Ein Ausstellungsprojekt – vier beteiligte Institutionen in drei Ländern, dazu Kooperationen mit Künstlern, Musikern, Wissenschaftlern, Architekten und sogar einer Pfarrerin aus dem Basler Münster. Black Madonna, das äußerst facettenreiche und multimediale Ausstellungsprojekt, mit dem der 1973 in Chicago geborene US-Künstler Theaster Gates vom Frühjahr 2018 bis in den Winter 2019 im Kunstmuseum Basel, dem Sprengel Museum Hannover, der Fondazione Prada in Mailand und dem Münchner Haus der Kunst zu Gast ist, gliedert sich letzlich in vier autonome Ausstellungen, die jedoch alle unter derselben Überschrift stattfinden und sich inhaltlich und formal zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Ein 400-seitiges Künstlerbuch sowie ein Katalog ergänzen das Projekt.
Im Fokus von Theaster Gates‘ im Englischen gelegentlich als „Social Practice Installation Art“ bezeichneten Kunstpraxis stehen sowohl Recherche und Erforschung materieller, politisch-gesellschaftlicher, religiös-spiritueller oder ästhetischer Phänomene, als auch ein von aktivierenden, mitunter auch aktivistischen Elementen getragener Transformationsgedanke, der sich in Theaster Gates‘ enger Kooperation mit den unterschiedlichsten Communities manifestiert. Kunst, politisches Engagement und soziale Praxis stellen für ihn keine Gegensätze dar. Zentral ist immer der Dialog mit dem Publikum, der häufig durch partizipatorische oder performative Elemente hergestellt wird. In Deutschland bekannt geworden ist Theaster Gates insbesondere durch seine Teilnahme an der Documenta 13 im Jahre 2012. Unter seiner Anleitung transformierten Arbeitslose aus Kassel und Chicago das 1826 erbaute und zuletzt leerstehende „Hugenottenhaus“ in ein bewohnbares und funktionierendes Labor, das während der Laufzeit der Documenta nicht nur als Ausstellungsort sondern auch als Bühne, Speisesaal und Diskussionsplattform diente.
In seiner Heimatstadt Chicago ist der als Urbanist, Religionswissenschaftler und Bildhauer, namentlich Keramiker, ausgebildete Theaster Gates dafür bekannt, in benachteiligten, überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadtvierteln wie dem South Side District durch die Renovierung verlassener, aber signifikanter Gebäude und deren Umwandlung in kulturelle Ankerzentren dezidierte Signale gegen die Gentrifizierung auszusenden. Sein Engagement, das er weitgehend aus dem Verkauf seiner Arbeiten finanziert, begründete er 2016 in einem Interview: „Leute, die in arme Viertel investieren, tun das normalerweise, um Geld mit der Armut anderer Leute zu verdienen. Sie bauen billigen Wohnraum und verdienen damit, sie eröffnen Geschäfte mit Fast Food und Trash. Aber niemand denkt darüber nach, wie man das Leben armer Leute reicher machen kann.“ Die von ihm gegründete, gemeinnützige „Rebuild Foundation“ hat 2013 beispielsweise ein 1.500 Quadratmeter großes, ehemaliges Bankgebäude im neoklassizistischen Stil erworben, das jetzt – neu gelabelt als Stony Island Arts Bank – als öffentlich zugänglicher Aufbewahrungsort diverser Archive dient. Theaster Gates begreift das Arbeiten mit Archivalien als konzeptuellen Rohstoff seiner künstlerischen Praxis. Das Spektrum in der Stony Island Arts Bank reicht über eine ebenso kuriose wie abstoßende „Negrobilia“-Sammlung mit Kitsch- und Werbefiguren, Drucksachen etc. mit stereotypen Darstellungen Schwarzer, die Plattensammlung des 2014 verstorbenen „Godfather of House Music“, DJ Frankie Knuckles, über den 14.000 Bände umfassenden Bestand einer aufgegebenen Architekturbuchhandlung bis hin zu den mittlerweile digitalisierten und daher aussortierten Sammlungen von rund 60.000 Glasdiapositiven des Art Institute of Chicago und der University of Chicago. Zusätzlich aktiviert werden diese Orte durch Performances, Filmvorführungen und kommunale Kochabende, die allen Interessierten offen stehen.
