Less is more: Auch an ihrer neuen Location, dem citynahen ehemaligen Zolllager Tour & Taxis, behauptet sich die um 50 Galerien geschrumpfte Art Brussels als wichtige europäische Messe für Neu- und Wiederentdeckungen. Was der Messe guttut: Die scheidende künstlerische Direktorin Katerina Gregos hat der Verkaufsschau einmal mehr einen kuratorischen Stempel aufgedrückt. Kommerzielle und nichtkommerzielle künstlerische Praxis gehen in Brüssel Hand in Hand.
Brüssel. Man trifft sich auf der Sing-Sing-Plattform. Auf der 34. Ausgabe der Art Brussels hat die Genter Kunsthochschule HISK eine kuratierte Karaoke-Bühne gleich neben dem beliebten Hamburger-Stand auf der sonnigen Bierterrasse errichtet. Hier ertönen schmalzige Liebeslieder in verschiedenen Sprachen. Der Text läuft mit, und zwei Darsteller untermalen in emotionalen Gesten den Sound. Ausgedacht hat sich das Ganze der Künstler Frederic Van Simaey. Wer mitmachen möchte, ist im Übrigen herzlich eingeladen. Eine pfiffige Abwechslung im geschäftigen Messealltag. Gleich am ersten Tag der Messe hat sich die quirlige „The Belgium Beer Terrace“ zum inoffiziellen Hot Spot der diesjährigen Art Brussels entwickelt.
Die neue Location der Traditionsmesse sorgt für Gesprächsstoff. Das zentrumsnahe Tour & Taxis-Gebäude, ein 1904 errichtetes ehemaliges Zolllager, bietet in historischen Lagerhallen mit großflächigen Sheddächern viel Tageslicht und den Charme einer postindustriellen Kulisse. Ein wenig erinnert die neue Location an die Station Berlin, dem denkmalgeschützten Postbahnhof am Gleisdreieck, wo jedes Jahr im September die ABC stattfindet. 141 Galerien aus 28 Ländern sind dieses Jahr nach Brüssel gekommen. Die Teilnehmerzahl wurde gegenüber der früheren Location auf dem Messegelände am Heysel-Stadion um 50 Galerien reduziert. Die Standpreise erhöhten sich durch diese das Profil schärfende Maßnahme allerdings auch um rund 30 Prozent. Die Messe teilt sich auf in drei große Bereiche: Discovery für die ganz jungen Positionen, Prime für Mid-Career-Artists und bereits etabliertere Namen und erstmals in diesem Jahr Rediscovery. In diesem Sektor sind 14 Galerien vertreten. Sie zeigen Kunst, die zwischen 1917 und 1987 enstanden ist, in erster Linie Vertreter historischer Avantgarden, die lange Zeit unterbewertet, übersehen oder zu Unrecht vergessen wurden. Gleich 24 Galerien sind zudem mit Solo-Präsentationen angereist. Besonders stolz ist die Messeleitung auch auf die diesjährige Sonderausstellung „Cabinet d’Amis: The Accidental Collection of Jan Hoet“. Die künstlerische Direktorin der Messe, Katerina Gregos, hat dafür in enger Zusammenarbeit mit der Familie aus der rund 500 Positionen umfassenden Privatsammlung des international bekannten belgischen Kurators und Documenta-IX-Leiters und Gründers des Genter Museums für zeitgenössische Kunst S.M.A.K., Jan Hoet (1936-2014), rund 200 Werke ausgewählt. Für die Ausstellungsarchitektur konnte sie den in Brüssel lebenden Australier Richard Venlet gewinnen, der unter anderem auch für die Biennalen in São Paulo und Sydney arbeitet. Viele der Werke wurden Jan Hoet ausdrücklich von den Künstlern gewidmet und bezeugen so die enge Freundschaft, die er zu Künstlern wie Joseph Beuys, Jimmie Durham, Lawrence Weiner, Marlene Dumas, David Hammons oder Luc Tuymans pflegte. Außerdem zu sehen sind Briefe und Postkarten an Hoet, etwa von James Lee Byars, sowie Skizzenbücher von Panamarenko.
