Italienische Arte Povera trifft auf amerikanische Pop Art: Das Ausstellungshaus „Gallerie d’Italia“ in Mailand präsentiert Highlights aus der Collezione Agrati. Die hochkarätige Sammlung zeitgenössischer Kunst der italienischen Agrati-Brüder ging jetzt als Schenkung an das Bankhaus Intesa Sanpaolo
Die Piazza della Scala in Mailand. Auf der einen Seite steht das berühmte Opernhaus mit seiner Theaterkasse, an der sich bereits am frühen Nachmittag Musikbegeisterte aus aller Welt in lange Schlangen stellen, um Tickets für eine der legendären Aufführungen zu ergattern. Auf dem Platz, umgeben von schattenspendenden Bäumen und Marmorbänken, auf denen erschöpfte Touristen und Mittagspäusler Platz nehmen, ragt das Denkmal für Leonardo da Vinci empor – ein beliebtes Foto- und Postkartenmotiv. An der Längsseite des Platzes dann ein prächtiges Gebäude mit vier Säulen über dem Eingangsportal und der Inschrift „Banca Commerciale Italiana“. Hier, in einem ehemaligen Bankgebäude, befindet sich seit 2011 das Ausstellungshaus „Gallerie d’Italia“, das Mailänder Museum der Bankgruppe Intesa Sanpaolo, in dem ein Teil der Kunstsammlung des aus vielen Regionen Italiens zusammengeführten Bankverbandes gezeigt wird. Weitere Museen unterhält Intesa Sanpaolo in Neapel und Vincenza.
Im April 2018 hat die Sammlung der Bankengruppe durch eine großzügige Schenkung einen nicht unerheblichen Zuwachs erhalten. Eine der wichtigsten privaten Sammlungen internationaler Kunst in Italien, die Collezione Agrati, wurde jetzt nach dem Tod der beiden Sammler der Bank übergeben. Die qualitativ hochwertige Sammlung umfasst italienische und europäische Kunst von den 1950er bis in die 1980er Jahre sowie amerikanische Kunst von den 1960ern bis Mitte der 1980er Jahre. Luigi und Peppino Agrati, die in einer kleinen Gemeinde bei Monza ein weltweit bedeutendes Unternehmen für Verbindungselemente im Bereich der Automobilindustrie aufgebaut haben, begannen Anfang der 1960er Jahre, intensiv Kunst zu sammeln. Sie pflegten enge Kontakte zu den Künstlern ihrer Sammlung und besuchten regelmäßig die wichtigsten Ausstellungsorte. Hellwach und an intellektuellen Herausforderungen interessiert, nahmen sie auch an internationalen Debatten über Kunst großen Anteil. Häufig haben die Agrati-Brüder sehr früh gekauft, lange bevor die Künstler große Bekanntheit erlangten. So konnten sie wichtige Werke erwerben, bevor die großen internationalen Museen überhaupt daran Interesse zeigten.
Jetzt ist im Ausstellungshaus „Gallerie d’Italia“ ihre Sammlung in einer Ausstellung mit dem Titel „Art as Revelation“ (Kunst als Offenbarung) in dieser Breite erstmals öffentlich zu sehen. 73 von insgesamt 500 Werken versammelt die von Luca Massimo Barbero kuratierte Schau, die den Blick auf die italienische Avantgarde, aber auch auf die internationalen Entwicklungen, insbesondere in Amerika richtet.
Einen der Schwerpunkte der Sammlung Agrati bildet der vorwiegend in Italien bekannte Künstler Fausto Melotti (1901-1986). Peppino Agrati war mit Melotti auch privat befreundet. Seit Ende der 1950er Jahre hat Fausto Melotti fragile Metallskulpturen hergestellt. Einige davon sind jetzt in einer eigens entworfenen, zeltartigen Ausstellungsarchitektur in den „Gallerie d’Italia“ zu sehen: poetische, erzählerische Formfindungen mit raffinierten Verknüpfungen, in handwerklicher Präzision hergestellt.
Der zu Unrecht häufig auf seine Leinwandschlitzungen reduzierte Avantgardekünstler Lucio Fontana (1899-1968) ist mit wenigen, dafür aber sehr wichtigen Werken in der Sammlung Agrati vertreten. Fontana förderte jüngere Künstler wie zum Beispiel Piero Manzoni (1933-1963), von dem zwei Werke, darunter die Arbeit „Achrome“ von 1961, zu sehen ist. Manzoni betreibt hier eine Art farblose Malerei, indem er an Haare oder Fell erinnernde Glaswolle auf eine leinwandartige Fläche aufbringt. Die flauschige Oberfläche kontrastiert mit der synthetischen Provenienz des hier zweckentfremdeten Baustoffes. Die Arbeit wird in der Ausstellung in unmittelbarer Nähe zu einer weißen Leinwand des Amerikaners Robert Ryman, Jahrgang 1930, dem Hauptvertreter der Analytischen Malerei, präsentiert. Beide Künstler stehen für eine Betonung des Nicht-Narrativen in scharfer Abgrenzung etwa zum Abstrakten Expressionismus.
Mailand war Ende der 1950er Jahre ein wichtiges Zentrum der Avantgarde. So sorgte im Januar 1957 eine Einzelausstellung Yves Kleins (1928-1962) in der Galleria Apollinaire für ziemlich viel Wirbel. Von dem Pariser Künstler ist die Arbeit „IKB99“ aus dem Jahr 1960 zu sehen, in der er das von ihm patentierte „Yves Klein Blau“ als Naturpigment auf eine Leinwand mit abgerundeten Ecken bringt.
