„Damenskulptur“, so lautet der Titel der aktuellen Ausstellung von Wiebke Siem, die am Samstag in der Berliner Galerie Esther Schipper eröffnete. Im nachtschwarz gestrichenen Ausstellungsraum hängen rätselhafte, schlanke Wesen von der Decke. Handgefertigt aus unifarbenen Stoffen, nehmen sie die Formensprache der Bauhaus-Ära auf. Die mehr als zwei Meter langen, marionettenartigen Figurinen bestehen aus roten Bommeln oder sorgfältig vernähten, gewalkten Stoffen, wie man sie von Lodenmänteln oder Wollkleidern kennt. Irritierende Elemente wie an Pflanzen erinnernde Wurzeln oder Zweige, eine kecke Pudelmütze oder vier Hände an einer Figur verleihen den Hängenden Individualität, Ambivalenz und einen ironischen Unterton. Ganz neue, korrespondierende Zeichnungen von Wiebke Siem legen eine Benutzbarkeit nahe. Warum sollte man diese surreal aufgeladenen Wesen nicht auch wie Schals umlegen können? Mit diesen aktuellen Arbeiten knüpft die 1954 in Kiel geborene Trägerin des Goslarer Kaiserrings von 2014 auch an ältere Textilarbeiten an.
Verlässt man das nächtliche Figurenkabinett, betritt man eine ganz andere Scheinwelt. Die parallel stattfindene zweite Ausstellung bei Esther Schipper wurde von der 1956 im britischen Folkstone geborenen Belgierin Ann Veronica Janssens realisiert. Der Besucher betritt durch eine Schleuse einen Raum, der komplett mit feinem Nebel gefüllt ist. Schnell verliert man die Orientierung und tastet sich vorsichtig durch die sich permanent erneuernden Schwaden. Die Farben im Raum ändern sich, je weiter man voranschreitet, von Gelb über Grün bis zu Violett. Assoziationen an Märchen, Gruselfilme und Fantasy-Geschichten legt auch der Titel dieser Inszenierung nahe: „Ich rede zu Dir wie Kinder reden in der Nacht“
Eine geballte Ladung Frauenpower also zur Zeit bei Esther Schipper. Beide Künstlerinnen gehören derselben Generation an, und beide arbeiten seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich an ihrem Werk. Beide Ausstellungen beziehen auch den Betrachter mit ein, sei es in Form unmittelbar körperlicher Erfahrbarkeit beim Durchschreiten des Nebelraums oder in der gedanklichen Vorstellung der Benutzbarkeit der geheimnisvollen Textilfigurinen bei Wiebke Siem. Die Doppelpräsentation appeliert an unsere Fantasie ebenso wie an unsere verborgenen Ängste. Ein Ort zum Fürchten ist sie dennoch nicht. (NB und HK)
Auf einen Blick:
Ausstellung: Wiebke Siem: „Damenskulptur“
Ausstellung: Ann Veronica Janssens: „Ich rede zu Dir wie Kinder reden in der Nacht“
Ort: Galerie Esther Schipper, Berlin
Zeit: bis 16. Dezember 2017, Di-Sa 11-18 Uhr
Internet:www.estherschipper.com