Von Man Rays gelehriger Schülerin zur unerschrockenen Kriegsberichterstatterin: Das ungemein vielfältige fotografische Œuvre der Amerikanerin Lee Miller ist jetzt in der Wiener Albertina zu entdecken.
Das hätte auch schief gehen können. Als Lee Miller 19 Jahre alt war, besuchte sie Manhattan. Wie viele New York Touristen war wohl auch sie von der Monumentalität der Wolkenkratzer abgelenkt und lief, ohne nach rechts und links zu schauen, schnurstracks auf die Fahrbahn. Hätte ein Passant sie nicht im letzten Moment zurückgezogen, so wäre sie Sekunden später von einem herannahenden Auto überfahren worden. Der Zufall wollte es, dass es sich bei dem geistesgegenwärtigen Fremden um den Verleger Condé Nast handelte, der mit Zeitschriften wie Vogue und Vanity Fair berühmt geworden war. Nast fand sofort Gefallen an der gut aussehenden jungen Frau und engagierte sie als Model. Fotolegenden wie Edward Steichen und Horst P. Horst verewigten ihr Gesicht und ihren Körper auf den Covern von Modemagazinen und auf Werbeanzeigen.
Doch das Leben vor der Kamera fand die junge Lee Miller, die 1907 in Poughkeepsie in Upstate New York geboren wurde, schnell langweilig. Sie wollte selber fotografieren. Dass sie das rund fünf Jahrzehnte lang auf ganz unterschiedliche Art und Weise tat, zeigt jetzt eine Ausstellung mit rund 80 Exponaten in der Wiener Albertina. Neben surrealistischen Bildexperimenten sind Modeauf-nahmen, Reisefotografien und vor allem emotional aufrührende Aufnahmen aus ihrer Zeit als Kriegsfotografin zu sehen. Kein Geringerer als Edward Steichen riet Lee Miller, sich in Paris als Schülerin bei Man Ray zu bewerben. Es entstand sofort eine intensive Lebens- und Arbeitsbeziehung, die von 1929 bis 1932 dauern sollte. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung war Lee Miller jedoch wesentlich mehr als nur Muse, Modell und Assistentin des Künstlers. Die beiden entwickelten in dieser Zeit eine gemeinsame Bildsprache, perfektionierten ganz en passent die Technik der Solarisation und waren auch privat unzertrennlich.
„Wir haben immer fotografiert, vor allem wenn ich für Man gearbeitet habe. Er hatte eine neue Idee zu belichten oder entwickeln, und ich war das Versuchskaninchen. Ich war immer da“, so Miller. Man Ray war es aber auch, der Lee Miller mit dem Kreis der surrealistischen Künstler bekannt gemacht hat. Unter anderen traf sie Max Ernst, Joan Miró, Jean Cocteau und Pablo Picasso. Doch während sich die Arbeit mit Man Ray überwiegend auf Atelier und Dunkelkammer beschränkte, zog es Miller immer wieder auch raus auf die Straße. Hier fotografierte sie, inspiriert von der Serie „Le vieux Paris“ Eugène Atgets, die seit 1897 entstanden war, Schaufenster und Durchgänge der Pariser Quartiers und entwickelte eine Vorliebe für das Zusammenspiel von Licht und Schatten sowie ein Faible für enge Durchblicke, Netz- und Gitterstrukturen. Lee Miller brauchte nicht lange, um sich von ihrem Lehrmeister Man Ray künstlerisch zu emanzipieren. Bald schon war ein unsentimentaler, direkter und oft schonungsloser Zugang zur Realität kennzeichnend für ihre Aufnahmen. Auch Abgründiges hat sie mutig und unerschrocken in Szene gesetzt.
Ab 1940 fotografierte Miller in London für die Vogue. Für eine kurze Zeit machte sie noch Modeaufnahmen, wandte sich dann aber – die Deutschen hatten im so genannten „The Blitz“ in London massive Zerstörungen angerichtet – zunehmend kriegsrelevanten Themen zu. Ihren am Surrealismus geschulten Blick behielt sie jedoch zunächst noch bei. So fotografierte sie etwa die zerborstenen Scheiben eines Gasunternehmens, auf denen sich, wie von Geisterhand gezeichnet, die Konturen eines schwebenden Engels abzeichnen. Oder aber eine zerstörte Kapelle, aus deren Säulenportal die Backsteine einem Wasserfall gleich hervorquellen. Ab 1943 erschienen Lee Millers Fotoreportagen mit ihren eigenen Texten – damals eine große Ausnahme. Kurz danach begann sie dann ihre Arbeit als eine von nur vier offiziell akkreditierten Kriegsfotografinnen der US-Army. Viele ihrer Aufnahmen entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Time-Life-Fotografen David E. Sherman. Miller dokumentierte die Schlacht um Saint-Malo und die Befreiung von Paris. Im Frühjahr 1945 gelangte sie mit den US-Truppen nach Leipzig, wo sie im Rathaus Aufnahmen von einem NS-Bürgermeister und seiner toten Familie, die sich selbst das Leben genommen hatten, machte. Am 11. April 1945 entstanden ihre berühmten Aufnahmen von der Befreiung des KZ Buchenwald. Anders als etwa ihre Kollegin Margaret Bourke-White geht Lee Miller mit der Kamera extrem nah an die Leichenberge und die Gesichter der Überlebenden heran. Eng gewählte Bildausschnitte konfrontieren den Betrachter ganz unmittelbar mit dem Unfassbaren. Die britische Vogue weigerte sich, diese Bilder großformatig abzudrucken. In der amerikanischen Vogue waren sie jedoch mit einigen Monaten Verzögerung zu sehen.
Gemeinsam mit Sherman gelangte Lee Miller 1945 auch in Hitlers Münchner Residenz. Hier entstanden die berühmten Fotos, auf denen sich die beiden jeweils nackt in Hitlers Badewanne sitzend fotografierten – die schmutzigen Kampfstiefel davor abgestellt. Diese zweifellos stark inszenierten Aufnahmen symbolisieren die Banalität des Bösen. Sie zeigen aber auch einen intimen Akt der Eroberung und der Reinigung zugleich. Einen weiteren Schwerpunkt der Wiener Ausstellung bilden bisher noch nicht gezeigte Aufnahmen, die Miller in Salzburg und Wien gemacht hat, darunter Bilder der zerstörten Stadt, Aufnahmen aus Kinderkrankenhäusern, aber auch Porträts von Künstlern wie dem gealterten Ausnahmetänzer Vaslav Nijinsky.
Lee Miller, Albertina Wien, 8. Mai bis 16. August 2015