Bedeutungsvolle Fragen, zurückhaltende Ästhetik: Das Musée régionale d’art contemporain Languedoc-Roussillon im südfranzösischen Sérignan zeigt jetzt die erste große Einzelausstellung der deutschen Künstlerin und Documenta-Teilnehmerin Andrea Büttner in Frankreich.
Männlicher Zerstörungsdrang trifft auf weibliche Anmut: Im Mittelpunkt der Einzelausstellung der deutschen Künstlerin Andrea Büttner, geboren 1972 in Stuttgart, im Musée régionale d’art contemporain (MRAC) Languedoc-Roussillon im südfranzösischen Sérignan steht die Mehrkanalvideoarbeit „Piano Destructions“ aus dem Jahre 2014. Die in London, Frankfurt und Berlin lebende Künstlerin hat zahlreiche Archivaufnahmen von Performances, Happenings und Aktionen zusammengestellt, in denen überwiegend männliche Künstler, darunter George Maciunas, Nam June Paik, Wolf Vostell oder Ben Vautier, Klaviere und Konzertflügel zerstören.
Andrea Büttner, « Piano Destructions », 2016. Installation vidéo, 5 écrans, 9 sources sonores. Produite en 2014 par la Walter Phillips Gallery, Banff Centre, Canada. Vue de l’exposition au Mrac Occitanie/ Pyrénées-Méditerranée, Sérignan, 2016. Courtesy de l’artiste, Hollybush Gardens, Londres et David Kordansky Gallery, Los Angeles. © Andrea Büttner / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Photographie Cedrick Eymenier.
Eine Hochkonjunktur erlebte das destruktive Treiben zwischen den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren in Städten wie San Francisco, New York, Köln und – last but not least – in Wiesbaden. Die beschauliche hessische Landeshauptstadt war 1962 der Schauplatz der ersten großen Manifestation der Fluxus-Bewegung, die unter dem Titel FLUXUS: Internationale Festspiele Neuester Musik im Museum Wiesbaden stattfand. Jedoch taucht das Phänomen bis in unsere unmittelbare Gegenwart immer wieder auf.
Andrea Büttner: „Piano Destructions“, 2014, Foto: Heiko Klaas
Nam June Paik etwa sitzt auf einem Stuhl – vor sich ein Klavier. Mit geradezu diabolischem Grinsen fordert er fünf junge, männliche Assistenten immer wieder dazu auf, das Tasteninstrument umzuwerfen. Die schrittweise Zerstörung desselben schreitet von Mal zu Mal weiter voran. Andere greifen zu wesentlich martialischeren Methoden, Äxten oder Hämmern etwa. Manche setzen das Instrument dem Flammentod aus. Und wieder andere hieven einfache Standklaviere oder ausladende Konzertflügel auf Hausdächer oder Berge, nur um sie anschließend in die Tiefe zu stürzen.
Andrea Büttner, « Piano Destructions », 2016. Installation vidéo, 5 écrans, 9 sources sonores. Produite en 2014 par la Walter Phillips Gallery, Banff Centre, Canada. Vue de l’exposition au Mrac Occitanie/ Pyrénées-Méditerranée, Sérignan, 2016. Courtesy de l’artiste, Hollybush Gardens, Londres et David Kordansky Gallery, Los Angeles. © Andrea Büttner / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Photographie Cedrick Eymenier.
Das Ergebnis dieses vielfältigen Maßnahmenkatalogs ist jedoch jedes Mal das gleiche: Das in der Regel kostbare und bürgerliche Repräsentationsbedürfnisse bedienende Instrument wird – oft unter dem Applaus der Zuschauer – irreparabel zerstört, unbespielbar gemacht und so zum endgültigen Verstummen gebracht. Purer Vandalismus? Hass auf oder Angst vor Musik? Oder schlicht ein Akt der Befreiung vom bildungsbürgerlichen Fetisch Piano? Die Motivlage ist schwer zu ergründen.
