Fotografie zwischen Vintageabzügen und zeitgenössischen Positionen: Die 18. Ausgabe der Spezialmesse Paris Photo versammelte einmal mehr das gesamte Spektrum der Fotografiegeschichte – doch der Trend geht eindeutig zum Zeitgenössischen.
Sommer 1962 im New Yorker Central Park. Die Fotografin Diane Arbus ist wieder einmal mit ihrer Kamera unterwegs auf der Suche nach Abnormitäten im Alltag – ihrem bevorzugten Sujet. In der Person des vielleicht siebenjährigen Jungen Colin Wood scheint sie ein passendes Motiv gefunden zu haben. Der eine Hosenträger seiner kurzen schwarzen Hose ist verrutscht, sein gemustertes Hemd bis zum letzten Knopf zugeknöpft, steht er da.
Die linke Hand ist zu einer Art Kralle verkrampft. In der rechten hält er eine täuschend echt aussehende Spielzeughandgranate. Der bis zum Äußersten gereizte Gesichtsausdruck des blonden Kindes scheint sagen zu wollen: Lass mich in Ruhe, oder du bist gleich tot!
Ein Vintage-Abzug von „Exasperated Boy with Hand Grenade“, so der Titel dieses mittlerweile ikonischen Fotos, ist jetzt auf der weltweit wichtigsten Fotomesse Paris Photo am Stand der New Yorker Galerie Howard Greenberg für annähernd 500.000 US-Dollar verkauft worden.
Fast 60.000 Besucher verzeichnete die 18. Ausgabe. Das waren fast zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Unter das Messepublikum mischten sich auch zahlreiche Pariser Prominente wie Ex-Kulturminister Jack Lang oder die Schauspielerinnen Isabelle Huppert, Jane Birkin, Fanny Ardant und Audrey Tautou.
Zeitweise herrschte in den weiträumigen Hallen des Grand Palais so drangvolle Enge, dass Besucher bis zu eine Stunde im Pariser Herbstregen ausharren mussten. Der Stimmung tat das jedoch keinen Abbruch. Einmal unter dem beeindruckenden Glasdach des für die Weltausstellung 1900 gebauten Ausstellungshauses angekommen, hatten Besucher die Auswahl zwischen 143 Galerien aus 35 Ländern.
Auffallend dabei: Nur 44% der Ausstellender sind exklusiv auf Fotografie spezialisiert. Big Player wie Gagosian, Zwirner oder zum ersten Mal auch Ropac sind längst auf den einst sehr spezialisierten Messezug aufgesprungen. In einer eigenen Sektion kamen noch 26 internationale Verlage, Editeure und Antiquare hinzu, die mit ihrem breiten Angebot an oftmals signierten Fotobüchern traditionell zur Attraktivität der Messe beitragen.
Rund 200 Künstler und Fotografen, darunter Thomas Ruff, William Klein, Richard Prince, Joel Meyerowitz, Agnés Varda und Bettina Rheims, waren persönlich nach Paris gereist, um ihre Neuerscheinungen zu signieren.
Eine der Sonderschauen widmete sich in diesem Jahr den aktuellen Ankäufen des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Zusammengestellt hat sie Quentin Bajac. Der Pariser, der zuvor am Musée d’Orsay und dem Centre Pompidou tätig war, ist seit Januar 2014 Chefkurator für Fotografie am MoMA und steht damit in der Nachfolge so gewichtiger Persönlichkeiten wie Beaumont Newhall, Edward Steichen, John Szarkowski und Peter Galassi.
Neben Ankäufen von Klassikern des Mediums wie Lee Friedlander, William Klein oder Stephen Shore setzt das MoMA aber auch bewusst zeitgenössische Akzente. So sind die jüngeren US-Künstlerinnen Collier Schorr und Lisa Oppenheim prominent mit größeren Werkgruppen vertreten.
Außerdem wagt das Flaggschiff unter den amerikanischen Museen mit Ankäufen von Arbeiten etwa der Brasilianerin Regina Silveira oder des Venezolaners Alfredo Cortina auch eine längst überfällige Ausdehnung seiner Sammelaktivitäten nach Lateinamerika. Lange galt die Fotoabteilung des MoMA als eine Art letztinstanzlicher „Richterstuhl“ für Qualität. Dass das heute noch so ist, relativiert Bajac jedoch: „Heute sind wir nur einer von mehreren Richterstühlen.
