Hamburg ehrt die 2009 verstorbene Konzeptkünstlerin Hanne Darboven mit einer großen Ausstellung in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg. Nur drei Kilometer davon entfernt eröffnete jetzt auch die Hanne Darboven Stiftung ihr Dokumentationszentrum an der ehemaligen Wohn- und Wirkungsstätte der Künstlerin
Ihr Werk ist sperrig und faszinierend zugleich. Hanne Darboven (1941-2009) zählte zu Lebzeiten zu den bedeutendsten internationalen Gegenwartskünstlerinnen. Für ihre Heimatstadt Hamburg fungierte sie lange Zeit als die Statthalterin der Konzeptkunst mit engen freundschaftlichen Verbindungen zu Carl Andre, Sol LeWitt oder Lawrence Weiner, mithin den wichtigsten Vertretern dieser Kunstrichtung.
Große Ausstellungen in Madrid, Bonn und München widmeten sich zuletzt ihrem Werk. Und noch bis Ende Juli 2017 ist im New Yorker Kunstzentrum Dia:Chelsea ihre monumentale Installation „Kulturgeschichte 1880-1983“ zu sehen. Grund genug also, ihr auch in der Heimat eine große Bühne zu bieten: Unter dem Titel „Gepackte Zeit“ präsentieren jetzt die Hamburger Deichtorhallen in ihrer Dependance, der Sammlung Falckenberg im Stadtteil Harburg, eine äußerst materialreiche Ausstellung zum Leben und Werk der Künstlerin. Entstanden ist die von Deichtorhallenintendant Dirk Luckow und Sammlungsmanager Goesta Diercks kuratierte Schau in enger Zusammenarbeit mit der privat finanzierten Hanne Darboven Stiftung, die zeitgleich, nur drei Kilometer von der Sammlung Falckenberg entfernt, ihr neues Dokumentationszentrum am ehemaligen Schaffens- und Wirkungsort der Künstlerin im Hamburger Stadtteil Rönneburg eröffnete.
Von 1962 bis 1965 studierte Darboven in Hamburg an der Hochschule für Bildende Künste. Die entscheidenden Weichenstellungen jedoch erfuhr ihr Werk während ihres New York-Aufenthaltes von 1966 bis 1968. Hier begegnete sie den Vertretern der Minimal Art und der Konzeptkunst. Sie pflegte enge Kontakte zu Künstlern, aber auch zu dem legendären Galeristen Leo Castelli. In New York begann sie auch mit ihrer eigenständigen Methode der akribischen Aufzeichnung von Zeit. Auf Millimeterpapier nahm sie Additionen unter Berücksichtigung des jeweiligen Kalenderdatums vor, die schnell seriellen Charakter annahmen. Was sie dabei antrieb, so die vierfache Documenta-Teilnehmerin in einem Interview, war die „Angst, nicht zu wissen, was ich auf dieser Welt sollte“.
Über ihr Schaffen äußerte sich Hanne Darboven einmal so: „Ich wähle Zahlen, weil sie mir erlauben zu schreiben ohne zu beschreiben. Das hat nichts mit Mathematik zu tun. Überhaupt nichts! Ich wähle Zahlen, weil sie so gleichförmig, begrenzt und künstlich sind.“
Schreibexerzitien mit Füllfederhalter und Schreibmaschine bestimmten ihr Leben und damit auch ihr Werk. Hanne Darboven betrieb ein strenges, nur auf den ersten Blick an naturwissenschaftliche Methoden angelehntes, aber letztlich kaum entschlüsselbares, persönliches System des Aufzeichnens. Die Repräsentationsmedien ihrer Kunst waren nicht Malerei, Skulptur oder Zeichnung, sondern in erster Linie Diagramm, Tabelle und Archiv.