Die der italienischen Postmoderne zugerechnete Malerei eines Mario Schifano (1934-1998) oder die einfach und klar gehaltenen Leinwandarbeiten des der Arte-Povera-Tradition entstammenden, seit 1956 in Rom tätigen Griechen Jannis Kounellis (1936-2017) treffen in der Sammlung der Agrati-Brüder auf amerikanische Pop Art, etwa von Robert Rauschenberg (1925-2008) oder Andy Warhol (1928-1987). Peppino Agrati war auch mit dem US-Amerikaner Robert Rauschenberg eng befreundet. Ein zentrales Werk von Rauschenberg in der Sammlung ist die großformatige Assemblage „Silver Transmitter Glut (Neapolitan)“ von 1987. Sie besteht aus Metallscheiben und –platten sowie Fragmenten von Autokennzeichen, die vertikal und horizontal, teils über Kopf stehend, aufgebracht sind. Sicherlich ein typisches Werk für die 1980er Jahre, in denen Rauschenberg, ähnlich wie Warhol und Jean-Michel Basquiat (1960-1988), überaus produktiv war.
Eine Ikone von Pop Art-Star Andy Warhol hängt als Eye Catcher gleich im Eingangsbereich der Ausstellung: „Triple Elvis“ aus dem Jahr 1963. Dieser berühmte Siebdruck zeigt den legendären Sänger und Schauspieler gewissermaßen als seinen eigenen Drilling in der Pose des Westernhelden mit gezückter Waffe, breitbeinig in Blue Jeans und mit dickem Ledergürtel. Das Motiv stammt aus dem Film „Flaming Star“ von 1960. Luigi und Peppino Agrati erwarben dieses Werk, das einen Versicherungswert von 60 Millionen Euro verzeichnet, bei der einflussreichen New Yorker Galerie Leo Castelli.
Der von Andy Warhol stark geförderte New Yorker Maler Jean-Michel Basquiat wird in der Ausstellung unter anderem mit so wichtigen Werken wie „Financial District“ (1985) und „Alchimist“ (1986) gezeigt. Auch die Gemälde des früh verstorbenen Ausnahmetalents erzielen mittlerweile auf Auktionen Spitzenwerte.
Stark vertreten in der Sammlung Agrati ist dann auch die Arte Povera mit Arbeiten von Giulio Paolini, Jahrgang 1940, Michelangelo Pistoletto, Jahrgang 1933, oder Alighiero Boetti (1940-1994). Auch der in Mailand geborene Arte Povera-Künstler Mario Merz (1925-2003) ist mit Neon-Arbeiten, die auf die Fibonacci-Folge verweisen, sowie kleineren Materialcollagen aus den 1960er Jahren zu sehen.
In der Sammlung Agrati sind aber auch etliche Vertreter der Minimal Art und der Konzeptkunst vertreten. Peppino Agrati war einer der ersten europäischen Sammler, der sich für die Neonarbeiten Dan Flavins (1933-1996) begeistert hat. Die in der Mailänder Schau gezeigten Werke reichen bis hin zur reinen Ideenkunst eines Joseph Kosuth oder konzeptuellen Neonschriftarbeiten von Bruce Nauman.
Eine besondere Beziehung pflegten die Agrati-Brüder zu Christo, Jahrgang 1935, der in Mailand gleich mehrfach mit öffentlichen Aktionen auf sich aufmerksam machte. Als der bulgarisch-amerikanische Künstler während des Festivals der Nouveaux Réalistes im November 1970 im Begriff war, den weißen Stoff, mit dem er das Denkmal des Vittorio Emmanuele II auf dem Domplatz eingepackt hatte, zu entfernen, um mit demselben Stoff das Denkmal von Leonardo Da Vinci auf der nahe gelegenen Piazza della Scala einzuhüllen, waren die Agrati-Brüder so begeistert von dieser Aktion, dass sie Christo auf der Straße ansprachen und sogleich Arbeiten für ihre Villa orderten. Diese Freundschaft sollte lebenslang anhalten. So gehörten die Agrati-Brüder auch zu den internationalen Mäzenen, die Anfang der 1970er Jahre Christos Arbeit „Valley Curtain“ in Colorado mitfinanzierten. Auch in der Ausstellung „Art as Revelation“ ist gleich ein ganzes Kabinett den Arbeiten Christos gewidmet, darunter eine großformatige Zeichnung von der Mailänder Verhüllungsaktion.
Die Sammlung Agrati zeichnet sich durch eine große Offenheit gegenüber einer Vielzahl zeitgenössischer Kunstrichtungen aus. Ihr aktueller Marktwert wird auf rund 300 Millionen Euro geschätzt. Durch den Hinzugewinn der Collezione Agrati vervollständigt das Bankhaus Intesa Sanpaolo eine Sammlung, die von archäologischen Fundstücken über venezianische Malerei des 18. Jahrhunderts, Malerei und Skulpturen des 19. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwartskunst reicht. Wer es dann doch nicht geschafft haben sollte, Opernkarten für die Scala zu ergattern, kann zum Trost gleich nebenan in den „Gallerie d’Italia“ ganz in Ruhe Spitzenwerke von Fontana, Pistoletto, Basquiat und vielen anderen genießen. Und das bei freiem Eintritt.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Art as Revelation
Ort: Gallerie d’Italia, Piazza della Scala 6, 20121 Milano
Zeit: bis 19. August 2018, Di–So 9.30–19.30 Uhr, Do 9.30–22.30 Uhr. Mo geschlossen
Katalog: Verlag Silvana Editoreale, Hrsg. Intesa Sanpaolo, 176 S., zahlreiche Farbabb.
Internet: www.gallerieditalia.com