Mit der Ausstellung „Man Ray“ feiert das Kunstforum Wien jetzt den wohl experimentierfreudigsten Vordenker der Kunst des 20. Jahrhunderts
Emmanuel Radnitzky. Mit diesem eher etwas ungeschmeidig daherkommenden Namen eine internationale künstlerische Karriere zu starten, wäre wohl nicht so leicht gewesen. Doch nimmt man ein paar Buchstaben weg und rückt die verbleibenden eng zusammen, so erhält man eine weitaus griffigere Kurzversion: Man Ray.
Der 1890 in Philadelphia geborene Emmanuel Radnitzky entschloss sich bereits 1912 zu diesem Schritt, der durchaus einer Markenbildung gleichkam. Ein in der Rückschau geschickter Schachzug, dem allerdings noch viele andere richtungweisende Coups folgen sollten, mit denen er die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst bis in unsere Gegenwart hinein maßgeblich beeinflusste.
Man Ray gilt als Erfinder eines intermedialen Ansatzes, Zertrümmerer von Geschlechterdifferenzen, Urahn der „queeren“ Kunst, der Konzeptkunst und der Body Art, Totengräber des Originalkults und Vordenker des Multiples. Einem breiteren Kunstpublikum ist Man Ray jedoch in erster Linie als innovativer Fotograf bekannt, der unter anderem die Rayografie und die Solarisation erfunden hat. Seine 1924 entstandene Fotografie „Le Violon d’Ingres“, sie zeigt eine Aufnahme der nackten Künstlermuse Kiki de Montparnasse, gehört zu den bis heute meistreproduzierten Künstlerpostkarten. Mit Tusche hat Man Ray die weibliche Rückenansicht nachträglich mit zwei f-förmigen Schalllöchern verziert, wie sie von Streichinstrumenten bekannt sind – und so ein Bild erzeugt, das sich längst ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat.
Lisa Ortner-Kreil, die Kuratorin der Ausstellung „Man Ray“ im Bank Austria Kunstforum Wien, verzichtet zwar nicht darauf, diese ikonische Aufnahme zu zeigen, doch im Fokus ihrer groß angelegten Retrospektive steht die Absicht, endlich einmal den ganzen Man Ray zu präsentieren. Dass es in der jüngeren Vergangenheit weltweit keine vergleichbar umfangreiche Man Ray-Ausstellung gegeben hat, mag verwundern, entspricht aber den Tatsachen.
Wie kaum ein anderer wichtiger Künstler des 20. Jahrhunderts mäandrierte sich Man Ray durch die verschiedenen Medien, Techniken und Stile. Sein experimentierfreudiger Ansatz und seine Unerschrockenheit innovativen Methoden gegenüber brachten Werke hervor, deren Echo bis heute nachhallt. Hinzu kam seine Bereitschaft, Kollaborationen mit anderen Künstlern einzugehen. Seine lebenslange Freundschaft mit dem Pariser Künstler Marcel Duchamp zum Beispiel oder die kurze, aber heftige Affäre mit der amerikanischen Fotografin Lee Miller von 1929 bis 1932 wirkten dabei wie Katalysatoren – und zwar für beide Seiten. Erfolgreich kooperierte er auch mit der US-Fotografin Berenice Abbott, die zeitweise seine Assistentin war, sowie mit Vertretern des Dadaismus und Surrealismus wie etwa Tristan Tzara oder André Breton.