Die Doppelrolle als Künstler und politischer Aktivist ist eine der Grundkonstanten in Leben und Werk Theaster Gates‘. In Bezug auf Black Madonna betont er: „Wichtig an diesem Projekt ist, dass es aus dem Geist der Reproduzierbarkeit und der Verbreitung heraus gedacht ist. Das wird an der Tatsache sichtbar, dass an allen vier Orten Teile der DNA der Black Madonna gezeigt werden… Ich werde an den verschiedenen Orten jedoch unterschiedliche Fragen aufwerfen, um die Breite meiner Auseinandersetzung mit diesem Thema aufzuzeigen.“ Allein in Basel ist die Schau auf zwei verschiedene Häuser aufgeteilt. Im Kunstmuseum Basel|Neubau sind überwiegend neue installative Arbeiten zu sehen, die Theaster Gates extra für seine Ausstellung in Basel geschaffen hat. Auch hier nimmt die Arbeit mit Archiven wieder großen Raum ein.
Das partizipativ angelegte „Facsimile Cabinet of Women Origin Stories“ (2018) etwa darf – das Überstreifen weißer Schutzhandschuhe vorausgesetzt – auch aktiv von den Besuchern genutzt werden. Theaster Gates präsentiert hier insgesamt 2.695 Faksimiles von Pressefotos aus dem Johnson Publishing Archive in Chicago. John H. Johnson (1918-2005) war der charismatische Gründer und Herausgeber der Magazine „Ebony“ und „Jet“. Während „Jet“ heute nur noch online verfügbar ist, erreicht das monatlich erscheinende Magazin „Ebony“ nach wie vor eine große Leserschaft. Beide waren ursprünglich als auflagenstarke Publikumszeitschriften angelegt. Neben Themen wie Mode, Entertainment oder Gesundheit widmeten sie sich jedoch auch der Berichterstattung über das Civil Rights Movement und die Meilensteine der afro-amerikanischen Emanzipation seit den 1960er Jahren. Für die Herausbildung eines afro-amerikanischen Selbstbewusstseins sind sie daher von essentieller Bedeutung. Angeregt vom Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel, hat Gates eine aus mehreren, jeweils acht Meter langen Modulen bestehende Struktur aus Archivschubladen gebaut. Die Schubladen dürfen geöffnet werden. Es können sowohl die Vorder- als auch die oft mit redaktionellen Informationen beschrifteten Rückseiten der Fotos betrachtet werden.
Acht durch Markierungen leicht modifizierte, historische Aufnahmen aus dem Johnson Publishing Archive hat Theaster Gates unter dem Titel „The Madonnas“ (2018) für die Wände des quadratischen Ausstellungsraums ausgewählt, um sie als gerahmte, großformatige Digitaldrucke aus der schieren Masse des Archivmaterials hervorzuheben. Die acht Frauen zeigt er als attraktive, nahezu unnahbar schöne Vertreterinnen eines selbstbewussten schwarzen Amerikas. Bewusst hat er hier unbekannte Frauen statt bekannter Stars ausgewählt. Eine dieser Aufnahmen dient im Übrigen auch als Postermotiv der Schau und ist überall in Basel großformatig plakatiert. Bewusst setzt Theaster Gates diese Bilder einer stereotyp rassistischen Medienwirklichkeit entgegen, die afro-amerikanische Frauen bis heute häufig als Bezieherinnen von Sozialleistungen, Drogenabhängige oder Dealerinnen darstellt.
Im zweiten Teil der Schau im Kunstmuseum Basel | Gegenwart steht jedoch der Produktionsgedanke stärker im Vordergrund. Gleich im Eingangsbereich hat Gates ein temporäres Tonstudio eingerichtet. Andere Räume bespielt er mit einer Druckwerkstatt, in deren Zentrum eine historische Heidelberger Druckmaschine steht. Hier gibt es für die Besucher zu bestimmten Zeiten die Möglichkeit, an kleinen Workshops mit dem Künstler teilzunehmen.