Katerina Gregos will den Blick weiten. Sogenannte „Art-Fair-Art“, also schnell verkäufliche, nur für den Absatz auf Kunstmessen produzierte Werke, interessieren sie nicht: „Viele Kunstmessen beschränken sich auf einen begrenzten Typus von Werken und einen kleinen Ausschnitt künstlerischer Praxis. Die Galerien, die wir auswählen und die Projekte, die diese zeigen, gehen weit über das hinaus, was zur Zeit auf dem Kunstmarkt als »trendy« oder »hot« gilt. Wir wollen einen breit gefächerten Eindruck von dem vermitteln, was in der internationalen Kunstwelt als relevant gilt, und zwar jenseits rein kommerzieller Erwägungen.“ Gregos sieht konzeptuelle, formalistische und minimalistische Positionen auf Kunstmessen überrepräsentiert. Was ihr auf den meisten Messen fehlt, sind Künstler, die im Kontext politischer und postkolonialer Diskurse und Fragestellungen arbeiten oder sich zum Beispiel mit Archiven beschäftigen.
Kunst, die diese Kriterien erfüllt, lässt sich in allen Sektionen der Messe entdecken. So präsentiert zum Beispiel die Galerie Jenkins Johnson aus San Francisco den afroamerikanischen Fotografen, Musiker, Schriftsteller und Bürgerrechtsaktivisten Gordon Parks (1912-2006). Er war der erste afroamerikanische Fotograf, der für das Life-Magazin gearbeitet hat. Als Farbiger erhielt er anders als weiße Fotografen exklusiven Zugang zu Bürgerrechtsbewegungen wie den Black Panthers und konnte so den Lesern des Life-Magazins einen wesentlich authentischeren, nur Insidern vorbehaltenen Einblick in die Bürgerrechtsbewegung liefern. Gleichzeitig sind seine Aufnahmen unter anderem auch von Musikern wie Duke Ellington oder dem Boxer Mohammed Ali von einer hohen fotografischen Qualität, die ihn auf eine Stufe mit Fotografen wie Robert Frank oder Lee Friedlander stellt. Ab 10. September 2016 wird Gordon Parks auch mit einer großen Werkschau bei C|O Berlin zu sehen sein. Die Aufnahmen kosten zwischen 9.000 und 55.000 US$.
Ebenfalls in der Sektion Rediscovery präsentiert die Londoner Galerie Timothy Taylor den mexikanischen Künstler, Designer, Architekten und Urbanisten Eduardo Terrazas, der unter anderem das Logo für die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko entworfen hat. Von dem 1936 geborenen Terrazas sind Arbeiten aus der Serie „Possibilities of a Structure“ zu sehen. Dabei handelt es sich um Textilarbeiten, die aus Garnen in intensiven Farbtönen bestehen, welche, einer alten indianischen Handwerkstradition folgend, in eine Oberfläche aus Bienenwachs gepresst wurden. Die so entstehenden geometrischen Muster wiederum erinnern an Luftaufnahmen von urbanen Strukturen oder landwirtschaftlichen Nutzflächen.
Die Galleria Continua aus San Gimignano hat die wohl kleinste Arbeit der Messe im Angebot. Der für seinen hintergründigen Humor bekannte bulgarische Künstler Nedko Solakov hat ein menschliches Gehirn aus purem Gold nachgebildet. Es misst nur wenige Zentimeter, liegt auf einem weißen Sockel und trägt den Titel „A Shrunken Ego“. Die kleine Skulptur ist für 15.000 Euro im Angebot (Auflage: 3). Ebenfalls am Stand: ein kreisrundes Glasfenster von Daniel Buren aus der Serie „Des Oculi aux Tondi“, das der französische Künstler ursprünglich für das Pariser Kulturzentrum Centquatre geschaffen hat. Das an Stahlketten an der Wand hängende Objekt besteht aus farbigen und tranparenten Glaselementen, die zu geometrischen Patterns angeordnet sind. Der belgische Künstler Hans Op de Beeck war ebenfalls bei Continua mit der naturalistischen Skulptur „Aline II“ aus eingefärbtem Gips, Polyester und Holz für 78.000 Euro vertreten. Sie zeigt eine entspannt auf einem klassischen Sockel liegende junge Frau mit bloßem Oberkörper, neben sich einen Coffee-to-go-Becher und einen gefüllten Aschenbecher.
