Weit mehr als Blüten, Kringel und Girlanden: Dass die Jugendstilbewegung den Alltag nicht nur mit ornamentalem Zierrat sondern auch mit sozialen Utopien bereicherte, zeigt jetzt eine opulent bestückte Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
Hamburg. Kreative Gestaltung als Mittel der Weltverbesserung. Wenn das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) nun die Epoche des Jugendstils aufgreift und einer gründlichen Revision unterzieht, so geht es nicht nur darum, kunsthistorisch bedeutsame Exponate etwa von Gustav Klimt, Alfons Mucha oder Henry van de Velde in einer gefälligen Präsentation zusammenzutragen. Das ist zuvor andernorts und auch im MKG oft genug geschehen.
Die Ausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ hingegen wagt sich an wesentlich grundlegendere Fragestellungen heran. Ähnlich wie heute ging es angesichts enormer technologischer und gesellschaftlicher Umwälzungen auch um 1900 um die elementare Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben?“.
Das MKG nimmt die Sonderausstellung aber auch zum Anlass, seine ständige Jugendstil-Sammlung komplett neu aufzustellen. In deren Zentrum steht ab jetzt der einem bewohnbaren Ensemble gleichende „Pariser Saal“, der all die Objekte zusammenführt, die der Gründungsdirektor des Hauses, Justus Brinkmann, mit großer visionärer Kraft bereits 1900 auf der Pariser Weltausstellung erwarb, darunter Möbel und Vasen, aber zum Beispiel auch ausgefallene Schmuckkämme von René Lalique. Zwei weitere Themenräume sind den Städten Turin und Glasgow gewidmet mit Designern wie Carlo Bugatti und Charles Rennie Mackintosh, zwei Kraftzentren des neuen Stils.
Über 350 Werke, darunter Gemälde, Skulpturen, Arbeiten auf Papier, Plakatkunst, Mode und Keramik versammelt das Ausstellungsprojekt. Neben kunsthistorisch wertvollen Exponaten wie Gemälden von Ferdinand Hodler oder Paula Modersohn-Becker, Plakaten von Henri de Toulouse-Lautrec oder Wohnaccessoires aus der berühmten Wiener Werkstätte sind auch historische Filme, naturwissenschaftliche und medizin-historische Apparaturen und Modelle zu sehen. Die Epoche um 1900 zeichnete sich eben nicht nur durch das Aufkommen einer neuen Ästhetik aus. Diese nahm im England der Arts-and-Crafts- Bewegung ihren Lauf auf, um sich dann unter Bezeichnungen wie Jugendstil, Sezessionsstil, Art nouveau oder Modernisme im kontinentalen Europa auszubreiten und zu diversifizieren.
Parallel zur ästhetischen Umwälzung gab es auch eine Vielzahl naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Neuerungen, wie etwa die umfassende Elektrifizierung. Die Evolutionstheorie setzte ebenso neue Akzente wie die Psychoanalyse, die plötzlich den Menschen mit all seinen geheimen Ängsten, Träumen und Trieben auf den Prüfstand stellte. In der Medizin ermöglichte die Röntgentechnologie vollkommen neue Einblicke in den menschlichen Körper. Und vielerorts entstanden reformerische Lebensgemeinschaften, etwa auf dem Monte Veritá am schweizerischen Ufer des Lago Maggiore wo Lebensreformer, Naturisten, Pazifisten, Ausdruckstänzer und Künstler aus ganz Europa versuchten, die Fesseln der patriarchal und militaristisch geprägten Ordnung ihrer Heimatländer abzustreifen. Sabine Schulze, die Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe: „Das Individuum wurde ernst genommen mit seinen psychischen Befindlichkeiten und seinem körperlichen Wohlergehen. Flucht aus der Zivilisation, die Körper und Geist in Regeln zwingt, führte in ferne Länder, in die Berge, in die Natur. Das Kind in seiner Unschuld wurde Hoffnungsträger einer auf das Wesentliche konzentrierten Gemeinschaft, gleichzeitig werden Bildungschancen entwickelt.“
Die Hamburger Ausstellung greift all diese Impulse auf, indem sie den Besucher anhand zahlreicher, teils extravaganter Exponate mitnimmt in Künstlerkolonien wie die Darmstädter Mathildenhöhe oder ihn mit den sehr konträren Visionen und Gedankenwelten von Karl Marx und Friedrich Nietzsche konfrontiert. Eine Entdeckung ist auch die Pariser „Lichtfee“ Loïe Fuller, die um 1900 eine Art Pop-Idol war. Aus dem engen Kontakt zu Erfindern wie Thomas Edison oder dem Ehepaar Curie entwickelte die Tanzkünstlerin schleierartige Gewänder, die mit strahlenden Stoffen wie Radium benetzt waren und ihr auf der dunklen Bühne eine faszinierende Aura verliehen.
Auf einen Blick
Ausstellung: Jugendstil. Die Große Utopie
Ort: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Zeit: 17. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016. Di-So 10-18 Uhr
Do 10-21 Uhr, Heiligabend und Silvester geschlossen
Katalog: Eigenverlag des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, 208 S., über 200 farbige Abb., 24,90 Euro
Internet: www.mkg-hamburg.de