Die belgische Stadt dreht zum Jahresende noch einmal voll auf: Gerade konnte die europäische Kulturhauptstadt 2015 die zweimillionste Besucherin begrüßen. Spannende Ausstellungen lohnen auch über den Jahreswechsel hinaus noch einen Kurztrip in die Wallonie.
Mons. Das belgische Mons galt bis vor kurzem noch als staubige, graue Stadt in der französischsprachigen Wallonie. Rund 150 Jahre prägte der Bergbau das raue Leben der knapp 100.000 Einwohner. Fast so wie in Émile Zolas naturalistischem Roman „Germinal“. Doch ähnlich wie im Ruhrgebiet hat der Strukturwandel auch hier vieles zum Positiven verändert. Dass Mons auch ganz andere Seiten hat, stellt die Stadt bereits seit Anfang des Jahres als europäische Kulturhauptstadt 2015 mit einer Vielzahl von Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen, Konzerten und anderen Veranstaltungen unter Beweis. Fünf neue Museen sind in diesem Jahr eröffnet worden. Dazu zählt auch der frisch restaurierte, frei stehende Belfried mit seinem beeindruckenden Glockenspiel.
Einen längeren – wenn auch unfreiwilligen – Zwischenstopp legte auch der für seine ebenso klangvollen wie melancholisch-morbiden Gedichte bekannte französische Lyriker Paul Verlaine (1844-1896) in Mons ein. Und zwar in der Zelle 252 des dortigen Gefängnisses. Paul Verlaine und sein Dichterkollege Arthur Rimbaud (1854-1891) führten eine homosexuelle Beziehung. Im Jahr 1873 kam es in Brüssel zu einem unerbittlichen Streit, in dessen Verlauf der zehn Jahre ältere Verlaine seinem Freund mit einer Pistole in die Hand schoss. Daraufhin musste er zwei Jahre im Gefängnis in Mons verbringen. Die sehenswerte Ausstellung „Verlaine, Cell 252“ im Beaux-Arts Mons (BAM) arbeitet diese verhängnisvolle Affäre jetzt an Hand von Zeichnungen, Gemälden, Briefen, historischen Fotografien, Manuskripten und anderen Exponaten auf. Zu sehen ist unter anderem der originale Revolver.
Thema der Schau ist aber auch der vergleichsweise moderne Strafvollzug der damaligen Zeit. Das 1867 eröffnete Gefängnis von Mons war eines der ersten mit Einzelzellen in Europa. Von der Geschichte angezogen, machte sich Rock-Legende Patti Smith Mitte Oktober inkognito auf den Weg, die Ausstellung anzusehen und das noch heute in Gebrauch befindliche Gefängnis zu besuchen, in dem Paul Verlaine einst zu literarischen Höchstleistungen auflief. Erst als sie ihren Hit „Because the night“ a cappella sang, bemerkten die Inhaftierten, mit wem sie es zu tun hatten. Im Anschluss an ihren Kurzauftritt schrieb Smith das 98-zeilige Gedicht „98 Wounds“ per Hand auf die Außenmauer des Gefängnisses. Es fügt sich bestens ein in das Projekt „La Phrase“, das die Dichterin und Kuratorin Karelle Ménine zusammen mit dem bekannten Schweizer Grafikdesigner Ruedi Bauer realisiert hat. Entstanden ist das wohl längste Gedicht der Welt. Ein Team von Schildermalern hat das ganze Jahr lang täglich rund 30 neue Meter handgeschriebenen Text an Mauern und Wänden angebracht. Das Endlos-Poem zieht sich jetzt durch die ganze Innenstadt von Mons.
Noch eine weitere interessante Gruppenausstellung hält das BAM bereit. Unter dem Titel „Parade Sauvage“ untersucht die klug zusammengestellte Schau, wie gesellschaftlicher Widerstand seit den 1960er Jahren in neue künstlerische Ausdrucksformen mündet. Ob Hermann Nitsch, Nan Goldin oder Martha Rosler, Rudolf Schwarzkogler, Edward Kienholz oder Marcel Broodthaers – die Liste der ausgestellten Positionen liefert einen Querschnitt durch die jüngere Kunstgeschichte und versammelt Künstler, die sich mit ihrem Körper, ihrem Intellekt oder ihrer konzeptuellen Denkweise gegen eingefahrene Strukturen auflehnen.
Zum historischen Narrativ von Mons gehören allerdings auch der heilige Georg und dessen Kampf gegen den Drachen. Ein tagelanges Volksfest namens „Doudou“ mit Kostümen und stilisierten Kampfdarbietungen gehört hier jedes Jahr im Mai zu den Höhepunkten des Jahresablaufs, so wie anderswo der Karneval. Der mythische Kampf Georgs mit dem Fabeltier, der den Sieg über das Böse in der Welt verkörpert, steht auch im Zentrum der beeindruckenden Ausstellung „L’Homme, le Dragon et la Mort. La Gloire de saint Georges“, die die beiden Kuratoren Laurent Busine und Manfred Sellink im Musée des Arts Contemporains au Grand-Hornu (MAC) zusammengestellt haben. Ungewöhnliche Leihgaben aus vielen Kirchen und Museen illustrieren den Kult um den heiligen Georg in der christlichen Welt und zeigen auf, wie der heroische Kampf des Menschen gegen das Böse in der Welt verschiedene Facetten annehmen kann. Die Ausstellung legt einen Fokus auf das 16. Jahrhundert mit teils weltberühmten Leihgaben aus dem Louvre, den Uffizien oder den Staatlichen Museen in Berlin. Zu sehen sind aber auch selten gezeigte, teils aus kleinen Dorfkirchen stammende, anonyme Georgs-Skulpturen, die die beiden belgischen Kuratoren während einer vier Jahre dauernden Vorbereitungszeit entdeckt haben. Die Schau ist jedoch auch mit zeitgenössischen, zum Teil neu entstandenen Arbeiten von Künstlern wie Giuseppe Penone, Angel Vergara Santiago, David Claerbout oder Luc Tuymans unterfüttert.
Das MAC befindet sich im ehemaligen Bergbaukomplex „Le Grand-Hornu“, der zwischen 1810 und 1830 von dem Industriellen Henri De Gorge im klassizistischen Stil errichtet wurde. Der Betrieb wurde 1954 geschlossen und war bereits zum Abriss freigegeben. Erst durch das Engagement des lokalen Architekten Henri Guchez wurde 1971 die Renovierung des weitläufigen Komplexes eingeleitet. Heute ist die ehemalige Industriestätte, die mit ihren großen Freiflächen und Arkadengängen aussieht, als wäre sie der Fantasie Giorgio de Chiricos entsprungen, das Ziel vieler Touristen.
Ein anderer Ausflug lohnt sich ebenfalls. 40 km von Mons entfernt befindet sich die graue Industriestadt Charleroi, seit der Schließung der dortigen Zechen und Stahlwerke eine der ärmsten Städte Belgiens. Umso beachtlicher, dass sich in Charleroi eines der wichtigsten Fotomuseen in Europa befindet, untergebracht in einem ehemaligen Kloster. Im Rahmen von Mons 2015 ist hier zur Zeit eine Ausstellung des belgischen Fotografen Stephan Vanfleteren mit dem schlichten Titel „Charleroi“ zu sehen. Die melancholischen Schwarz-Weiß-Fotografien des 46-Jährigen zeigen die düstere Seite der Bergbaustadt in frappierender Schönheit: dunkle Straßenecken, ausgestorbene Gassen, verrammelte Geschäfte, aber auch Porträts von streunenden Jugendlichen oder Kneipengängern. Ein unter die Haut gehendes Porträt von Charleroi ganz im sozialdokumentarischen Stil der schweizerisch-amerikanischen Foto-Legende Robert Frank.
Ebenfalls in Charleroi, in einem ehemaligen, hallenartigen Berufsschulgebäude, befindet sich das Musée d’Art de la Province de Hainaut (BPS 22). Hier wird im Rahmen von Mons 2015 die Ausstellung „Les Mondes Inversés. Contemporary Art and Popular Culture“ gezeigt. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf eine englische Folk-Ballade aus dem Jahr 1646. Es geht in der international besetzten Gruppenschau um volksnahe Ästhetiken, Rituale und Gesellschaftsformen. Werke von Ulla von Brandenburg, Carsten Höller, Kendell Geers, Yinka Shonibare, Marina Abramovic oder Gert & Uwe Tobias fügen sich in der großen offenen Hallenarchitektur zu einem großen Parcours mit vielen wechselseitigen Beziehungen.
Ein ganz besonderes Museum in Mons stellt das 2015 wiedereröffnete Mundaneum dar. Es basiert auf dem 1889 gegründeten Zettelkastenarchiv der Forscher Paul Otlet und Henri La Fontaine. Die beiden haben ein System der enzyklopädischen Wissenserforschung mittels Karteikartensystemen entwickelt. Im Mundaneum sind diese original Karteikästen erhalten, die sich auf mehreren Etagen an den Wänden befinden. Das Mundaneum stellt eine frühe Form der Wissensvernetzung lange vor Google und Wikipedia dar. Die Gewichtung von Wissen, das Vernetzen durch Schlagworte und die Kategorisierung von Forschungsfeldern sind im Mundaneum ablesbar.
Yves Vasseur, der künstlerische Leiter von Mons 2015, kann am Silvesterabend auf ein erfolgreiches Jahr mit deutlich mehr als zwei Millionen Besuchern zurückblicken. Nur ein Wermutstropfen bleibt: Das Projekt, den Hauptbahnhof von Mons durch den spanischen Star-Architekten Santiago Calatrava neu bauen zu lassen, konnte nicht pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr abgeschlossen werden. Eine Gelegenheit also, Mons demnächst wieder einmal zu besuchen, wenn dann auch dieses architektonische Highlight zum Abschluss gebracht sein wird.
Auf einen Blick
Verlaine Cell 252 und Parade Sauvage, Beaux-Arts Mons (BAM), beide bis 24.1.2016, www.bam.mons.be
L’Homme, le Dragon et la Mort. La Gloire de saint Georges, Musée des Arts Contemporains au Grand-Hornu (MAC), bis 17. Januar 2016, www.mac-s.be
Stephan Vanfleteren: Charleroi, Musée de la Photographie, bis 6. Dezember 2015, www.museephoto.be
Le Mondes inversés, BPS 22, Musée d‘ Art de la Province de Hainaut, bis 31. Januar 2016, www.bps22.be
www.mons2015.eu