Ich schminke mich, also bin ich: Die New Yorker Malerin Gina Beavers zeigt in der Berliner Gnyp Gallery neue Gemälde, die sich mit Make-up-Tutorials aus dem Internet beschäftigen
„make up tutorial“. Gibt man diese drei Wörter bei Google ein, so erhält man auf Anhieb 43.500.000 Fundstellen. Auch demjenigen, der sich zuvor mit dieser Materie nicht beschäftigt hat, ist auf Anhieb klar, dass es hier um ein Thema geht, das ganz offensichtlich für Millionen Menschen, überwiegend dürften es Frauen sein, von großer Bedeutung ist. Make-up-Tutorials, zu deutsch etwa „Schminkanleitungen“ zeigen Schritt für Schritt, wie man mit Lidschatten, Eyelinern, Lippenstift, falschen Wimpern, Mascara und unzähligen anderen Kosmetikprodukten und Werkzeugen Mund und Augen in kleine Kunstwerke verwandelt – mit begrenzter Haltbarkeit jedoch, denn auch das perfekteste Make-up hält höchstens ein paar Stunden.
Was sich an der Konjunktur dieser Make-up-Tutorials ablesen lässt, ist ein grundlegendes Bedürfnis nach der Erfüllung standardisierter Schönheitsideale. Statt auf die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen oder herumzuexperimentieren, verlassen sich die Fans dieser Seiten auf ihre jeweilige Community in den sozialen Netzwerken. Wurden Schönheitsideale in vergangenen Jahrzehnten noch über Topmodels oder Hochglanzmagazine wie „Vogue“ oder „Elle“ vermittelt, so beziehen gerade die Jüngeren ihre Inspiration von den oft anonymen Vorbildern aus dem Netz.
Die New Yorker Malerin Gina Beavers greift diesen Trend in ihrer Ausstellung „AMBITCHOUS“, die noch bis zum 23. April in der Berliner Gnyp Gallery zu sehen ist, auf.
In bester Appropriation-Tradition überführt Beavers im Internet gefundene Schminkanleitungen in großformatige, reliefartige 3D-Gemälde, die dem Besucher förmlich aus dem Rahmen entgegenquellen. Als Vorlagen dienen ihr dabei entsprechende Seiten auf Instagram oder in sogenannten „Collage Apps“, die in bis zu neun Unterfenster aufgeteilt sind. Indem sie unverdünnte Acrylfarbe in unzähligen Schichten immer wieder auf ihre beim Malakt auf dem Boden liegenden Leinwände aufträgt, erzeugt sie in einem äußerst langwierigen Prozess plastisch modellierte Oberflächen voller Lippen, Augen, herausgestreckter Zungen, Zähnen oder sogar Zahnspangen. In ihrer detailgenauen Unmittelbarkeit erinnern ihre Arbeiten mitunter an „Moulagen“, im 18. Jahrhundert beliebte anatomische Wachsmodelle also, wie sie in medizinhistorischen Museen gezeigt werden. Häufig sind auch die mit Nagellack verzierten Fingerspitzen der Make-up-Tutorinnen sowie die benutzten Schminkstifte, Lippenstifte oder Pinsel zu sehen. Auf einigen Bildern finden sich aber auch Sprechblasen, Disneyfiguren oder an Roy Lichtenstein erinnernde Pop Art-Zitate. Beavers’ Bilder verblüffen den Betrachter zunächst einmal durch ihre fast schon ordinäre, sich skulptural in den Raum schiebende Präsenz. Alles, was die Ästhetik des Internets ausmacht, seine Spontaneität, Geschwindigkeit, Flüchtigkeit und Volatilität übersetzt sie in eingefrorene, hypersolide und, trotz der Verwendung rein malerischer Mittel, fast schon bildhauerische Arbeiten.
