Impressionen aus einer Stadt zwischen Kontinuität und Wandel: Die Ausstellung „Imagine Istanbul“ im Brüsseler Bozar entwirft ein vielfältiges fotografisches Panorama der Metropole am Bosporus. In ihrem Zentrum: Ara Güler – „das Auge Istanbuls“.
„Diese großartige Stadt hat eine Million Einwohner, aber ihre Straßen sind eng und ihre Häuser stehen dicht beeinander…es ist die mit Abstand hübscheste Stadt, die wir gesehen haben. Ihre dichten Häuserreihen türmen sich vom Wasser her nach oben, sie bedecken die Kuppen unzähliger Hügel; und die Gärten, die Kugeldächer der Moscheen und die unzähligen Minarette, auf die das Auge trifft, verleihen der Metropolis jenes anheimelnde orientalische Fluidum, von dem jeder träumt, der Bücher über das Morgenland gelesen hat. Konstantinopel ist eine vornehme Erscheinung.“
Mit diesen Worten charakterisierte der amerikanische Schriftsteller und Weltreisende Mark Twain (1835-1910) im Jahre 1869 das heutige Istanbul, damals noch als Konstantinopel bekannt. Aus einer Million Einwohnern sind mittlerweile mehr als 14 Millionen geworden, die engen Straßen wurden für den Bau von Luxusapartments, Fünf-Sterne-Hotels oder Shoppingcentern vielerorts abgerissen, und das Flair des Orients ist an vielen Stellen einer westlichen Betriebsamkeit gewichen, die eher an die multinationalen Melting Pots London oder New York erinnert.
Dennoch Istanbul, die Stadt, die zwei Kontinente und damit zwei Kulturkreise verbindet, verfügt auch heute noch über eine große Faszinationskraft. Den stetig wachsenden Moloch mit all seiner Vielfalt, aber auch seinen Kontrasten und Widersprüchen beleuchtet jetzt die Ausstellung „Imagine Istanbul“, die im Brüsseler Ausstellungszentrum Bozar zu sehen ist.
Die Schau findet im Rahmen des Kunst- und Kulturfestivals „Europalia“ statt, das seine 45. Ausgabe ganz dem Gastland Türkei gewidmet hat. Eine in Belgien nicht unumstrittene Entscheidung, steht das Festival doch unter der Schirmherrschaft des immer wieder gegen Oppositionelle vorgehenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Allzu kritische Stimmen bleiben denn auch im Reigen der rund 200 Veranstaltungen außen vor.
R. Paul McMillen, der ursprünglich aus Irland stammende Kurator der Schau, lebt bereits seit den 1970er Jahren in seiner Wahlheimat Türkei. Er stellt drei Istanbuler Fotografen ins Zentrum: Neben der türkisch-armenischen Fotolegende Ara Güler, Jahrgang 1928, sind dies der 1977 geborene Ahmet Polat und der 1983 geborene Ali Taptık.
Daneben gibt es einen umfangreichen Exkurs ins 19. Jahrhundert, als ausländische Fotografen wie der Franzose Claude-Marie Ferrier oder der Schwede Guillaume Berggren das Treiben in den Gassen rund um Galata-Turm und Goldenes Horn ebenso mit der Plattenkamera festhielten wie die lokalen Repräsentanten des noch relativ neuen Mediums. Ergänzt wird die Schau zudem mit Musikhörproben, Filmen, Videoarbeiten und Installationen zahlreicher zeitgenössischer Künstler wie Sophie Calle, Ayşe Erkmen, Fatih Akin oder Bieke Depoorter, einer 1986 geborenen jungen Magnum-Fotografin aus Belgien.
Den Auftakt des Parcours markieren jedoch Ara Gülers, hier teilweise als Großformate präsentierte Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1950 und 1986, die das alte, allmählich verschwindende Istanbul der Teeverkäufer und Lastenträger, der Hafenarbeiter, Straßenmusiker und Handwerker noch einmal Revue passieren lassen. Seine bereits ikonischen Ansichten bilden längst so etwas wie das kollektive Gedächtnis Istanbuls. Sie zeigen die Stadt und das nahezu omnipräsente Treiben auf dem Wasser häufig im Dunst oder im Gegenlicht, mitunter auch im Schneegestöber.
Menschen befinden sich zumeist im Vordergrund, häufig ins Gespräch vertieft, während der oft einer Theaterkulisse ähnelnde, gestaffelte Hintergrund von Wellen, Möwenschwärmen, Brücken, Wasserfahrzeugen und schließlich den elegant nach oben ragenden Minaretten gebildet wird. Für die türkische Fotografie ist Güler, das „Auge von Istanbul“ vielleicht das, was Walker Evans oder Robert Frank für die amerikanische sind: eine Referenzfigur, die man entweder verehren oder an der man sich abarbeiten kann.
Seine Bilder sind weniger Schnappschüsse als im Augenblick der Aufnahme schockgefrorene Geschichten – oftmals voller Wehmut und Melancholie erzählt. Zu Ara Gülers vielen Schriftsteller-freunden zählt auch der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der als Gründer des „Museum of Innocence“ das kulturelle Erbe der Stadt auf ganz andere, aber ebenso berührende Art und Weise bewahrt.