1978 begann sie, gefundene oder abfotografierte Materialien in gleichförmiger Rahmung auszustellen: Postkarten aus aller Welt, Magazincover, Seiten aus Kunstkatalogen, Kalenderblätter, religiösen Kitsch, Soldatenfotos aus den beiden Weltkriegen, naive Glanzbilder, Poesiebögen und persönliche Erinnerungen verwob sie zu monumentalen visuellen Systemen.
Im Zentrum der Hamburger Ausstellung steht jetzt ihr Opus Magnum „Kinder dieser Welt“ (1990-1996). Das auf einer ganzen Etage präsentierte Environment bezieht sich in metaphorisch-chiffrierter Form auf die Zeit des Neubeginns nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges. Die passionierte Sammlerin führt hier Dutzende Puppen mit verschiedenen Hautfarben, Hunderte Köpfe von Kasperlepuppen, weitere Charaktere des Kasperletheaters, Kasperlebühnen, Schaukelpferde und historisches Blechspielzeug in Vitrinen mit eigenen Aufzeichnungen zusammen.
Daneben sind zahlreiche weitere Werke und Archivalien, darunter Filme, Konstruktionszeichnungen, Architekturmodelle und Briefe zu sehen. Aufschlussreich für das Verständnis ihres Werkes ist zum Beispiel auch eine Vitrine mit ihren gesammelten Taschenkalendern aus rund 40 Jahren.
Eine besondere Stärke der Schau besteht zudem darin, Darbovens Werk nicht isoliert zu zeigen, sondern es im Kontext ihrer Zeit zu präsentieren. So sind etwa zentrale Werke von Künstlerkollegen wie Bruce Nauman, Ed Ruscha, Sophie Calle, John Cage oder John Baldessari zu sehen.
Der Informationsgehalt des herkömmlichen Archivs wird bei Hanne Darboven durch verunklärende Methoden der Anhäufung und der verwirrenden Querverweise ad absurdum geführt. Eine konkrete Lesbarkeit oder ein Nutzen werden verweigert, das Phänomen Zeit aber wird durch die schiere Wiederholung des zeitaufwändigen Schreibaktes und die Anhäufung des Materials in ihrem Werk sicht- und erfahrbar gemacht.
Einen besonderen Glücksfall für die gesamte Darboven-Rezeption und Forschung stellt zudem die Eröffnung des Dokumentationszentrums der Hanne Darboven Stiftung dar. Das Gebäudeensemble besteht aus der ehemaligen Fabrikantenvilla des Kaffeeunternehmers Cäsar Darboven, dem Reetdachhaus, in dem Hanne Darboven bis zu ihrem Tod gelebt hat, und einer Reihe weiterer Bauten. Auf dem weitläufigen Grundstück befindet sich auch das Grab der Künstlerin.
Das Zentrum widmet sich in erster Linie der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Gesamtwerks. Es soll aber nicht nur Wissenschaftlern und Ausstellungsmachern aus aller Welt als Anlaufstelle dienen, sondern mit Vortrags-, Diskussions- und Konzertabenden sowie wechselnden Präsentationen in einem kleinen Ausstellungsraum im Erdgeschoss den Genius Loci dieser außergewöhnlichen Künstlerinnenkarriere auch für den interessierten Besucher spürbar machen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Hanne Darboven – Gepackte Zeit
Ort: Deichtorhallen Hamburg in der Dependance Sammlung Falckenberg, Hamburg-Harburg
Zeit: bis 3. September 2017. Jeden 1. Sonntag im Monat von 12-17 Uhr ohne vorherige Anmeldung. Führungen Do + Fr 18 Uhr, Sa 12 und 15 Uhr, So 12,15 und 17 Uhr. Anmeldung erforderlich unter www.deichtorhallen.de/fuehrungen oder Tel. 040/32506762
Katalog: im April erscheint eine 40-seitige Katalogbroschüre
Internet: www.deichtorhallen.de
www.hanne-darboven-stiftung.de
www.hanne-darboven.org