In Wien zu sehen sind jetzt rund 200 Werke aus allen Schaffensperioden des Universalkünstlers, darunter Gemälde, Fotografien, Filme, Objekte, Zeichnungen und Assemblagen. Dass er einmal zu einem der bedeutendsten Künstler der Avantgarde werden sollte, war Man Ray nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Er war der älteste Sohn russisch-jüdischer Eltern, die in Philadelphia eine Schneiderei betrieben. Später erfolgte dann der Umzug nach Brooklyn, New York. Schon als Kind musste er mitarbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Mit 18 Jahren trat er dann in New York zunächst eine Stelle als Schriftzeichner und Layouter an. Wenn er aus dem Fenster seines Büros blickte, sah der junge Man Ray die großen Dampfer vorüberfahren, die die Ostküsten-Metropole mit Europa verbanden. Die Sehnsucht, selbst einmal mitzufahren und Paris, die Stadt seiner Träume, zu besuchen, war geweckt. Eine neue Bekanntschaft sollte ihn dieser Reise einen entscheidenden Schritt näherbringen.
Bereits 1913 war Man Ray, der seinen künstlerischen Ambitionen schon seit der Schulzeit nachgegangen war, in die Künstlerkolonie Ridgefield in New Jersey umgezogen. Dort tauchte im Sommer 1915 plötzlich ein junger Franzose auf, zu dem sich eine lebenslange Künstlerfreundschaft entwickeln sollte: Marcel Duchamp. Im Sommer 1921 war es dann endlich soweit, und Man Ray hatte genug Geld beisammen, um die Überfahrt nach Le Havre zu bezahlen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Paris wurde der junge Amerikaner von den Dadaisten mit offenen Armen aufgenommen. Schnell etablierte er sich in der französischen Hauptstadt als Porträtfotograf. Doch nebenbei reizte ihn immer wieder das Experiment. In seiner Dunkelkammer entwickelte er die sogenannte „Rayografie“, eine kameralose Fototechnik, bei der Objekte wie etwa Küchenwerkzeuge, Stifte, Lineale oder Zirkel auf das Fotopapier gelegt und belichtet werden. Etliche dieser wertvollen Unikate sind jetzt in der Wiener Ausstellung zu sehen.
Zeitlich setzt die Schau jedoch ein mit technischen Zeichnungen von geometrischen Formen und einfachen Apparaturen, die das zeichnerische Talent des damals 18-Jährigen demonstrieren. Daneben sind erste Gemälde im Stil des Fauvismus und Kubismus zu sehen, die bisher selten gezeigt wurden. Diese Bilder belegen die Suche nach einem eigenen, unverwechselbaren Stil, den Man Ray jedoch in der Malerei nicht finden sollte. Dazu die Kuratorin Lisa Ortner-Kreil: „Die innovative Kraft, die er in der Fotografie erreicht hat, erreicht er nicht in der Malerei. Dort verbleibt er immer als ein Maler von mehreren, was man in der Fotografie nicht behaupten kann.“
„Alles steht mit der Fotografie in Verbindung, weil letztlich alles fotografiert werden muss“, so lautete ein Credo des Künstlers. Neben seinen eher klassisch gehaltenen Porträts berühmter Persönlichkeiten wie Pablo Picasso, Coco Chanel oder Salvador Dalí versammelt die Schau vor allem experimentelle Aufnahmen, darunter etliche magisch-surrealistische Solarisationen. Gemeinsam mit Lee Miller setzte Man Ray bereits belichtete Negativplatten einem kurzen hellen Lichtimpuls aus. Durch die dosierte Überbelichtung kam es zu einer teilweisen Umkehrung der Tonalität und anderen Verfremdungseffekten. Das Verfahren war zwar seit den Anfangsjahren der Fotografie sozusagen als „Laborunfall“ bekannt. Man Ray und Lee Miller erhoben es jedoch zu einer eigenständigen Kunstform.
Außerdem in der Schau zu sehen sind von Man Ray entworfene Schachspiele, die durch schlichte Eleganz und hochwertige Materialien überzeugen. Speziell mit Marcel Duchamp verband ihn eine gemeinsame Leidenschaft für das strategische Brettspiel.
