-Museum angesiedelt ist. Parallel zur Ausstellung ist auch eine knapp 500 Seiten starke Publikation mit dem Titel „Public Matters. Debatten & Dokumente aus dem Skulptur Projekte Archiv“ erschienen. Bild- und Quellenmaterial aus der über 40-jährigen Geschichte der Skulptur Projekte wird in dem Band um Essays, Gespräche, Fallstudien und Statements ergänzt.
„Wir bieten Ihnen eine kreative Erfahrung, die sich beim Besuch unseres Projektes 2077 offenbart und Sie von den krankhaften Zwängen der Vergangenheit befreit“, so lautet einer der programmatischen Sätze auf dem Flyer, der für die Besucher ausliegt. Acht Videoarbeiten mit gehörigem Irritationspotenzial sind zu sehen. In dem Video „Sichtbarkeit ist die Währung“ etwa entleiht sich eine junge Frau historische O-Töne des charismatischen Kurators Kasper König. Das männliche Reden über Kunst aus dem Jahr 1977 transformiert sie konsequent in die weibliche Form – und demonstriert so aber auch, was sich in der Zwischenzeit getan hat. In dem achtminütigen Video „AGB“ wiederum wird eine wehrlose Künstlerin mit strengen, juristisch wasserdichten Vertragsbedingungen konfrontiert.
The Public Matters – Die Öffentlichkeit zählt. Immer geht es auch um Fragen der Teilhabe, der Demokratie und der Freiheit. Der Besucher erfährt bekannte Skulpturen wie die 1977 entworfene und nach langen Debatten erst 2007 realisierte Arbeit „Square Depression“ von Bruce Nauman noch einmal ganz neu, indem sie in einem kurzen Video eine performative Aufladung erfährt.
Auch der eingangs erwähnten Skizze von der seetauglichen Ente begegnet man beim Rundgang durch die kurzweilige Ausstellung in Form einer Wandmalerei. Die Wände sind übrigens in irregulärem Farbauftrag auf den drei Etagen in Schwarz, Rot und Gelb gestrichen. Franziska Kunze ist sich der ambivalenten Wirkung dieser in Deutschland als unbehaglich empfundenen Farbkombination durchaus bewusst. „Doch das ist so gewollt“, sagt sie. Schließlich spielt das Projekt ja in einer Zeit, in der Staatsgrenzen aufgehoben sind.
Noch bis Mitte November 2020 wird Franziska Kunze ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm mit Filmreihen, Vorträgen, Diskussionen, Film-Screenings und Seminaren in der Ausstellung umsetzen. Nach den Skulptur Projekten ist vor den Skulptur Projekten. In Münster, wo man dem 10-Jahresrhythmus der Großausstellung entgegen vieler Diskussionen treu bleibt, herrscht schon jetzt gespannte Erwartung auf die nächste Ausgabe im Jahr 2027.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Projekt 2077. The Public Matters
Ort: LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
Zeit: bis 15. November 2020, Di bis Do 9–18 Uhr, Fr bis So 10–20 Uhr, jeden zweiten Freitag im Monat bis 24 Uhr
Katalog: Public Matters. Debatten und Dokumente aus dem Skulptur Projekte Archiv, Verlag der Buchhandlung Walther König, 480 S., 420 Abb., deutsch-englisch, 38,00 Euro
Internet: www.lwl-museum-kunst-kultur.de