Zeichnen im 21. Jahrhundert: Die Ausstellung „Walk The Line. Neue Wege der Zeichnung“ im Kunstmuseum Wolfsburg demonstriert, wozu das uralte Medium Zeichnung heute in der Lage ist.
Wolfsburg. Die Zeichnung ist das ursprünglichste Medium künstlerischen Ausdrucks: von den frühesten Höhlenzeichnungen bis hin zu Meisterzeichnungen von Albrecht Dürer oder Leonardo da Vinci, von den auf Zeichnungen gebannten Träumen der Surrealisten über Skizzen oder aufs Blatt geworfene Entwürfe für große Projekte, die wohl jeder Künstler von Zeit zu Zeit anfertigt. Das Kunstmuseum Wolfsburg wagt jetzt eine Bestandsaufnahmen: Die Ausstellung „Walk The Line“ zeigt 105 Zeichnungen von 37 internationalen zeitgenössischen Künstlern und untersucht, so verrät der Untertitel der sehenswerten Schau, „Neue Wege der Zeichnung“. Zehn der Künstler haben ihre Arbeiten extra für die Ausstellung geschaffen.
In den letzten Jahren ist dem Medium Zeichung sowohl im Ausstellungsbetrieb als auch auf dem Kunstmarkt eine neue Aufmerksamkeit entgegengebracht worden. Die 2007 gegründete Pariser Spezialmesse „Drawing Now“ hat sich zu einer festen Größe etabliert. Holger Broeker, der Kurator der Wolfsburger Schau, bezeichnet das Zeichnen als „Denken mit dem Stift“. Die Ausstellung stellt jedoch auch unter Beweis, dass viele Gegenwartskünstler den klassischen Zeichenstift längst beiseite gelegt haben. So hat Christian Jankowski den im Wolfsburger Besucherbuch gefundenen Eintrag „Was geht Leute?“ zusammen mit einer kleinen Zeichnung in eine Neonschrift übertragen und zum Leitmotiv der Ausstellung erklärt. Seine Lebensgefährtin Jorinde Voigt hingegen untersucht Ludwig van Beethovens 32 Klaviersonaten, zu denen sie jeweils eine Zeichnung angefertigt hat: emotional, akribisch, kryptisch. Eine andere musikalische Adaption gelingt Angela Bulloch. Ihre Zeichenmaschine ist computergesteuert und reagiert auf ein eigens komponiertes Musikstück. Der Besucher erlebt, wie auf der Wand mittels eines komplizierten Mechanismus automatisch eine Zeichnung aus Ellipsen und Kreisen entsteht. Und noch ein dritter Künstler der Schau hat Musik in Zeichnung umgesetzt. Der Berliner Gregor Hildebrandt verwendet ein bespieltes Tonband, um eine Linie als Zeitachse auf die Wand zu ziehen. Sie trägt den programmatischen Titel „Nichts, Nihil, Nothing“. Man kann zwar nichts hören, aber wie man erfährt, soll auf dem Band der Song „Ich bin’s“ von den Einstürzenden Neubauten aufgespielt sein.
Eher klassische Zeichnungen, oft in Kombination von Text und Bild und mit mal ironischen, mal zeitkritischen Anspielungen dann auf den Papierarbeiten von Marcel Dzama, Raymond Pettibon, Pavel Pepperstein oder Nedko Solakov. Diese Zeichnungen sind narrativ aufgeladen, an comichaften Strukturen, filmischen oder theatralen Settings orientiert und oft mit humorvollem Sprachwitz ausgestattet. Genaues Hinschauen und Lesen der kleinen Texte lohnt sich!
Kurator Holger Broeker stellt fest, dass sich das Medium Zeichnung seit den letzten zehn Jahren signifikant gewandelt hat. Das Vordringen in den Raum, der Umgang mit Architektur, aber auch die Einbeziehung von naturwisschenschaftlichen Kontexten oder die Bewegung der Linie in Animation und Film kennzeichnen viele der neueren Positionen. Holger Broeker: „Das aktuelle Zeichnen kennzeichnet vor allem das Vermögen, die neuen Möglichkeiten des Mediums als »Neue Wege der Zeichnung« zu reflektieren. Diese bestehen vor allem darin, das Anfängliche, Ursprüngliche, das der Zeichnung innewohnt, durch die Nutzung neuer medialer Potenziale unmittelbar sichtbar werden zu lassen.“ So finden sich fantastische Landschaftspanoramen bei der in Berlin lebenden Israelin Yehudit Sasportas und groteske Elemente bei Ralf Ziervogel. Den Weg in die Dreidimensionalität, in die Abstraktion und Bewegung geht Žilvinas Kempinas. Der in New York lebende Litauer hat zwei große Industrieventilatoren so aufgestellt, dass in ihrem Luftstrom zwei kreisförmige Magnetbänder frei im Raum schweben. Die Künstlergruppe Troika hingegen zeichnet mittels elektrischer Entladungen auf Papier. Es entstehen Liniengeflechte aus Hochspannung.
Ob Faltungen, Cut-outs, Linienkompositionen aus Fäden im Raum oder digitale Projektionen von Linien: Die Ausstellung „Walk the Line“ zeigt, dass das klassische Zeichnen mit Kohle, Rötel und Graphit längst um neue, innovative Methoden ergänzt worden ist. Neue Medien eröffnen neue Möglichkeiten und ein breites Feld an inhaltlichen, erzählerischen und konzeptuellen Annäherungen an die Wirklichkeit. Der Parcours in Wolfsburg steckt voller Entdeck-ungen und Überraschungen. Eine abwechslungsreiche Ausstellung, in die man sich stundenlang vertiefen kann.
Auf einen Blick
Ausstellung: Walk The Line. Neue Wege der Zeichnung
Ort: Kunstmuseum Wolfsburg
Zeit: bis 16.8.2015, Di—So 11—18 Uhr
Katalog: 96 S., ca. 50 Farbabb., 9,00 Euro
Internet: www.kunstmuseum-wolfsburg.de