Pamuk: „Ara Gülers größtes Verdienst ist es, für viele Millionen Menschen den visuellen Erinnerungsschatz dieser Stadt, all ihren Reichtum und ihre Poesie konserviert zu haben. Jedesmal wenn ich seine Bilder betrachte, würde ich am liebsten zu meinem Schreibtisch eilen und sofort damit anfangen, über die Stadt zu schreiben.“
Dieser lebenden Legende gegenübergestellt sind die großformatigen Farbaufnahmen des jungen türkisch-nieder-ländischen Fotografen Ahmet Polat. Ein gigantischer Swimmingpool voller gelangweilter Neureicher, umgeben von schier endlosen Hochhausfassaden und Kränen im neuen In-Stadtteil „Mashattan“. Multikulti in der U-Bahn. Perfekt gestylte männliche Fashionmodels. Graffiti, die coole Rapper zeigen – und davor eine Frau im Tschador.
Ausgelassenes Partyvolk auf dem Taksim-Platz und die dekadenten Feste der Superreichen hinter verschlossenen Türen. Polat zeigt uns Istanbul, so wie man es als westlicher Besucher heutzutage erlebt: bunt, selbstverliebt, konsumorientiert und manchmal ein wenig oberflächlich. Jeder Zweite hält ein Handy am Ohr oder ist sonst irgendwie geschäftig. Das tiefschürfende Gespräch unter Freunden, zu dem Ara Gülers auf einfachen Holzschemeln sitzende Alltagsphilosophen ganz offenbar noch in der Lage waren – längst passé.
Konsequent in Serien arbeitet Ali Taptık. Seine überwiegend dunkeltonigen, partienweise stark farbgesättigten Aufnahmen zeigen menschenleere Räume, abgestellten Sperrmüll auf dem Bürgersteig, einen Stapel Brennholz, die durchlöcherte Plane, in die ein Abbruchhaus gehüllt ist, eine frisch geschlachtete Kuh oder abgegessene Teller auf einem Tablett. Dann aber auch wieder Menschen: Ein jüngerer Mann zeigt die Narbe auf seinem Unterleib, von einem älteren ist nur der massige, mit EKG-Elektroden versehene Oberkörper zu sehen, eine junge Frau verbirgt ihr Gesicht unter ihren langen Haaren.
Einige Aufnahmen erinnern an die eher konzeptuell agierenden Klassiker der amerikanischen Farbfotografie wie Stephen Shore oder William Eggleston, andere an die viel subjektivere Ästhetik jüngerer Fotografen wie Wolfgang Tillmans oder Jürgen Teller. „Ich laufe häufig durch die Stadt, da kommt es immer wieder zu Begegnungen mit ganz normalen Menschen, ihren Träumen und ihren Alpträumen. Ich lasse mich darauf ein, ich danke und verzeihe ihnen dafür. Das hilft mir, mit meiner eigenen Einsamkeit und Langeweile klarzukommen.
Dafür, dass ich Bilder auf der Straße mache, wurde und werde ich immer wieder angegriffen. Andererseits bedanken sich die Leute auch bei mir. Die Tatsache, dass wir – ich meine mich selbst und meine Mitbürger – es immer noch nicht hingekriegt haben, diese Stadt auf eine moderne und erträgliche Art und Weise zu bewohnen, macht es umso interessanter. Ich habe Architektur studiert. Daher denke ich ständig darüber nach, was wir Neues schaffen und was wir zerstören. Was mich auch beschäftigt, sind die vielen Beziehungen, die zerstört werden. Enge Freunde werden auseinandergerissen in dieser Stadt, die größer und größer wird.“
Gegen Ende des Ausstellungsrundgangs ist Sophie Calles 2011 entstandene Videoinstallation „Voir la mer“ zu sehen. Die französische Künstlerin hat in der Enge der Istanbuler Stadtviertel erwachsene Menschen ausfindig gemacht, die nie zuvor das Meer gesehen hatten. Sophie Calle hat sie mitgenommen und ihnen den Strand, die Brandung und den endlosen Horizont gezeigt.
Ihr ungläubiges Staunen, ihre Freude, aber auch ihre Trauer über das ihnen so lange Vorenthaltene sind in den Gesichtern ablesbar. Von nun an wissen auch sie: Nur eine Stunde Autofahrt entfernt gibt es außerhalb des Molochs Istanbul etwas Ewiges, das nicht der ständigen Veränderung, den Abrissbaggern und den Investoren unterworfen ist. Calles Arbeit ist vielleicht die poetischste und unvergänglichste Liebeserklärung an diese Stadt im permanenten Wandel.
Auf einen Blick
Ausstellung: Imagine Istanbul
Ort: Bozar, Brüssel
Zeit: bis 24. Januar 2016. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr. 24.12. und 31.12. nur bis 16 Uhr geöffnet. 25.12. und 1.1. geschlossen
Katalog: Edition Lannoo, vier Bände im Schuber, 240 S., 45 Euro
Internet: www.bozar.be