Andrea Büttner: „Piano Destructions“, 2014, Foto: Heiko Klaas
Ein Aspekt, der bei ihrer Zusammenstellung von Klavierzerstörungen sofort ins Auge falle, so Andrea Büttner, sei aber die schiere Maskulinität, die dabei ausgelebt werde. Diese affektgesteuerte Zerstörungswut innerhalb der Avantgarde gegenüber den als repressiv empfundenen bourgeoisen Musikinstrumenten hatte dabei durchaus gewichtige Vordenker: Der DADA-Mitbegründer Tristan Tzara hatte bereits 1920 in seinem Manifest „Proklamation ohne Anspruch“ gefordert: „MUSIKER ZERBRECHT EURE BLINDEN INSTRUMENTE auf der Bühne“.
Andrea Büttner: „Piano Destructions“, 2014, Foto: Heiko Klaas
Parallel auf gleich vier Projektionsflächen laufen auf der langen Wand des Ausstellungsraumes die in die jüngere Kunstgeschichte eingegangenen Instrumentenzerstörungen. Quasi als Kontrapunkt dazu stellt Büttner auf einer fünften, auf der schmalen Wand des Raumes befindlichen Projektionsfläche der puren Destruktion Momente größtmöglicher Harmonie gegenüber: Im Banff Centre im kanadischen Alberta ließ sie dafür neun anmutige Solopianistinnen romantische Stücke von Chopin, Schumann und ein aufs Klavier adaptiertes Chorwerk von Monteverdi spielen. Das weibliche Spiel setzt bei „Piano Destructions“ immer dann ein, wenn der Sound der männlichen Destruktion für ein paar Minuten verebbt. Der berserkerhaften Kakophonie des Zerstörens stellt Andrea Büttner so eine bis ins Detail aufeinander abgestimmte Gemeinschaftsleistung gegenüber.
Andrea Büttner, « Alle Bilder ». Vue de l’exposition au Mrac Occitanie/ Pyrénées-Méditerranée, Sérignan, 2016. Courtesy de l’artiste, Hollybush Gardens, Londres et David Kordansky Gallery, Los Angeles. © Andrea Büttner / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Photographie Cedrick Eymenier.
Im grafischen Kabinett des Museums hingegen gewährt Andrea Büttner anhand großformatiger Schwarz-Weiß-Fotokopien, die sie hinter dicken Glasscheiben arrangiert hat, Einblick in ihr an Aby Warburg geschultes ikonografisch-ikonologisches Denken. Hier, wo bei stark herabgedimmter Beleuchtung normalerweise die lichtempfindlichsten Werke aus der Sammlung präsentiert werden, zeigt die Künstlerin unter dem Titel „Alle Bilder“ eine sehr präzise arrangierte, stark konzeptuell angelegte Retrospektive mit Reproduktionen eigener Werke und Bildern, die ihre künstlerische Entwicklung geprägt haben. Das Bestechende daran ist die Einfachheit und Bescheidenheit der benutzten Materialien. Abgesehen von Fotokopien, kommen nur noch ein paar bunte Sticker zum Einsatz, die mit – allerdings nur scheinbarer – Beiläufigkeit auf die Glasscheiben geklebt sind. „Ja“, „Von meinem iPhone gesendet“ oder „ART THAT HEALS“ heißt es da etwa. Auf anderen Stickern sind Fake-Kreditkarten oder Brötchen zu sehen. Beim Betrachter stellen sich so Assoziationen an einen nächtlichen Schaufensterbummel ein.
Andrea Büttner, « Alle Bilder ». Vue de l’exposition au Mrac Occitanie/ Pyrénées-Méditerranée, Sérignan, 2016. Courtesy de l’artiste, Hollybush Gardens, Londres et David Kordansky Gallery, Los Angeles. © Andrea Büttner / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Photographie Cedrick Eymenier.