Einen besonderen Schwerpunkt bilden vier zwischen 1923 und 1929 entstandene Kurzfilme des Künstlers, die in einem eigens in die Ausstellung eingebauten Kino gezeigt werden. Der 1928 entstandene 18-minütige Film „L’Etoile de mer“ beispielsweise enthält Motive, die vieles von dem vorformulieren, was in den Stillleben-Fotografien eines Wolfgang Tillmans ebenso wieder auftaucht wie in den biologisch-technischen Ökosystemen eines Pierre Huyghe.
Breiten Raum nehmen in der Wiener Ausstellung auch die aus modifizierten Alltagsgegenständen entwickelten Objekte des Künstlers ein, die mal als Unikate das Atelier verließen, sehr viel häufiger jedoch in Form von teilweise mit großem zeitlichen Abstand aufgelegten Multiples auf den Markt kamen. „Erfinden ist göttlich, vervielfältigen ist menschlich“, so Man Ray. Zu sehen sind etwa Multiples wie „Mr. Knife and Miss Fork“ (1944/1973) oder „Non-Euclidian Object“ (1932/1973) sowie seine wohl bekannteste Auflagenarbeit: das 1923 entstandene und 1964 neu aufgelegte „Indestructible Object“, ein handelsübliches Metronom, auf dessen Pendelspitze die Fotografie eines Auges aufgeklebt ist.
Wie flexibel Man Ray zwischen den verschiedenen Medien wechselte, wird anhand der Arbeit „L’Énigme d’Isidore Ducasse“ deutlich, die gleich dreimal in der Schau auftaucht. Ursprünglich hatte Man Ray im Jahre 1920 – wohlgemerkt Christo wurde erst 15 Jahre später geboren – eine Nähmaschine in eine grobe Wolldecke eingeschlagen, mit Paketband verschnürt und dieses Ensemble fotografiert. Das Original ist verloren gegangen. In Wien zu sehen sind jetzt eine Fotografie sowie die 1971 vom Künstler geschaffene Reproduktion des Objekts. Außerdem ein rätselhaftes Gemälde Man Rays aus dem Jahr 1952, auf dem zu sehen ist, wie eine XXL-Version der verpackten Nähmaschine von einem Mann mit Handkarren wegtransportiert wird.
Indem sie den ganzen Man Ray zeigt, thematisiert die Wiener Schau natürlich auch die durch die nationalsozialistische Bedrohung erzwungene Flucht des jüdischen Künstlers aus Paris. Die Jahre von 1940 bis 1950 verbrachte er in Los Angeles. 1950 erfolgte dann die erneute Übersiedlung nach Paris, wo Man Ray 1976 starb und auf dem Cimetière de Montparnasse beigsetzt wurde.
Was die Schau darüberhinaus besonders interessant macht, ist ein kleiner Exkurs am Ende, der die Rezeptionsgeschichte von Man Rays ästhetischen Setzungen bis in unsere Zeit verfolgt. Modemacher wie Viktor & Rolf, Jean-Charles de Castelbajac oder Jean Paul Gaultier zitierten oder modifizierten seine ikonischen Bildfindungen in Form von Entwürfen oder Werbekampagnen. Der niederländische Fotograf und Regisseur Anton Corbijn wiederum drehte für die Band Depeche Mode ein Musikvideo, in dem die Schluss-Sequenz von Man Rays 1926 entstandenem Film „Emak Bakia“ auf raffinierte Art und Weise variiert wird. Dass seine Bildsprache Nachahmer fand, hat Man Ray noch selbst miterlebt – besonders gestört hat ihn das jedoch nicht. In einem Interview kommentierte er diesen Umstand eher lakonisch: „Es wird behauptet, ich sei meiner Zeit voraus. Ich sage jedoch, dass das nicht stimmt. Es sind die anderen, die ihrer Zeit hinterherhinken.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Man Ray
Ort: Bank Austria Kunstforum Wien
Zeit: bis 24.6.2018. Täglich 10-19 Uhr. Fr 10-21 Uhr
Katalog: Kehrer Verlag, 240 S., 250 Abb., 32 Euro
Internet: www.kunstforumwien.at