Wider das Dogma der oberflächlichen Perfektion: Der Fotograf Jochen Lempert präsentiert in der Hamburger Kunsthalle Aufnahmen von Tieren, Pflanzen, Menschen und Orten.
Eine Straßenszene irgendwo in Asien: Eine nicht besonders auffällige Frau tritt hinaus auf den Bürgersteig. Dazu die weltweit übliche Stadtmöblierung: Kanaldeckel, Ampeln, Absperrgitter, ein Zebrastreifen. Und dann ist da noch eine schwarze Krähe, die es sich ganz oben auf einer Laterne bequem gemacht hat. Um genau diese Krähe, einen überaus anpassungs-fähigen Kulturfolger in einer sich permanent verändernden städt-ischen Umgebung, geht es hier auch. Die eher unspektakuläre Aufnahme trägt den Titel „Corvus macrohynchos“ (Dickschnabel-krähe). Sie gehört zu einem Konvolut von über 100 Fotografien, die jetzt in der Hamburger Kunsthalle zu sehen sind. Der Hamburger Künstler Jochen Lempert zeigt in neun, teils vom Tageslicht hell erleuchteten Räumen Bilder von Tieren, Pflanzen, Menschen, dem Himmel und den Ozeanen. Auf einigen Aufnahmen sind auch zivilisatorische Errungenschaften wie Flugzeuge oder Teile von Gebäuden zu sehen.
Lempert verwendet die unterschiedlichsten Formate. Allen Fotografien gemeinsam ist jedoch ihre Ausführung: Es handelt sich ausschließlich um Schwarz-Weiß-Abzüge auf Barytpapier, die mit Klebeband direkt auf der Wand fixiert wurden. Keine Rahmen, kein schützendes Glas, keine anderen, den Betrachterblick reglemen-tierenden Einschränkungen. Was man sieht, ist, was man sieht. Jochen Lempert hat alle Abzüge eigenhändig in der Dunkelkammer hergestellt. Er fotografiert analog, und er verzichtet auf digitale Tricks oder Nachbearbeitungen. Manche dieser Abzüge wellen sich, andere sind unscharf. Auf manchen sind Staubkörner oder Flusen zu sehen. Hier geht es nicht um technische Perfektion, nicht darum, das Letzte aus einem Foto herauszuholen, um den Betrachter zu überwältigen. So etwas überlässt Lempert ganz gelassen den kommerziell arbeitenden Magazinfotografen.
Es geht aber auch nicht per se um das nostalgische Festhalten an der analogen Technik. Jochen Lempert betrachtet seine Aufnahmen eher als „Mental Images“, eine Art kognitives Depot. Die skizzenhaft wirkende Imperfektion der Abzüge entspricht genau dieser Haltung. Das Einzelbild spielt nur eine untergeordnete Rolle. Der 1958 in Moers geborene Künstler, der zunächst Biologie studiert hat, ordnet seine Aufnahmen stets zu größeren Gruppen im Raum an. Durch das Nebeneinander von scheinbar unzusammen-hängenden Sujets entstehen überraschende Analogien und Nachbarschaften: Da korrespondiert das schwarz glänzende Auge eines Eichhörnchens mit der spiegelnden Oberfläche einer Tollkirsche, die augenförmige Tätowierung einer jungen Frau mit der Flügelzeichnung eines Falters. Den Betrachter regt Lempert zum genauen Hinschauen und zum Nachdenken über die eigenen Sehgewohnheiten an. Nach und nach entdeckt man, dass es sich bei der so zutraulich in die Kamera blickenden Antilope bloß um ein ausgestopftes Exemplar aus dem Naturkundemuseums handelt, und dass eine von weitem wie eine Flugzeugformation aussehende Struktur in Wirklichkeit aus Insekten, nämlich Wasserläufern, besteht. Sommersprossen, Ölflecken auf dem Asphalt oder das selten zu beobachtende Phänomen eines Schwarms fliegender Ameisen am Hamburger Himmel: Mit virtuoser Beiläufigkeit und großer Sensibilität präsentiert Jochen Lempert dem Betrachter im Alltag leicht zu übersehende Phänomene, die zur Kontemplation darüber einladen, wie alles auf der Welt miteinander zusammenhängt.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Jochen Lempert
Ort: Hamburger Kunsthalle – Galerie der Gegenwart
Zeit: bis 29. September 2013. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr
Katalog: Verlag der Buchhandlung Walther König, 348 S., zahlreiche Abb., in englischer Sprache, 38 Euro (Museum), 48 Euro (Buchhandel)
Internet: www.hamburger-kunsthalle.de