Wunderkammer der Produktgestaltung: Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe erlaubt faszinierende Einblicke in die Alltagsdesign-Sammlung des Schweizer Produktgestalters und Designers Franco Clivio.
Sie finden sich massenhaft in unseren Küchenschubladen, Nähkästchen, Werkzeugkisten oder Schreibtischablagen. Manche davon tragen wir ständig in der Hosentasche mit uns herum, andere haben wir längst in alten Blechdosen oder Schuhkartons zu einem ewigen Schattendasein verurteilt. Die Rede ist von den unzähligen kleinen Dingen, die uns in unserem Alltag umgeben: Scheren, Taschenmesser, Feuerzeuge, Stifte aller Art, Zangen, Korkenzieher, Brieföffner, Anspitzer, Zollstöcke, Lineale, Pinsel, abgelegte Brillen, Haken, Schnallen und Ösen und was sich sonst noch so – womöglich über Generationen – in einem Haushalt angesammelt hat, um entweder regelmäßig, ganz selten oder gar nie zum Einsatz zu kommen.
Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat die Magie, die von solcherlei unscheinbaren Utensilien ausgeht, in ihrem Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ beschrieben und dafür 1997 den renommierten Booker Prize erhalten. Und auch ihr türkischer Kollege, der Literaturnobel-preisträger Orhan Pamuk, erliegt dem poetischen Zauber des vermeintlichen Krimskrams. Er hat den kleinen Objekten mit seinem „Museum der Unschuld“ in Istanbul sogar einen eigenen Ort geschaffen.
Auch den Schweizer Produktgestalter, Designer und Sammler Franco Clivio, Jahrgang 1942, kann man zweifellos zu den ganz großen Liebhabern der kleinen Dinge zählen. Er trägt seit seiner Jugend auf Flohmärkten, in Trödelläden oder Eisenwarenhandlungen Gegenstände zusammen, die ihn aufgrund ihrer durchdachten Form, ihrer technischen Raffinesse oder ganz einfach ihrer frappanten Schlichtheit faszinieren. Wer sie einst entworfen hat, das bleibt meist ungeklärt.
Rund 1000 dieser zumeist kleinen Objekte präsentiert jetzt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe in der detailverliebten Ausstellung „No Name Design“. Die in 29 Kapitel gegliederte Schau entfaltet in sechs großen Vitrinen eine nahezu enzyklopädische Vielfalt. Der Hamburger Fotograf und Co-Kurator der Ausstellung Hans Hansen hat Objekt für Objekt minutiös arrangiert. So sind etwa 17 verschiedene Taschenmesser mit 17 verschiedenen Öffnungsarten zu sehen.
Clivio ist unter anderem für bekannte Premiummarken wie Erco-Lichttechnik, Lamy, Rodenstock oder Siemens tätig. Die Kriterien für seine Auswahl beschreibt er so: „Es sind alles Dinge, die ich immer wieder gerne ansehe, die neben ihren ästhetischen, funktionalen und konstruktiven Qualitäten eine große poetische Kraft haben und eine beinahe zeitlose Vollkommenheit ausstrahlen.“
Für ihn, der sich als permanenten Sucher und Finder bezeichnet, geht es aber nicht einfach nur darum, möglichst viele originelle Dinge zusammenzutragen. Seine Sammlung dient ihm vor allem auch als tagtägliche Inspirationsquelle für die eigene Entwurfsarbeit. Ebenso benutzt er sie als Anschauungsmaterial für seine Studenten. Was lässt sich aus einem so billigen und universell verfügbaren Material wie Draht nicht alles herstellen? Die entsprechende Vitrine zeigt es: Vom Topfuntersetzer über den Drahtkleiderbügel bis hin zum Quirl und der Sprungfeder.
Welche Aha-Effekte lösen so simple Dinge wie eine Wäscheklammer oder ein Lockenwickler beim Entwerfen etwa von Schreibgeräten oder Beleuchtungsanlagen aus? Und wie können wir von der Natur lernen? Von der Spanholzschachtel der nordamerikanischen Shaker-Bewegung über asiatische Bambusgerätschaften bis hin zum hölzernen Stopfei unserer Großmütter reicht hier das Spektrum. In einer Vitrine aber hat Clivio ausschließlich seine Lieblingsstücke arrangiert. Darunter ein purzelbaumschlagender Schimpanse aus Blech, ein perfekter Austernhandschuh aus feinstem Edelstahlgeflecht und eine innovative Gartenschaufel der Firma Wilkinson aus den Sixties.
Diese schön inszenierte Ausstellung öffnet unseren Blick und unser Denken für das oft übersehene Unbekannte, das für ästhetisch geschulte Betrachter jedoch in manchen Momenten die ganze Welt verkörpern kann.
Auf einen Blick
Ausstellung: No Name Design
Ort: Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
Zeit: 11. Dezember 2015 bis 3. April 2016. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr. Do an und vor Feiertagen 10-18 Uhr. Heiligabend und Silvester geschlossen. 1. und 2. Weihnachtstag und Neujahr 12-18 Uhr. Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag 10-18 Uhr
Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein zwölf Meter langes Leporello mit Abbildungen und Beschreibungen der gezeigten Objekte zum Preis von 50 Euro, außerdem ein Plakat mit etwa 300 Dingen und Produktbeschreibungen zum Preis von 30 Euro
Internet: www.mkg-hamburg.de
www.francoclivio.com