Premiere in Belgien: Die Ausstellung „Drawing. The Bottom Line“ im S.M.A.K. in Gent versammelt jetzt Werke von 53 Künstlern, die sich der Zeichenkunst verschrieben haben. Es ist die bisher größte Zeichnungsausstellung in unserem eher malereibegeisterten Nachbarland.
Ein Blatt Papier, ein Stift, ein paar gekonnte Handbewegungen. Die Kunst des Zeichnens fasziniert seit Jahrtausenden die Menschen. Bereits um 40.000 vor Christus entstanden die ersten Höhlenmalereien in der El-Castillo-Höhle in Spanien. Heute ist die Zeichenkunst eine etablierte Kunstgattung. Die Kupferstichkabinette der Museen im deutschsprachigen Raum sind voll mit Mappenwerken, Skizzen, feinen Handzeichnungen und Vorzeichnungen für große Gemälde. In Belgien jedoch wurde dieses Medium lange Zeit weitgehend ignoriert oder führte zumindest ein Nischendasein. Ikonografisch dichte Gemälde galten im Land der manischen Sammler eben mehr als filigrane Arbeiten auf Papier. Doch auch hier interessiert man sich neuerdings für die Gattung der Zeichnung und will mit alten Vorurteilen aufräumen.
Im 1999 von Jan Hoet gegründeten S.M.A.K. (Stedelijk Museum voor Actuele Kunst) in Gent läuft noch bis Ende Januar die Ausstellung „Drawing. The Bottom Line“ mit Zeichnungen von 53 internationalen zeitgenösssischen Künstlern. „Die Ausstellung heißt: »The Bottom Line«“, erläutert der aus Deutschland stammende Kurator Martin Germann, der die sehenswerte Schau zusammen mit dem Direktor des S.M.A.K., Philippe Van Cauteren, entwickelt hat. „Das ist ein geflügeltes Wort in Belgien für das Abfällige, das, was am Ende eines Tages stehen bleibt.“
Etwas, das übrig bleibt, das aber dennoch von Bedeutung ist und vielleicht zum Wesentlichen im Werk des jeweiligen Künstlers vordringt. „Es geht in der Ausstellung eher darum, was die Praxis der Zeichnung ausmacht“, stellt Martin Germann klar. „Es geht uns nicht so sehr um das Endprodukt. Wir glauben, dass Kunst und Verbildlichung mit der Zeichnung anfangen.“
Dennoch, in ihrem Katalogessay stellen Germann und Van Cauteren fest: „Der Status der Zeichnung bleibt prekär; im Wettbewerb mit anderen Medien bleibt sie der underdog, der verarmte, aber immer noch elegante Parasit, ohne großes Gewicht, aber in einem permanenten Zustand der Metamorphose. Diese Offenheit und Flexibilität lassen sich auf ihren spontanen Charakter zurückführen, und deshalb ist Zeichnung auch nie zeitlos: nicht nur aufgrund ihrer Unkompliziertheit, welche es ihr erlaubt, sich von den tosenden Wogen des Kunstmarktes fernzuhalten, sondern auch aufgrund ihrer Möglichkeiten: Zeichnung ist wie geschaffen dafür, Zeitgenossenschaft in Bilder umzusetzen.“
So versammelt die Schau etwa hintergründige Text-Bild-Arbeiten aus der Serie „Smart Quotations“ der Italienerin Monica Bonvicini, comicartige Zeichnungen mit ironisch gebrochenen Textbotschaften des kalifornischen Künstlers Raymond Pettibon oder mit Bienenwachs fixierte, bizarr-groteske Zeichnungen der in Berlin lebenden Chilenin Sandra Vásques de la Horra.
„Die Ausstellung ist wie ein Archipel aus größeren und kleineren Inseln. Sie wirkt zunächst heterogen, bildet aber am Ende eine Einheit“, so Germann. Die Genter Zeichnungsschau ist international angelegt, doch einige belgische Vorzeigekünstler dürfen natürlich nicht fehlen. So ist der international hoch geschätzte Belgier Michaël Borremans mit einer neuen, skizzenhaften Serie mit dem Titel „Sculptural Installation for Abandoned Airports“ vertreten. Borremans untersucht hier die Beziehung zwischen der menschlichen Figur und der Architektur in zurückhaltend feinfühliger, poetischer Art und Weise.
Der 1957 in den Niederlanden geborene, jedoch in Brüssel lebende Henri Jacobs hingegen zeigt in konzeptueller Methodik entstandene, geometrische Zeichnungen in minimalistischer Formensprache. Ebenfalls in den Niederlanden geboren ist sein Kollege Mark Manders, Jahrgang 1968, der eine Stunde entfernt von Gent in Roense ein imposantes Studio unterhält. Das Künstleratelier ist auch das Thema seiner detailreichen Installation für die Ausstellung im S.M.A.K.. Manders begreift das dreidimensionale und von den Besuchern betretbare Setting eines fiktiven Studios als räumlich definierte Zeichnung. Eine ähnliche Übertragung der Zeichnung jenseits vom klassischen Skizzenblock hin zum Museumsraum nimmt auch der Berliner Künstler Julian Göthe vor. Der ausgebildete Animationsfilm-Designer hat mit Gummiseilen eine raumspezifische, bühnenartige Wandarbeit für das Foyer des S.M.A.K. realisiert.
