Ideen aus dem virtuellen Raum treten in die Wirklichkeit ein: Die kanadisch-britische Künstlerin Angela Bulloch zeigt ihre neuesten Arbeiten in der Berliner Galerie Esther Schipper.
Wer mit den Werken der kanadisch-britischen Konzeptkünstlerin Angela Bulloch noch nicht so vertraut ist, sollte vielleicht geradewegs auf einen der beiden mit dunkelblauem Jeansstoff bezogenen Sitzsäcke zusteuern, die da im Hauptraum ihrer Berliner Galerie Esther Schipper auf dem Boden liegen und zum Hinfläzen einladen. Dort liegt auch ein iPad bereit, auf dem ein weiblicher Avatar – wohl nicht ganz zufällig sieht er der Galerie-Direktorin Stefanie Lockwood auffallend ähnlich – eine kurze Einführung in die aktuelle Ausstellung gibt.
Angela Bullochs neue Präsentation trägt den Titel „In Virtual Vitro“. Es ist ihre 11. Einzelausstellung in der auf intellektuell herausfordernde internationale Konzeptkunst spezialisierten Galerie Esther Schipper. So atelierfrisch die ausgestellten Arbeiten auch sind, sie knüpfen alle an Werkgruppen und Themenfelder an, mit denen sich die seit 1999 in Berlin lebende Künstlerin seit langem beschäftigt.
Angela Bulloch, 1966 in Kanada geboren und in den 1970er Jahren mit den Eltern nach Großbritannien umgezogen, hat am Londoner Goldsmiths College Kunst studiert. 1988 gehörte sie neben Damian Hirst, Tracey Emin und den Chapman-Brüdern zu den Teilnehmern der legendären Übersichtsausstellung junger britischer Kunst „Freeze“ in den Londoner Docklands. Ein Umstand, der bis heute noch dazu führt, dass sie vorschnell der Gruppe der „Young British Artists“ (YBA) zugerechnet wird. Ein Etikett, das sie ablehnt. Die ganze Sache mit den YBA sei eigentlich bloß von Journalisten und dem British Council erfunden worden, so Bulloch.
Unter „in vitro“ (lateinisch: im Glas) versteht man in den Naturwissenschaften Experimente, die unter kontrollierten Bedingungen außerhalb eines lebenden Organismus durchgeführt werden – im Reagenzglas zum Beispiel. Bullochs Ausstellungstitel „In Virtual Vitro“ legt daher nahe, dass die Künstlerin ihre Experimente und künstlerischen Gedankenspiele zunächst einmal am Computer durchführt, um deren Ergebnisse dann in dreidimensionale Objekte, Drucke, Wand- und Bodenarbeiten, Lichtskulpturen und Zeichenapparate umzusetzen.
Das entspricht auch exakt der Arbeitsweise der intellektuell anspruchsvollen Perfektionistin. „Wenn ich mich im virtuellen Raum aufhalte, dann hat das wenig mit dem Internet, mit E-Mail oder gar Second Life zu tun. Mir geht es mehr darum, dort neue Dinge auszuprobieren und zu entwickeln, die ich dann dadurch aktiviere, dass ich sie als dreidimensionale Objekte in die Wirklichkeit übertrage. Eher so wie ein Architekt, der am Ende ein Haus baut“, erläutert Bulloch ihren Ansatz während eines Rundgangs durch die Ausstellung.
Für diese Ausstellung hat sie sich ein Jahr lang eingehend mit geometrischen Modellen beschäftigt, die bereits Platon in Bezug zu den vier Grundelementen Erde, Feuer, Luft und Wasser setzte.
In allen Räumen der Galerie begegnet der Betrachter so genannten konvexen Polyedern, vielflächigen, geometrischen Körpern also, die mal auf einer der für Bulloch ebenfalls typischen Leuchtboxen stehen oder dann wieder zu einer ungefähr der Körpergröße eines Menschen entsprechenden „unendlichen Säule“ übereinandergestapelt sind. Für die Realisierung ihrer Skulpturen verwendet sie Industriematerialien wie hochwertige MDF-Platten oder den unter Architekten und Designern beliebten Mineralwerkstoff Corian.
Wie in der Minimal Art, auf die sich Bulloch oft ironisierend bezieht, ist alles in höchster Perfektion verarbeitet. Unterschiedlich behandelte Oberflächen verleihen den ansonsten wie aus einem Guss wirkenden Objekten so etwas wie Persönlichkeit. Auf einer der von Bulloch inoffiziell als „Totems“ betitelten Säulen sind sogar die Handabdrücke der Künstlerin zu sehen. Außerdem kommt erstmals auch eine olfaktorische Komponente ins Spiel: Angela Bulloch hat die Skulptur kurz vor Eröffnung der Ausstellung mit ihren eigenen Händen mit kostbarem Rosenöl, einem Rohstoff aus der Parfümherstellung, eingerieben. Eigentlich ganz untypisch angesichts ihres ausgeprägten Faibles für virtuelle Welten. „Am Ende“, so gesteht sie ein, „hat es mir einfach Spaß gemacht, tatsächlich mal etwas mit den Händen zu bearbeiten.“
Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt allerdings auch sofort die neueste Zeichenmaschine der Künstlerin. Bullochs „Drawing Machines“ entstehen seit über 20 Jahren. Sie erinnern an die früher im Industrie- oder Laborbereich üblichen XY-Schreiber, die Messeingänge wie Temperatur oder Luftfeuchtigkeit aufzeichnen. Ausgestattet mit einem Schreibstift, ziehen sie ihre geraden Linien direkt auf die Wand, bis am Ende ein monochromes Bild übrigbleibt, das dann nach der Ausstellung wieder übertüncht wird.
Erstmals ist es Angela Bulloch jetzt gelungen, eine Zeichenmaschine zu entwickeln, die statt gerader Linien Kringel, Kurven, Ellipsen und Kreise auf die Wand zeichnet –und zwar in betörendem Lippenstift-Rot. Ein wenig erinnert das an Kritzeleien, die ganz beiläufig beim Telefonieren entstehen, aber dennoch viel Stoff zur psychologischen Ausdeutung bieten. Damit die Maschine nicht einfach ins Blaue hinein zeichnet, erhält sie akustischen Input. Bulloch hat von dem New Yorker Komponisten David Grubbs, mit dem sie regelmäßig kooperiert und gelegentlich auch zusammen auf der Bühne steht, einen Soundtrack erarbeiten lassen, der ausschlaggebend für die Bahn des Schreibstiftes ist.
Mit ihrer aktuellen Berliner Ausstellung untermauert Angela Bulloch ihren Ruf als eine der wichtigsten internationalen Konzeptkünstlerinnen unserer Zeit. Wer ihr Werk schon länger verfolgt, kommt zu dem Schluss, dass Bulloch zwar mit technologisch hochaktuellen Softwareprogrammen, grundsoliden Werkstoffen, von der Industrie abgeschauten Verarbeitungs-methoden und verführerisch attraktiven Oberflächen hantiert. Ihr eigentliches Interesse gilt aber wesentlich grundlegenderen Fragen zutiefst philosophischer Natur: dem Eigenleben der Dinge, den Grundstrukturen der Wirklichkeit und den unendlichen Möglichkeitsformen alles Seienden – sowohl im virtuellen als auch im realen Raum.
Auf einen Blick
Ausstellung: Angela Bulloch – „In Virtual Vitro“
Ort: Galerie Esther Schipper
Zeit: bis 1. März 2014 // Di-Sa 11-18 Uhr
Internet: www.estherschipper.com