Kunst statt Fotojournalismus: Die Ausstellung „Michael Schmidt: Lebensmittel“ im Berliner Martin-Gropius-Bau nähert sich dem heißen Thema Lebensmittelindustrie mit unaufgeregt-künstlerischen Mitteln.
Der Berliner Fotograf Michael Schmidt, Jahrgang 1945, war in den Jahren 2006 bis 2010 unermüdlich unterwegs. Insgesamt 26 Recherchereisen führten ihn zu den Zentren der europäischen Lebensmittelindustrie zwischen Stavanger und Almeria: Fischfarmen in Norwegen, Apfelplantagen in Südtirol oder Gewächshäuser in Südspanien. Auf jeder dieser Reisen hat Schmidt 50 bis 70 lebensmittelverarbeitende Betriebe besucht und direkt vor Ort, hinter den Kulissen der Lebensmittel-industrie also, seine Beobachtungen mit der Kamera festgehalten. Am Ende des aufwändigen Projekts mit Zehntausenden von Bildern blieben 174 „gültige“ Aufnahmen übrig, von denen der Berliner Martin-Gropius-Bau jetzt in der Ausstellung „Michael Schmidt: Lebensmittel“ eine repräsentative Auswahl von 134 Fotografien zeigt.
Manche stehen ganz für sich alleine. So wie die Bilder von krumm gewachsenen Gurken in weißen Pappkartons, die zusammen mit Aufnahmen lebender und toter Schweine das Entrée der Schau bilden. Erst 2009 hatte die EU nach zähem Ringen die Normen für den Krümmungsgrad von Gurken wieder abgeschafft. Zuvor wären die nicht normgerechten Kürbisfrüchte einfach wieder untergepflügt worden. Andere Aufnahmen verdichtet Schmidt zu wandfüllenden Tableaus. Schwarz-weiße und farbige Bilder wechseln sich da ab: Abgeerntete Felder, eingeschweißte Wiener Würstchen oder fertig etikettierte und damit für die Vermarktung verfügbar gemachte grüne Paprika in Nahaufnahme oder „Kinderwurst“ mit lustigen Gesichtern, die schon die Kleinsten zu treuen Kunden der Fleischindustrie verführen soll. Ab und zu, wohl osteuropäische Landarbeiter bei der Ernte oder dafür stellvertretend die lakonische Aufnahme einer auf einem Acker vergessenen altmodischen Reisetasche.
Michael Schmidt, der mittlerweile international gefeierte Berliner Autodidakt, der bereits 1988 als erster lebender deutscher Fotograf eine Einzelausstellung im New Yorker Museum of Modern Art hatte, bedient sich klassischer Genres: Landschafts-, Sach- und Industriefotografie, soziodokumen- tarische Aufnahmen von arbeitenden Menschen oder Tieraufnahmen. Alles ist klar, sachlich, unaufgeregt und analytisch fotografiert. Keineswegs imitiert Schmidt den investigativen Reporterblick und sein oft sensationsheischendes Kalkül. „Ich wollte vorurteilsfrei in die Sache reingehen“, sagt er. „Es bringt nichts, mit Schockbildern zu arbeiten. Das ist eine Sache der Journalisten.“ Stattdessen setzt Schmidt auf die abstumpfende, gleichzeitig aber auch aufklärerische Gesamtwirkung seines Projekts. Die vor chemischen Zusatzstoffen nur so strotzenden Zutatenlisten für Marshmallows oder verpackte Cervelatwurst, das vakuumierte Hackfleisch oder die Südtiroler Normäpfel der Sorten Gala und Granny Smith, die Schmidt so gekonnt und ästhetisch in Szene setzt, könnte jeder normale Supermarktbesucher tagtäglich genauer unter die Lupe nehmen. Doch wer macht das schon? Dem gedankenlosen Konsum von industriell erzeugten Lebensmitteln, dem die meisten von uns sich gewohnheitsmäßig hingeben, wird in dieser Schau ein formal bis ins kleinste Detail durchkomponierter, dafür aber in der Wirkung umso kritischerer Spiegel vorgehalten. Genau das aber macht den Unterschied zwischen schnödem Fotojournalismus und großer Kunst aus.
Auf einen Blick
Ausstellung: Michael Schmidt: Lebensmittel
Ort: Martin-Gropius-Bau Berlin
Zeit: bis 1. April 2013. Mi-Mo 10-19 Uhr. Di geschlossen
Katalog: Snoeck Verlag, 264 S., 174 Abb., 59 Euro (Museumsausgabe), 128 Euro (Buchhandelsausgabe im Schuber)
Internet: www.gropiusbau.de