Für das Ausstellungsprojekt gibt es eine Vielzahl von Ausgangspunkten, die sich teilweise aus der persönlichen Biografie Theaster Gates, aus der Geschichte der Black-Power-Bewegung, aber auch aus der Kunst- und Religionsgeschichte insbesondere Basels und der Nordschweiz als zentralem Ausstellungsort der Tetralogie ergeben. Neben eigenen Arbeiten präsentiert Theaster Gates daher auch ausgewählte Exponate aus der Sammlung des Kunstmuseums, (eine Strategie, die er im Sprengel Museum Hannover fortsetzt). So zum Beispiel das Gemälde „Madonna mit Kind vor einer Landschaft“ (1530) von Maerten van Heemskerck. Bei seiner Recherche im Vorfeld der Schau stieß Gates auf die Schwarze Madonna von Einsiedeln, das beliebteste Pilgerziel der Schweiz am südlichen Zürichsee. Kopien dieses um 1466 entstandenen, spätgotischen Gnadenbildes existieren in verschiedenen weiteren Kirchen in der Schweiz und in Süddeutschland. Das kunsthistorisch ambivalente Phänomen der „Schwarzen Madonna“ ist zudem von Portugal über Polen bis nach Russland überall in Europa nachweisbar. Die schwarze Färbung der Haut wurde lange Zeit auf Rußablagerungen, die von Kerzen oder Petroleumlampen stammen, zurückgeführt. Bei Skulpturen erklärte man sie durch die Verwendung dunkler Hölzer. Seit dem frühen 20. Jahrhundert hat sich jedoch unter progressiven Kulturwissenschaftlern auch eine andere Lesart durchgesetzt, die von der bewussten Darstellung der Madonna als Angehörige einer ethnischen Gruppe mit schwarzer Hautfarbe ausgeht. Unter dieser Prämisse ist die Verehrung der Black Madonna als Ikone der Black-Power-Bewegung im 20. Jahrhundert leicht nachvollziehbar.
Für Theaster Gates selbst ist „Maria eine gewöhnliche Frau, die zu Außergewöhnlichem berufen wurde“. Seine Beschäftigung mit ihr als „wichtige Kraftquelle“ habe weniger mit Faszination als vielmehr mit Respekt und Verehrung zu tun. Diesen sehr persönlichen Zugang zur Black Madonna weitet er jedoch aus, indem er das religiöse Symbol neu kontextualisiert und so zum Platzhalter der modernen und selbstbewussten schwarzen Frau an sich macht. Auch wenn er dabei unter anderem auf prominente Repräsentantinnen und Rolemodels des Politik- und Kulturbetriebs wie Michelle Obama, Aretha Franklin oder Beyoncé verweist, so betont Theaster Gates doch insbesondere die Verehrungswürdigkeit der Heldinnen des Alltags: „Die ganz normale schwarze Frau wird nicht angemessen gewürdigt. Die Madonna repräsentiert für mich daher auch weibliche Feuerwehrleute, weibliche Nachrichtenmoderatorinnen, weibliche Wetteransagerinnen, weibliche Busfahrerinnen und weibliche Sozialarbeiterinnen.“
Die Musik spielt, wie bereits erwähnt, eine große Rolle im Werk von Theaster Gates. Während des Eröffnungsabends der Basler Ausstellung fand das Grand Opening Concert „Prayer for the Madonna“ mit Theaster Gates und seiner aus Musikern verschiedener Ethnien zusammengesetzten, experimentellen Jazz-Band „The Black Monks of Mississippi“ statt. Die eindringliche Musik mit Instrumentierung und improvisiertem Gesang kombiniert die Stilrichtungen Jazz, Blues und Gospel. Während der Eröffnungswoche wurden „Black Prayer“-Improvisationen von Theaster Gates und „The Black Monks of Mississippi“ im Kunstmuseum Basel | Gegenwart live und vor Publikum eingespielt. „The Vinyl Factory“ aus London wird diese Live-Aufnahmen demnächst als ein Set von Vinyl-LPs herausgeben.
Auch im Sprengel Museum Hannover hat es anlässlich der Verleihung des Kurt-Schwitters-Preises der Niedersächsischen Sparkassenstiftung am 22. Juni 2018 ein Konzert mit „The Black Monks of Mississippi“ gegeben. Theaster Gates ist der elfte Preisträger des mit 25.000 Euro dotierten Preises, der Künstlerinnen und Künstler würdigt, die einen Bezug zum Werk des Hannoveraners Kurt Schwitters aufweisen und in neue Bereiche künstlerischen Denkens vordringen.