Der politisch agierende, heute in Mexico City beheimatete belgische Konzeptkünstler Francis Alÿs hingegen ist mit seiner brisanten Arbeit „The Green Line“ aus dem Jahr 2004 vertreten. Er dokumentierte fotografisch, wie er mit einem Eimer grüner Farbe die Demarkationslinie zwischen dem jüdischen und palästinensichen Jerusalem markierte. Spektakulär auch die Arbeit des 1971 in Algerien geborenen und in Paris lebenden Adel Abdessemed.
Für sein 2009 entstandenes Video „Enter the Circle“ ließ er sich kopfüber von einem Hubschrauber herabhängen und bemühte sich dabei, mit schwarzer Farbe möglichst exakte Kreise auf quadratische Holzpaneele, die auf einem Feld lagen, zu zeichnen. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod. Und für Abdessemed, der in seiner Kunst immer wieder auf den religiösen Fanatismus unserer Tage zu sprechen kommt, sicherlich auch eine Metapher für das zum Scheitern verurteilte Experiment, so etwas wie Einheit unter Feinden herzustellen.
„Wir leben in einem permanenten Ausnahmezustand“, die Kernaussage, die der italienische Philosoph Giorgio Agamben bereits 1995 in seinem Hauptwerk „Homo sacer“ getroffen hat, steht wie ein stilles Motto über vielen Arbeiten dieser Ausstellung.
„Die ganze Ausstellung changiert zwischen dem Poetischen und dem Politischen“, erläutert auch Kurator Martin Germann. Eine Entdeckung sind die 110 tagebuchartigen, außerordentlich dichten Zeichnungen des Irakers Salam Atta Sabri, Jahrgang 1953, aus der Serie „Letters from Bagdad“. Sie verbinden Autobiografisches, den Krieg und den internationalen Kunstbetrieb auf eine eigentümliche und anrührende Art und Weise.
Ein Beispiel für eine sehr poetische, feine und konzeptuelle Herangehensweise an die Kunst des Zeichnens hingegen liefert die 1960 geborene Belgierin Edith Dekyndt. In ihrem Video „Dead Sea Drawings“ hält sie weiße Papierblätter in das Tote Meer und erzielt somit den Effekt, dass Wellen und Salzkristalle feine, zirkelhafte Linien auf dem nassen Blatt in Form einer kaum sichtbaren Zeichenstruktur hinterlassen.
Streng konzeptuell in seiner Zeichenkunst geht auch der 1933 geborene US-Amerikaner William Anastasi vor. Seine abstrakten Zeichnungen entstehen an verschiedenen Orten und in bestimmten, klar definierten Zeiträumen: in der Subway, im Theater oder im Taxi. Der im Jahr 2000 verstorbene New Yorker Mark Lombardi hingegen hat ein komplexes Diagramm mit globalen Verflechtungen im Finanzwesen und in der Politik erstellt, das als konzeptuelles Soziogramm – lange vor Edward Snowdon und Julian Assange – das Prinzip der Enttarnung künstlerisch veranschaulicht.
Subjektivismus pur: Der 1954 geborene Belgier Thierry de Cordier wiederum entwickelt in seinen überbordenden Schriftbildern eine komplexe Bildsprache, die sich aus einer fast manischen Haltung erklären lässt und sich als individuelle Bildschöpfung in extremer Dichte und Tiefe behaupten kann. Im S.M.A.K. zeigt er „Tenthousand Definitions of God“, einen obsessiven Hybrid aus Schrift und Zeichnung in melancholisch dunkelblauer Tonalität.
„Dies ist die erste große museale Zeichnungsausstellung in Belgien“, stellt Martin Germann klar. Kraftvoll und ausdruckstark, heterogen und subjektiv, fragil und poetisch, intellektuell aufgeladen oder politisch motiviert kommen die ausgewählten Arbeiten der 53 Künstler daher. Wer dann noch nicht genug vom Medium Zeichnung hat, sollte noch kurz gegenüber im Museum voor Schone Kunsten vorbeischauen.
Auch dort gibt es noch bis zum 5. März 2016 die perfekt auf die Räume zugeschnittene, konzentrierte Zeichnungsausstellung „Lines of Tangency“ mit Werken von Sarah Sze, Aslan Gaisumov, Monika Grzymalla und vielen anderen. Der Weg nach Gent lohnt sich also gleich doppelt.
Auf einen Blick
Ausstellung: Drawing. The Bottom Line
Ort: Stedelijk Museum voor Actuele Kunst (S.M.A.K.), Gent, Belgien
Zeit: bis 31.1.2015, Di-So 10-18 Uhr
Katalog: Mercatorfonds, 240 S., xx Euro
Internet: www.smak.be