Andrea Büttner schlägt hier einen weiten motivischen Bogen, indem sie gefundene und eigene Schwarz-Weiß-Fotografien, etwa von Geldautomaten, Brotlaiben, Bikinimädchen, exzentrischen Briten beim Moossammeln, traditionell gewebten Geschirrhandtüchern aus dem Katalog des Retro-Kaufhauses Manufactum, aber auch kunsthistorisch bedeutsame Werke in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander präsentiert. Ein antichristliches römisches Spott-Graffito aus dem 2. Jahrhundert mit einem gekreuzigten Jesus, der Eselsohren trägt, ist hier ebenso zu sehen wie ein mittelalterliches Bildnis des Heiligen Franz von Assisi. Daneben aber auch Reproduktionen eigener Holzschnitte und Hinterglasmalereien. Es gibt Anspielungen auf das Arts and Crafts Movement, auf den modernistischen Holzschnitt bei HAP Grieshaber, aber auch ganz persönliche Momente, etwa dann, wenn Andrea Büttner ihre frühere Kunstlehrerin, eine katholische Nonne, beiläufig ins Spiel bringt. Das Foto der jüdischen, französischen Linksintellektuellen und Mystikerin Simone Weil (1909-1943) wiederum eröffnet einen ganz eigenen Assoziationsraum.
Eine weitere Schau in der Schau ist zudem mittelalterlichen Darstellungen von Bettlern gewidmet. Andrea Büttner hat hier Abbildungen aus dem Londoner Warburg Institute und die dazugehörigen Bildlegenden zusammengestellt. In ihrem Werk taucht das Motiv der selbst gewählten Armut, Bedürfnislosigkeit und Bescheidenheit immer wieder auf. Büttner befragt es auf seine Tauglichkeit als ethisch unterfütterte, alternative Lebensform in einer sich unablässig beschleunigenden, primär materialistisch orientierten Gesellschaft. So zum Beispiel in verschiedenen Videoarbeiten, die das Leben in klösterlichen Gemeinschaften zum Thema haben. Unmittelbar auf die Kunst übertragen, taucht das Motiv der Armut aber auch in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit den Marktmechanismen des Betriebssystems Kunst und der Ambivalenz der eigenen Verortung darin auf.
Andrea Büttner, « Alle Bilder ». Vue de l’exposition au Mrac Occitanie/ Pyrénées-Méditerranée, Sérignan, 2016. Courtesy de l’artiste, Hollybush Gardens, Londres et David Kordansky Gallery, Los Angeles. © Andrea Büttner / VG Bild-Kunst, Bonn 2016. Photographie Cedrick Eymenier.
Andrea Büttner hat bereits an zahlreichen Ausstellungen auf der ganzen Welt teilgenommen, darunter 2010 an der 29. São Paulo Biennale und 2012 an der Documenta 13. Die von der in Marseille beheimateten Ausstellungsmacherin Céline Kopp als Gastkuratorin eingerichtete Ausstellung in Sérignan ist ihre erste Solo-Show in Frankreich. Und sie zeigt eindrucksvoll, wie sich bei Andrea Büttner aus vielen Einzelwerken, Anspielungen, Zitaten, Gesten des Erinnerns und Querverweisen bedeutungsvolle Gesamtzusammenhänge ergeben, die nicht weniger zum Thema haben als grundlegende Fragen an die Eckpfeiler unserer Existenz: Wie wollen wir leben? Was können wir für andere tun? Was brauchen wir? Auf was lohnt es sich zu verzichten? Und wie können wir uns aus den eingefahrenen Gleisen unserer Existenz befreien, um etwas Neues anzufangen?
Andrea Büttner, Musée régionale d’art contemporain (MRAC) Languedoc-Roussillon in Sérignan, bis 19. Februar 2017, www.mrac.languedocroussillon.fr
Die Ausstellung auf YouTube: