Berlin feiert den italienischen Aktions- und Objektkünstler Michelangelo Pistoletto jetzt anlässlich seines 85. Geburtstags mit einer Ausstellung in den Räumen der Italienischen Botschaft. Mit seiner Stiftung „Cittadellarte“ entwickelt der Grandseigneur der Arte Povera Ideen für eine bessere Gesellschaft
Rund 1100 Kilometer liegen zwischen Berlin und Biella, einem 45.000-Einwohnerstädtchen im italienischen Piemont am Fuße der Alpen. Hier wurde im Jahr 1933 der italienische Aktions- und Objektkünstler sowie Kunsttheoretiker Michelangelo Pistoletto geboren. Bis heute lebt der Mitbegründer der Arte Povera-Bewegung im idyllischen Biella, wo er mit seiner Stiftung „Cittadellarte“ in einer ehemaligen Wollspinnerei aus dem frühen 20. Jahrhundert auf 20.000 Quadratmetern eine Kulturfabrik betreibt, in der Künstler, Schüler, Studenten und Besucher in kreativen Prozessen nachhaltige und soziale Themen erforschen.
Seinen 85. Geburtstag feierte der Maestro, der gerne im lässigen schwarzen Anzug und elegantem Borsalino auf dem Kopf auftritt, kürzlich in Berlin. Das Italienische Kulturinstitut, beheimatet in der Italienischen Botschaft im Tiergarten, richtet Michelangelo Pistoletto jetzt unter dem Titel „Spiegelungen und Widerspiegelungen“ im Rahmen der Ausstellungsreihe „DediKa“ (von ital. dedicare = widmen) eine Einzelausstellung aus. Die konzentrierte Schau vermittelt anhand von zehn Schlüsselwerken und umfangreichem Archivmaterial einen Überblick über sein gesamtes Schaffen.
Den Auftakt bilden konzeptuelle fotografische Experimente aus den frühen 1960er Jahren. So ist zum Beispiel die Bilderfolge „La conferenza“ zu sehen, für die Pistoletto einen ganzen Pulk von Pressefotografen bat, ihn im selben Moment aber aus leicht variierenden Perspektiven zu fotografieren. Schuss und Gegenschuss: Auf der gegenüberliegenden Wand hängt dann nur das Gruppenfoto, das Pistoletto von den Fotografen gemacht hat. Ebenfalls vertreten sind Arbeiten aus der Reihe der „Quadri specchianti“ (Spiegelbilder). Per Siebdruck werden hier isolierte Motive, oftmals Personen, auf eine spiegelnde Oberfläche aufgebracht. Der Betrachter selbst wird in Form seines Spiegelbildes zum essentiellen Bestandteil des Werkes. Diese bis heute auf dem Kunstmarkt gesuchten Arbeiten begründeten auch die internationale Karriere Pistolettos, der bereits 1966 erstmals in den USA ausstellte und nur ein Jahr später den Ersten Preis der São Paulo Biennale verliehen bekam. Der Spiegel sollte zum wiederkehrenden Motiv und Symbol in seinem gesamten Œuvre werden: in Performances mit dem Hammer zerbrochen, bemalt, bedruckt, als Objekt, Skulptur oder gekonnt eingesetzt in der Fotografie.
Eines der berühmtesten skulpturalen Werke des viermaligen Documenta-Teilnehmers ist ebenfalls in Berlin zu sehen: „Venere degli stracci“ (Die Lumpen-Venus) aus dem Jahr 1967. Die Installation besteht aus einem Haufen Altkleider, vor welchem eine blütenweiße, klassische Venusstatue in Rückenansicht mit abgelegtem Badetuch platziert ist. Der Kontrast zwischen makelloser Schönheit auf der einen Seite und den ausrangierten Kleidern auf der anderen Seite verweist auf die fragwürdigen Kreisläufe der globalen Textilindustrie und die allgegenwärtige Armut in einer arbeitsteilig organisierten, globalisierten Welt. Diese über 50 Jahre alte Arbeit hat bis heute an Aktualität nichts eingebüßt.