Es gibt jetzt viele große Institutionen, die sich mit Fotografie beschäftigen. Das MoMA macht das natürlich mit einem großen Grad von Genauigkeit, was einfach mit seinem langen und tiefgründigen Engagement im Feld der Fotografie zu tun hat. Wir schreiben an einer Geschichte der Fotografie aus der Sicht des MoMA, aber andere Experten an anderen Institutionen schreiben gleichzeitig an ihrer Version der Fotografiegeschichte.“
Besonders hochkarätig besetzt in diesem Jahr war das von dem Schweizer Urs Stahel, bis vor kurzem Direktor des Fotomuseums Winterthur und jetzt freier Kurator, zusammengestellte Plattform-Programm.
Jeden Tag um 16 Uhr stellten Künster wie Thomas Ruff, Martha Rosler, Paul Graham oder Boris Mikhailov in ausführlichen Power-Point-Präsentationen ihr Werk vor und erörteten aktuelle Fragestellungen des Mediums.
So bekannte etwa Thomas Ruff, dass er seine aktuellen Photogramme vollkommen kameralos in einer virtuellen Dunkelkammer erzeugt. Einen Fotoapparat, so räumte Ruff freimütig ein, benutze er höchstens noch, um seine Kinder zu fotografieren.
Mit Martha Rosler und Paul Graham kamen dann zwei an sozialen Missständen interessierte New Yorker Künstler zu Wort, die beide auf ihre Art und zu unterschiedlichen Zeiten eine konzeptuelle und sehr stark zurückgenommene Ästhetik der Straßenfotografie entwickelt haben, die sich von der offensiveren Attitüde etwa eines Garry Winogrand fundamental unterscheidet.
Graham vermeidet daher auch den Begriff „Street Photography“, den er lieber durch „Urban Landscape Photography“ ersetzt wissen möchte. Ganz anders dann wieder der in Berlin lebende Ukrainer Boris Mikhailov, dessen Bilder von Obdachlosen und sozial Ausgegrenzten im post-sowjetischen Osteuropa oft bis an die Grenzen des Erträglichen gehen. Wissenschaftliche Vorträge etwa über die „Pathologie des Selfies“ ergänzten das dichtgepackte Platform-Programm.
Auch wenn die Paris Photo immer noch genügend Raum für ungewöhnliche Entdeckungen bietet: An den Ständen der großen, auch in Paris mit Dependancen prominent vertretenen Platzhirsche kam niemand vorbei. Der erstmals teilnehmende Salzburger Thaddaeus Ropac sorgte für Aufmerksamkeit, indem er der Schauspielerin Isabelle Huppert freie Hand dabei ließ, an seinem Stand eine Schau mit Werken von Robert Mapplethorpe zu kuratieren.
Huppert, an filmischen Narrativen geschult, kombinierte Mapplethorpes Aufnahmen zu bis zu zehnteiligen Bilderfolgen. Andere Motive wiederum präsentierte sie ganz für sich allein stehend.
Ganz auf den an der Düsseldorfer Akademie lehrenden, kalifornischen Konzeptkünstler Christopher Williams konzentrierte sich die Präsentation am Stand der New Yorker Galerie David Zwirner. Von Williams, der nie eine Kamera in die Hand nimmt und das Fotografieren an professionelle Studiofotografen aus der Werbebranche delegiert, waren sowohl großformatige Aufnahmen von aufgeschnittenen Kameras, als auch die Arbeit „Supplement ’14 (Mixed Typologies) #6, 2014“ eine Serie mit 45 Collagen aus Kameradetails auf lindgrünem Fond, zu sehen.
Williams gewann für sein gerade erschienenes Künstlerbuch „Production Line of Happiness“ auch den während der Messe verliehenen gemeinsamen Fotobuchpreis der Paris Photo und der Aperture Foundation.
Zum unangefochtenen Publikumsliebling und absoluten Hingucker wurden Nicholas Nixons “The Brown Sisters”, prominent platziert am Stand der Galerie Fraenkel aus San Francisco. Von College-Girls zu Rentnerinnen. 1975 hat Nixon damit angefangen, seine Frau und ihre drei Schwestern einmal im Jahr in der immer gleichen Anordnung mit der Großbildkamera zu fotografieren.
