Orte unter Einfluss: Die Hamburger Kunsthalle zeigt die erste umfangreiche Museumsausstellung des Film- und Videokünstlers Clemens von Wedemeyer. Unter anderem zu sehen: sein dOCUMENTA(13)-Beitrag „Muster“, der 2012 seinen internationalen Durchbruch einleitete
Ein Blick aus der Vogelperspektive auf die Dächer der Hamburger Kunsthalle. Zwischen Altbau und Galerie der Gegenwart liegt die bei Flaneuren und Skatern beliebte Plattform. Im Film „Square“ von Clemens von Wedemeyer formieren sich hier die aus der Höhe wie Ameisen wirkenden Menschen immer wieder zu kleinen Gruppen, um im nächsten Augenblick gleich wieder auseinander-zudriften. Mitunter werden auch einzelne Passanten von kreisförmigen Formationen eingekesselt und bedrängt.
Individuum und Masse konkurrieren miteinander. Überwachungsbilder, Drohnenaufnahmen, Google Earth, Einkesselung und Ausgrenzung – das alles sind Assoziationen, die dem Betrachter auf Anhieb durch den Kopf schießen. Der ganz neu entstandene Film bildet den Auftakt der Einzelausstellung „Orte unter Einfluss“ des 1974 in Göttingen geborenen Teilnehmers der letzten Documenta. Zu sehen sind Filme, Videoarbeiten und Installationen aus den Jahren 2002 bis 2016. Clemens von Wedemeyer studierte zunächst in Bielefeld und später an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, wo er seit 2013 auch selbst Professor ist.
Clemens von Wedemeyer (*1974) Sun Cinema, 2010 (Ausschnitt) Fotografie, C-Print, 30 x 45 cm Courtesy Galerie Jocelyn Wolff, Paris / KOW, Berlin © Clemens von Wedemeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
„In der Ausstellung geht es um Orte, um Machtstrukturen und Geschichte und wie diese zeitlich ineinanderfließen“, betont Petra Röttig, die Kuratorin der Schau. „Und es geht um das Kino als Projektionsfläche.“ Als Clemens von Wedemeyer 2010 zu einem Projekt in die Osttürkei eingeladen wurde, entwickelte er ein Freiluftkino mit einer von hinten verspiegelten Leinwand, auf der sich tagsüber die Sonnenstrahlen brechen. Im Auftrag einer Wiener Bank drehte er in diesem Jahr den 38-minütigen Film „Esiod“, eine Zukunftsvision der Bank im Jahre 2051. Streng durchchoreografiert und mit einem futuristischem Sound unterlegt, geht es hier um die Preisgabe individueller Erinnerungen im Mahlstrom des Digitalen.
Clemens von Wedemeyer (*1974) Esiod, 2015 (2016) HD-Video, 40 min, Videostill Courtesy Galerie Jocelyn Wolff, Paris / KOW, Berlin © Clemens von Wedemeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Die filmischen Arbeiten von Clemens von Wedemeyer gehen oftmals von einem konkreten Ort aus. So steht im Mittelpunkt der dreiteiligen Documenta-Arbeit „Muster“ (2012) das ehemalige Kloster Breitenau bei Kassel. Der Film stellt, parallel erzählt, die drei späteren Nutzungen des geschichtsträchtigen Ortes als NS-Arbeitslager, Erziehungsheim für junge Mädchen und schließlich als Gedenkstätte vor. Leicht konsumierbar ist er allerdings nicht: Um sich die Zusammenhänge zu erschließen, ist der Betrachter gefordert, sich aktiv um die im Dreieck aufgestellten Projektionsflächen herumzubewegen.
Clemens von Wedemeyer (*1974) Muster (Rushes), 2012 HD-Video, 79 min, Videostill Courtesy Galerie Jocelyn Wolff, Paris / KOW, Berlin © Clemens von Wedemeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Bekannt wurde Clemens von Wedemeyer im Jahr 2002 mit der Arbeit „Big Business“. Ausgehend von dem gleichnamigen Laurel & Hardy-Film von 1928 stellt er hier Szenen nach, an deren Ende die Zerstörung eines Hauses steht. Pikanterweise drehte er diesen Film in einem Gefängnis. Parallel dazu sind auf einem Monitor Interviews mit Strafgefangenen und dem Direktor sowie Produktionsfotos zu sehen. „Diese verschiedenen Formate ermöglichen drei Perspektiven auf das Projekt“, so von Wedemeyer.
Clemens von Wedemeyer (*1974) Big Business – Production, 2002 Fotografie, C-Print, 60 x 48 cm Courtesy Galerie Jocelyn Wolff, Paris / KOW, Berlin © Clemens von Wedemeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Der Künstler arbeitet allerdings auch installativ wie etwa in dem Setting „Basel Podest“ (2006), in dem er eine offenbar aus dem Ruder gelaufene Situation in einem Fernsehstudio samt umgeworfener Stühle und blutiger Taschentücher inszeniert. Den Abschluss der ebenso sehenswerten wie nachdenklich stimmenden Schau bildet der Film „Die Probe“ von 2008. Während seine Anhänger vor der Bühne seinen Wahlsieg frenetisch bejubeln, entschließt sich ein Politiker hinter der Bühne, sein Amt gar nicht erst anzutreten. „Man muss sich verweigern“ lautet der Schlüsselsatz dieser Arbeit. Mit seinen politisch und zeitgeschichtlich aufgeladenen, oft aber auch rätselhaften und doppelbödigen Arbeiten gehört Clemens von Wedemeyer ganz sicher zu den spannendsten Vertretern zeitgenössischer Medienkunst in Deutschland.
Clemens von Wedemeyer (*1974) Die Probe (The Test), 2008 HD-Video, 12 min, Loop, Videostill Courtesy Galerie Jocelyn Wolff, Paris / KOW, Berlin © Clemens von Wedemeyer / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Auf einen Blick
Ausstellung: Clemens von Wedemeyer: Orte unter Einfluss
Ort: Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart
Zeit: 30. September 2016 bis 8. Januar 2017, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr, 3. Oktober geöffnet
Katalog: Spector Books, Leipzig, 200 S., 27 Euro
Internet: www.hamburger-kunsthalle.de