In Berlin erläuterte der international agierende, hellwache Pistoletto, der im Jahr 2017 sein erklärtermaßen letztes politisches Manifest zur Erneuerung der Gesellschaft verfasst hat, seine Vorstellung vom „Dritten Paradies“, das für ihn nach den Katastrophen der letzten Jahrhunderte einen erstrebenswerten, gleichwohl utopischen Zustand darstellt. Pistoletto: „Wenn wir das Erste Paradies als Zeitalter der Unkenntnis betrachten und das Zweite Paradies als Periode der Erkenntnis, so beginnt mit dem Dritten Paradies die Ära der Verantwortung für die Zukunft des gesamten Planeten.“
In seinem Heimatort Biella entwickelt Pistoletto zusammen mit seinen Mitstreitern eine Strategie zur Rettung des Planeten und der Menschheit. „Unsere Aufgabe ist es, die Wissenschaft und die Natur zu vereinigen“, sagt er. „Das Dritte Paradies müssen wir selbst schaffen.“
Für den Innenhof der Botschaft hat der Arte-Povera-Pionier jetzt eine symbolisch aufgeladene Skulptur mit dem Titel „Terzo Paradiso“ entworfen. Die Bodenarbeit besteht aus drei miteinander verbundenen Kreisen aus Berliner Pflastersteinen. Ein ambivalent aufgeladenes Material, markieren diese doch einerseits den ehemaligen Verlauf der innerstädtischen Mauer und sind andererseits seit vielen Jahrzehnten beliebtes Wurfgeschoss bei Demonstrationen, etwa zum 1. Mai. Mit dieser Arbeit spielt Pistoletto, der 1978 zum ersten Mal als DAAD-Stipendiat in Berlin ausstellte, auf gleich mehrere Themenkomplexe an: den Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges, die gegensätzlichen Ideologien des Kapitalismus und des Kommunismus, die Dialektik von Konflikten und Kriegen auf der einen und Gleichgewicht und Harmonie auf der anderen Seite. Er betrachtet die Arbeit als „Symbol der Harmonie und Vorgriff auf das Dritte Paradies.“
„Wir erleben heute die zusammengebrochene Herrschaft der kapitalistischen Ideologie“, stellt Michelangelo Pistoletto ernüchtert fest. „Der Mythos des Dritten Paradieses besagt, dass wir die Welt an einem neuen Ort neu schaffen.“ Michelangelo Pistoletto, der in seine Kulturfabrik „Cittadellarte“ in Biella jährlich über 50.000 Besucher aus Italien und dem Ausland anlockt, stellt programmatisch fest: „Wir brauchen gerade jetzt die Entwicklung einer neuen Gesellschaft in der Welt, in der wir heute sind, mit all ihren Widersprüchen.“
Dabei sieht er sich selbst in seiner Rolle als Ideengeber, Theoretiker, Leitfigur und Vordenker immer noch vor allem als Künstler: „Kunst“, so betont er, „muss eine symbolische Funktion haben.“ Mit dieser Ausstellung zeigt das Italienische Kulturinstitut in Berlin nunmehr zum 18. Male einen Kulturschaffenden des Landes in einer den ganzen Sommer währenden Einzelpräsentation. Bleibt zu hoffen, dass diese Reihe, angesichts der neuen politischen Vorzeichen in Rom, auch in Zukunft im Sinne von Freiheit, Demokratie und Völkerfreundschaft fortgesetzt werden kann.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Michelangelo Pistoletto und Cittadellarte: Spiegelungen und Widerspiegelungen
Ort: Italienisches Kulturinstitut Berlin
Zeit: bis 29. September 2018, Mo–Fr 10–18 Uhr, Sa 11–18 Uhr, keine Samstagsöffnung in den Schulferien vom 7.7.–18.8.2018
Katalog: kostenlose Broschüre aus der Reihe „DediKa“
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