Die schwarz-weiße Serie zeigt auf beeindruckende und emotional berührende Art und Weise das Drama des Älterwerdens – aber auch den familiären Zusammenhalt der vier Schwestern. In diesem Jahr ist nun die vierzigste Aufnahme entstanden. Das ganze Set steht in einer Auflage von sieben Exemplaren zur Verfügung. Drei davon sind bereits an Museen verkauft worden.
Die anderen werden von Fraenkel für jeweils 450.000 US-Dollar angeboten. Wie kann man das Vergehen von Zeit, ja Lebenszeit, mit der Kamera erfassen, ohne dabei kitschig oder sentimental zu werden? Nicholas Nixon hat einen sehr überzeugenden und den Betrachter unmittelbar ansprechenden Weg gefunden. „The Brown Sisters“ ist ein Memento mori unserer Zeit. Der Stand der Fraenkel Galerie jedenfalls war ständig von Menschen aller Altersgruppen umlagert.
Ganz frisch und zeitgenössischen Diskursen verhaftet, dann wiederum die Arbeit der 1972 geborenen Ilit Azoulay aus Israel. Die Künstlerin verbrachte 2013 einen sechsmonatigen Aufenthalt in den Berliner Kunstwerken/KW Institute for Contemporary Art. Am Stand der New Yorker Andrea Meslin Gallery zeigte sie jetzt unter den Titeln „Seventh Option“, „Zone D“, Zone E“ und „Zone F“ Ausschnitte aus ihrer vielschichtigen Arbeit „Shifting Degrees of Certainty“ (2014).
Während ihres Deutschland-Aufenthalts hat Azoulay, die sich für die Archäologie von Städten, Architekturfragmenten und Objekten interessiert, einige jener deutschen Städte besucht, die im Krieg weitgehend unzerstört geblieben sind. In Orten wie Bamberg, Weimar, Regensburg, aber auch in Berlin selbst entdeckte sie ganz unterschiedliche Dinge, deren Geschichte sie anschließend auf den Grund ging: ausgestopfte Tiere, Walter Gropius‘ Heizkörper im Bauhaus, ein Feuerlöscher in einer Wandnische, eine Kerze in Form eines menschlichen Schädels, eine Grabplatte mit weggefrästen Buchstaben. Sie hat sie mit einer Technik, die dem Scannen verwandt ist, fotografiert.
Zu sehen in Paris war einerseits ein aus all diesen Fragmenten zusammengesetztes, großes Panorama, welches zwei Wände bedeckte. Andererseits aber auch „Auskopplungen“ aus diesem Gesamtbild, die, einzeln und teilweise irregulär gerahmt, wie Puzzleteile auf einer Wand präsentiert wurden. Jedes dieser Bilder war mit einer Nummer versehen. Durch Eingabe dieser Nummern in bereitliegende Audioguides konnten Besucher die von Ilit Azoulay akribisch recherchierten, in einigen Ausnahmefällen allerdings auch fiktiven, oft sehr komplexen Geschichten, die sich hinter diesen Objekten verbergen, anhören. Ähnlich und doch wieder ganz anders als die Amerikanerin Taryn Simon, betreibt auch Ilit Azoulay eine Ästhetik, die zwischen Konstruktion und Dekonstruktion oszilliert und in deren Fokus das Sichtbarmachen des Verborgenen steht. Auf jeden Fall eine Entdeckung.
Fazit: Die Grenzen zwischen klassischer Fotografie und Fotografie als nur eine von vielen Ausdrucksformen zeitgenössischer Kunstpraxis verschwimmen auf der Paris Photo zusehends.
Künstler, für die Fotografie nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt, sind zunehmend auf der Messe vertreten. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Ende Mai 2015 wird im feinen Londoner Somerset House die Photo London Premiere feiern – mit einem ganz ähnlichen Profil wie die Paris Photo. Dass auch hier der Anspruch hoch sein wird, zeigt schon die Besetzung des Auswahlkommittees, dem unter anderen Tobia Bezzola, der Direktor des Museum Folkwang in Essen, und François Hébel, langjähriger Leiter des Fotofestivals Les Rencontres d’Arles, angehören.
Auf einen Blick
Messe: 18. Paris Photo
Ort: Grand Palais, Paris
Katalog: 504 S., zahlreiche Abb., 25 Euro
Internet: www.parisphoto.com
Nächste Termine: Paris Photo, Los Angeles, 1. bis 3. Mai 2015
Paris Photo, Paris, 19. bis 22. November 2015