In einem Gespräch mit ihrer Künstlerkollegin Gwendolyn Zabicki äußerte sich Gina Beavers so zu dieser Werkgruppe: „Als ich mit dem Malen dieser Bilder angefangen habe, hatte ich tatsächlich den Eindruck, dass das Bild mich anschaute, während es sich gerade selber malte. Es geht hier ums Zeichnen und Malen: Es gibt Stifte und Pinsel, und den Versuch, sich für den Betrachter attraktiv zu machen. Es geht um die Parallelen zur Malerei und die Erwartungen, die damit verbunden sind, aber auch um Begehren und Anziehung. Was ich ebenfalls interessant finde: Das Vokabular, das Make-up-Künstler in den sozialen Netzwerken benutzen, entspricht genau dem Vokabular der Malerei. Wenn die sich über Pinsel oder Pigmente unterhalten, klingt das, als würde man einer Fachsimpelei unter Malern beiwohnen.“
Gina Beavers hat, bevor sie ihr Kunststudium aufgenommen hat, zunächst ein Jahr lang Medizin studiert. Vielleicht erklärt auch das ihr starkes Interesse an detailgenauer Körperlichkeit. Die Künstlerin wurde 1974 in Athen als Tochter eines US-Diplomaten geboren. Zeitweise hat sie auch in Malaysia und Dänemark gelebt. Auf diese langjährigen Auslandsaufenthalte ist es wohl auch zurückzuführen, dass sie sich Phänomenen des US-amerikanischen Alltags eher als distanzierte Beobachterin denn als komplett davon absorbierte Beteiligte nähert.
In ihrer vorhergehenden Serie, die nach dem Instagram-Tag „#foodporn“ benannt war, untersuchte Gina Beavers das Bedürfnis vieler Menschen, ihr oft genug ungesundes Restaurantessen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu fotografieren und diese Bilder in sozialen Netzwerken wie Instagram, Flickr, Snapchat, Facebook oder Twitter zu posten. Hotdogs, Pommes Frites, Hamburger, Cole Slaw, Torten und Süßigkeiten aller Art: Was hier dominiert, ist nicht etwa die Präsentation besonders ausgefallener kulinarischer Kreationen, sondern die Glorifizierung des Ungesunden, Überbordenden und extrem Kalorienhaltigen. Dennoch geht es Beavers nicht darum, die Vorlieben dieser Communities bloßzustellen oder der Lächerlichkeit preiszugeben.
In einem Interview mit ihrer Berliner Galeristin Marta Gnyp drückte Gina Beavers ihre Haltung so aus: „Die Dinge, die mich zum Malen anregen, werte ich weder auf noch ab. Ich funktioniere da mehr wie eine Dokumentaristin, die sich diesen Aspekten ästhetischer Erfahrung in den sozialen Medien widmet.“
Gina Beavers, deren Arbeiten 2015 auch auf der vielbeachteten Übersichtsausstellung „Greater New York“ im MoMA PS1 gezeigt wurden, erhielt in den vergangenen Jahren sowohl im Ausstellungsbetrieb als auch in den Medien große Aufmerksamkeit. Es erschienen Besprechungen im Artforum, im Frieze Magazine, der New York Times, Modern Painters und vielen anderen Medien.
Roberta Smith, die Chef-Kritikerin der New York Times, lobt Gina Beavers’ Mut zur Übertreibung und Parodie tradierter Formen der Malerei. Gleichzeitig verortet sie ihre Arbeiten „als dick aufgetragenen Fotorealismus mit schrägen Querverweisen auf die bemalten Gipsreliefs eines Claes Oldenburg“.
Ob man ihre Arbeiten nun als kitschig, erotisch, parodistisch, satirisch oder medienkritisch betrachtet, auf jeden Fall reflektiert Gina Beavers’ Werk die Malerei an sich: ihre Möglichkeiten und ihre Limitierungen und ihre Hin- und Hergerissenheit zwischen dem „High“ des Kunstbetriebs und dem „Low“ ihrer digitalen Wiedergänger in den sozialen Netzwerken.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Gina Beavers – Ambitchous
Ort: Gnyp Gallery, Knesebeckstraße 96, 10623 Berlin
Zeit: bis 23. April 2017, Do-Fr 11-18 Uhr, Sa 12-17 Uhr sowie nach Vereinbarung
Internet: www.gnyp.eu/gallery