Eine Ausstellung mit Biss: Im Kunstverein in Hamburg vermischt die französische Künstlerin Lili Reynaud Dewar feministische Theorie, Hip-Hop-Kultur und die Stadtgeschichte von Memphis zu einer explosiven Mischung
Memphis, Tennessee trifft Hamburg, Germany. Um ihre erste große Einzelausstellung im Kunstverein in Hamburg vorzubereiten, ist die 1975 im westfranzösischen La Rochelle geborene, ursprünglich als Tänzerin ausgebildete französische Künstlerin Lili Reynaud Dewar gleich mehrmals in die amerikanische Südstaatenmetropole gereist. Von dort mitgebracht hat sie so einiges: eine Gruppe von vier lokalen Stand-up-Comedians und den Noise-Musiker Hendrik Hegray, die zusammen mit ihr am Eröffnungsabend ebenso eindrucksvoll wie lautstark performt haben, eine knapp 36-minütige Videoarbeit, etliche an überdimensionalen Zahnschmuck erinnernde Abfallkörbe, Textarbeiten und nicht zuletzt einige Müllhaufen mit originalem Unrat aus der krisengeschüttelten Stadt am Mississippi.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Heiko Klaas
Im Zentrum der komplexen Schau steht der im vergangenen Mai in Memphis entstandene Film „TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY“. Der große Ausstellungsraum in der oberen Etage des Kunstvereins ist so offen gehalten wie selten zuvor. Das Motto der Künstlerin scheint zudem „Think Big“ zu lauten. Genau in der Mitte des Raums befindet sich auf einem kreisrunden schwarzen Teppich ein gigantischer HD-Flatscreen, der von sechs imposanten Lautsprecherboxen umstellt wird. Platz nehmen darf man auf bequemen weißen Sitzsäcken.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Heiko Klaas
Lili Reynaud Dewar wurde in den vergangenen Jahren weltweit mit Ausstellungen gewürdigt. So etwa im New Museum in New York, im Pariser Centre Pompidou oder auf der von Okwui Enwezor kuratierten Biennale Venedig 2015. In ihrer Hamburger Ausstellung stellt sie vielfache Bezüge zu dem 1985 erschienenen Essay „A Cyborg Manifesto“ der 1944 geborenen amerikanischen Feministin Donna Haraway her.
Die kapitalismuskritische Autorin benutzt darin die Metapher des Cyborgs, um tradierte Differenzierungen zwischen Geschlechtern, Rassen, Klassen, politischen Lagern usw. in Frage zu stellen. Das, was der in der westlichen Gesellschaft dominante weiße, männlich-technokratische Blick als „das Andere“ definiert: Frauen, Farbige, Arbeiter, die Natur usw. sucht sie zu überwinden. Um dies zu erreichen, plädiert Haraway für eine Vermischung und Verschmelzung gegensätzlicher Identitäten. Lili Reynaud Dewar „injiziert“ diese angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin utopischen Denkmodelle in ihre Ausstellung, indem sie diese auf überdimensionierte Texttafeln druckt oder sie von den Darstellern ihres Videos deklamieren lässt. Das heißt jedoch nicht, dass sie sich 1:1 mit ihnen identifiziert.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Heiko Klaas
Einen weiteren Subtext der Schau bilden historische Vorfälle: Ein monatelanger Streik unterbezahlter, überwiegend farbiger Müllarbeiter in Memphis kulminierte am 4. April 1968 in der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King durch einen mehrfach vorbestraften Rassisten. King, der eigentlich in die Stadt gekommen war, um die Situation zu befrieden, musste diesen Besuch mit seinem Leben bezahlen. Das tragische Ereignis liegt bis heute wie ein böser Fluch über der Stadt, die andererseits mit ihrer musikalischen Innovationskraft vom Blues über Elvis bis zum Hip-Hop unserer Tage aufwarten kann.
Dessen in der Regel farbige Repräsentanten lieben es, ihre Vorderzähne mit sogenannten „Grills“, also zahnspangenartigen Schmuckstücken, zu versehen, die meist aus Edelmetallen hergestellt sind. Je edler die Ausführung, desto mehr taugen diese Körpermodifikationen als Statussymbol. Reynaud Dewar weiß, dass sie sich auf heikles Terrain begibt, wenn sie als weiße Französin sich dieses unter anderem für die Emanzipation der Schwarzen stehenden kulturellen Codes bedient und sich selbst und alle ihre Darsteller mit Grills ausstattet. Sie wirft damit eine ganze Reihe ungeklärter Fragen auf: Wie definiert sich kulturelle Identität? Wem gehören subkulturelle Ausdrucksformen? Und ist es legitim, sich diese einzuverleiben?
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Kunstverein in Hamburg
Reynaud Dewar lässt die Darsteller in ihrer Videoarbeit über Zähne als Statussymbol, den alltäglichen Rassismus, Fast Food und die Doppelbödigkeit von Worten diskutieren. Dazu zeigt sie endlose Kamerafahrten durch die menschenleeren Straßen von Memphis oder lässt computeranimierten Müll durchs Bild flottieren. Den realen Zivilisationsmüll – darunter Tablettenblister, Flugtickets und Softdrinkflaschen – aber, den diese während der Dreharbeiten in der „Levitt Shell“, einer legendären Freiluftbühne im Art-Deco-Stil, produziert haben, präsentiert sie auf dem Boden des Kunstvereins und in sechs aufgeständerten Abfallkörben in Grill-Optik. Die Hamburger Schau ist von zahlreichen Rückkopplungsmomenten dieser Art durchzogen.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Heiko Klaas
Ebenfalls zu sehen ist ein knapp vierminütiges Tanzvideo, das die nackte, nur mit Silberfarbe bemalte Künstlerin bei der tänzerischen Inbesitznahme des noch leeren Ausstellungsraums zeigt. Diese nur für die Kamera realisierten Tanzperformances entstehen an jedem Ausstellungsort. Lili Reynaud Dewar betrachtet sie als Hommage an Josephine Baker (1906-1975), die erste farbige Tänzerin, die nicht nur aufgrund ihrer tänzerischen Extravaganz sondern auch aufgrund ihrer klaren Unterstützung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung berühmt wurde.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Kunstverein in Hamburg
Geschlechter-, Klassen- und Rassendifferenzen, Kapitalismuskritik, Political Correctness und kulturelle Hegemonie. Am Ende wird die in der Schau angeschnittene Komplexität nicht aufgelöst. Doch genau das macht die Qualität dieser künstlerischen Position aus. In ihren Videoarbeiten, Performances und Installationen stellt Lili Reynaud Dewar gesellschaftlich relevante Fragen, indem sie virulente kulturelle Codes – und seien es Zahnspangen – auf ihr emanzipatorisches Potential, ihre allgemeine Verfügbarkeit, aber auch auf ihre Limitierungen hin untersucht.
Lili Reynaud Dewar: Teeth, Gums, Machines, Future, Society, Foto: Kunstverein in Hamburg
Ausstellung: Lili Reynaud Dewar – TEETH, GUMS, MACHINES, FUTURE, SOCIETY
Ort: Kunstverein in Hamburg
Zeit: bis 20.11.2016, Di-So 12-18 Uhr, Führung jeden Donnerstag um 17 Uhr
Katalog: in Vorbereitung
Internet:www.kunstverein.de
Weitere Stationen: Museion Bozen, (I) und Vleeshal, Middelburg, (NL)