In der Sektion Discovery zeigt die Galerie Angels aus Barcelona eine Solo-Show der Künstlerin Lúa Coderch. Die 1982 geborene katalanische Künstlerin peruanischen Ursprungs beschäftigt sich mit Erscheinungen und Wahrnehmungsprozessen aller Art. Phänomene aus der Natur faszinieren sie ebenso wie die verblassenden Mythen linker Ideologien oder althergebrachter Technologien, etwa des Plattenspielers. Genaues Hinschauen lohnt sich hier. So hat sie in einem langen Aneignungsprozess mittels handwerklicher Verfahren eine haargenaue Replika des 2011 erschienenen Buchs „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“ des US-amerikanischen Ethnologen und Wirtschaftswissenschaftlers David Graeber nachgebildet. Die penible buchbinderische Arbeit ist gleichzeitig von einem kapitalismuskritischen Ansatz unterlegt. Das von der Buchhandelsausgabe kaum unterscheidbare Unikat ist für 3.630 Euro im Angebot.
Bereits am Vernissagetag der Art Brussels herrschte gute Stimmung. Ein kleiner Wermutstropfen: Die griechischstämmige Kuratorin Katerina Gregos, die vier Mal die künstlerische Leitung der Art Brussels übernommen hatte, zieht sich nach dieser Ausgabe aus dem Messegeschäft wieder zurück, um sich in Zukunft wieder verstärkt ihrer kuratorischen Tätigkeit zu widmen. „Ich komme aus der Welt öffentlicher Institutionen, großer Gruppenausstellungen und Biennalen, und in dieser Welt fühle ich mich auch am wohlsten, auch wenn man als unabhängiger Kurator immer offen für alles sein sollte“, sagte Gregos, die in den letzten Jahren unter andeem die Manifesta in Genk und die 5. Thessaloniki Biennale kuratiert hat, gegenüber dem britischen Observer. Für sie sei es aber das allerwichtigste, mit den Künstlern direkt zu arbeiten. Daraus ziehe man als Kurator die größte Genugtuung.
Noch ist nicht ganz klar, wie es mit der künstlerischen Leitung der Art Brussels weiter geht. Auf jeden Fall will man den eingeschlagenen Weg, die Messe kuratorisch zu denken, fortsetzen, bestätigt Anne Vierstrate, die kaufmännische Direktorin der Messe die Stoßrichtung. In diesem Jahr feierte in Brüssel auch die New Yorker Messe Independent mit ihrem europäischen Ableger Premiere. Dass die Wahl der Amerikaner hierbei auf Brüssel als Standort und nicht etwa auf Berlin oder London fiel, spricht für das gute künstlerische Umfeld, das die Art Brussels in der europäischen Metropole geschaffen hat. Die Galeriendichte und die Attraktivität der Stadt auch für hier ansässige Künstler und Sammler liefern einen guten Nährboden für Kunstmessen wie die Art Brussels und die Independent. In diesem Jahr dürfte sich dieses noch in Synergieeffekten niederschlagen. Die beiden Messen ergänzen sich eher, als dass sie sich Konkurrenz machen. Bleibt zu hoffen, dass es auch in Zukunft so bleibt.
Auf einen Blick
Messe: 34. Art Brussels – From Discovery to Rediscovery
Ort: Tour & Taxis, Avenue du Port 86C Havenlaan, BE-1000 Brussels
Zeit: bis 24. April 2016, 11-19 Uhr
Katalog: 456 S., 30 Euro
Internet: www.artbrussels.com