In seiner im Vergleich zu Basel eher kleinen Ausstellung in der Oberen Sammlung des Sprengel Museums Hannover präsentiert Theaster Gates gleich zum Auftakt die Installation „A complicated relationship between heaven and earth or when we believe“ aus dem Jahr 2014. Ein hölzerner Ziegentorso, dessen hinterer Körperteil mit einer weißen Papierbahn bedeckt ist, ist auf einem Metallständer montiert, der sich, wenn der Einschaltknopf vom Aufsichtspersonal betätigt wird, auf einem ringförmigen Stahlgleis im Kreis dreht. Der im Titel bereits angedeutete religiöse Bezug dieser Arbeit durchzieht die gesamte Ausstellung, die auch hier wieder mit Black Madonna überschrieben ist. Verschiedene Neonarbeiten, Assemblagen, Reproduktionen aus dem Magazin „Ebony“, die wie in Basel aus dem Bildarchiv der Johnson Publishing Corporation in Chicago stammen, sowie eine Videoprojektion mit improvisiertem Jazz-Gesang bilden die Basis für Theaster Gates‘ Auseinandersetzung mit Religion, Black Power, rassistischen Vorurteilen und afro-amerikanischer Politik. Auch in Hannover stellt Theaster Gates wieder einen kunsthistorischen Bezug zur Sammlung des Museums her. Er integriert in seine Ausstellung die Skulptur „Mutter und Kind“ des expressionistischen Bildhauers Wilhelm Lehmbruck aus dem Jahr 1918 und lässt sie in einen Dialog mit seinen Arbeiten treten. Die unter einer Plexiglashaube auf einem Sockel präsentierte Lehmbruck-Skulptur hat Gates gegenüber seiner Arbeit „Eaves“ aus dem Jahr 2014 platziert, ein Wandrelief aus groben, sich überlappenden Holzschindeln. Hier wird einmal mehr ein biografischer Bezug deutlich, denn Theaster Gates war neben acht Schwestern der einzige Sohn eines Dachdeckers. Als Jugendlicher begleitete er seinen Vater häufig auf Baustellen.
Die Verwendung des Materials Teer in vielen seiner Arbeiten – hervorzuheben wäre hier eine sitzende Marienfigur aus Teer in der Basler Ausstellung, die Gates nach dem Vorbild eines abgegriffenen Schlüsselanhängers aus Plastik ins Monumentale vergrößert hat – ist daher nicht nur metaphorisch sondern durchaus auch autobiografisch ausdeutbar. Theaster Gates‘ Werk wirft eine Vielzahl gerade in der Trump-Ära virulenter werdender Fragen auf: Wie lässt sich Geschichte, namentlich die afro-amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen, erhalten und für die Zukunft nutzbar machen? Wie fremd sind sich Ethnien, Klassen und Geschlechter? Wie lassen sich jahrhundertelange Missachtung und Herablassung in einen respektvollen Umgang miteinander überführen? Wem gehört überhaupt die kulturelle Deutungshoheit über bestimmte, stark symbolisch besetzte Bilder wie die „Schwarze Madonna“? Wie lassen sie sich dem von Weißen dominierten Hegemonial-Diskurs entnehmen und für alle neu kontextualisieren?
Der Weg dahin ist nicht ganz einfach. In seiner unmittelbaren Umgebung, dem Chicago South District, jedoch hat Theaster Gates schon viel erreicht – und er macht weiter. Eine ehemalige katholische Schule ganz in der Nähe seines Studios wird er als Nächstes in einen kulturellen Ort umwandeln. Ausstellungsprojekte wie Black Madonna künden von seinem vielseitigen Engagement auch in Europa. Und er sieht, wie er jetzt dem Londoner Guardian verriet, durchaus Anlass zur Hoffnung auf eine Änderung der Machtverhältnisse: „Vielleicht“, so sagt er, „bietet die Komplexität der #MeToo-Debatte, die Tatsache, dass Frauen ihre Rechte geltend machen und sich artikulieren, die Chance, dass es mit der männerdominierten Welt, wie wir sie gewohnt waren, zu Ende geht, und dass damit auch die weiße Vorherrschaft fällt.“
Auf einen Blick:
Ausstellung Theaster Gates: Black Madonna
Ort: Kunstmuseum Basel
Zeit: bis 21. 10. 2018, Di 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Do-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen
Katalog: Black Madonna Press, 58 CHF
Internet: www.kunstmuseumbasel.ch
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Ausstellung: Theaster Gates: Black Madonna. Kurt-Schwitters-Preis der Niedersächsischen Sparkassenstiftung
Ort: Sprengel Museum Hannover
Zeit: bis 2.9.2018, Di 10-20 Uhr, Mi-So 10-18 Uhr, Mo geschlossen
Internet: www.sprengel-museum.de