Die zwölfte Ausgabe der Kunstmesse Art-O-Rama und andere Ausstellungshighlights laden zur Zeit zum Besuch der Kunstmetropole Marseille und ihrer Umgebung ein
Auf der Autobahn, die vom Flughafen Marseille Provence hinein ins Zentrum der Stadt führt, reihten sich am vergangenen Wochenende die Autos zu einem endlos langen Stau. Es sind die Tage des „Rentrée“, des Wiedereintritts der Weggefahrenen in die Stadt, das Ende der Sommersaison am Mittelmeer, das Ende der Urlaubszeit.
Zum Auftakt der Herbstsaison geht es besonders turbulent zu in Marseille. Die Stadt ist nicht nur voll mit ausländischen Städte-Touristen und französischen Heimkehrern, die wieder anfangen zu arbeiten. Die Kunstmesse Art-O-Rama markiert zudem den Höhepunkt des Kunstjahres in der alten Mittelmeerstadt. Die gesamte französische Kunstszene trifft sich hier, dazu internationale Sammler, Kuratoren, Galeristen und Journalisten, um an der Côte d’Azur neue Entdeckungen zu machen. Die Stimmung ist entspannt und euphorisch. Marseille gilt als beliebtes Ziel, zunehmend auch bei den Parisern, die die überteuerte, hektische und etwas versnobte Hauptstadt gerne für ein paar Tage gegen die sommerlich-relaxte Atmosphäre in der vergleichsweise günstigen Hafenstadt mit ihrem bunten Multi-Kulti-Charme tauschen. Auch wenn die Härten des Alltags hier nicht zu übersehen sind: Marseille ist ein gutes Pflaster für Künstler und Kuratoren. Unterschiedliche Organisationen offerieren internationalen Gastkünstlern in der Stadt und ihrer näheren Umgebung Atelierstipendien für längere Aufenthalte. Ein gezielter Austausch zwischen Kuratoren, Galerien und Künstlern findet insbesondere mit Partnerstädten wie Hamburg, Turin und Glasgow statt. Und die ganze Kunstszene in Marseille konzentriert sich bereits jetzt auf die Austragung der Manifesta 13 im Sommer 2020. Auf einer Pressekonferenz am Vernissage-Tag der Art-O-Rama wurde von der Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen bekannt gegeben, dass das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, vertreten durch einen seiner drei Mitgründer, Winy Maas, Jahrgang 1959, zusammen mit einem noch zu bestimmenden Kuratorenteam die Manifesta entwickeln wird.
Die zwölfte Ausgabe der Art-O-Rama findet nicht wie die vorherigen Ausgaben in der Kulturfabrik Friche La Belle de Mai statt, da dort dringend erforderliche Renovierungsarbeiten im Gange sind. Als neuer Austragungsort wurde das ehemalige Hafenterminalgebäude Hangar „J1“ direkt am Wasser gefunden. Erstmals ist die Art-O-Rama damit ins Zentrum der Stadt gerückt. Die Zeit der langen Anfahrtswege ist zumindest vorerst vorbei. Eine hohe Außentreppe führt in das denkmalgeschützte Gebäude aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit seiner historischen Balkendecke. Etwas unvorteilhaft und verschachtelt allerdings wurden die Messekojen in die eher tunnelartige Struktur hineingebaut, so dass der Besucher sich zunächst einmal etwas Orientierung verschaffen muss – zumal auch noch die auf zeitgenössische Zeichnung spezialisierte Parallelmesse Paréidolie mit in den Hangar eingezogen ist.
Atemberaubend hingegen sind die Ausblicke auf das Meer, den Hafen, die weißen Segelboote und die ankommenden und abfahrenden Fährschiffe durch die weiten Panoramafenster an den Außenseiten des Gebäudes.
„Jeder ist beeindruckt von diesem Gebäude und der Aussicht“, stellt denn auch Messedirektor Jérôme Pantalacci fest. Die Stadt Marseille unterstützt die Art-O-Rama, so dass die Kosten für die Aussteller mit 2.500 Euro pro Stand vergleichsweise niedrig sind. 15 Meter Wandfläche sind jedem Aussteller garantiert. 30 Galerien sind in diesem Jahr nach Marseille gereist, das sind vier mehr als im letzten Jahr. Dazu kommen Editeure und Einzelpräsentationen von Künstlern und Institutionen, so dass insgesamt 50 Stände gezählt werden können.
Ein besonderer Hingucker unter den Editeuren ist der Pariser Off-Space Rinomina, gegründet von der in Eritrea geborenen Italienerin Daniela Baldelli und dem Deutschen Markus Lichtiwas, die beide an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe Kunst studiert haben. Das Duo hat 36 internationale Künstler, etablierte und Newcomer gleichermaßen, gebeten, Künstler-T-Shirts zu entwerfen. Die Serie trägt den Titel „Polar-Editions“. Die hochwertigen weißen T-Shirts in limitierten 10er-Auflagen, angeboten für jeweils 50 Euro, erwiesen sich als Renner. Daniela Baldelli zeigte sich am Ende der Messe überaus erfreut über den Verkaufserfolg.
Rund die Hälfte der Galeristen auf der Art-O-Rama nimmt zum wiederholten Male teil, die andere Hälfte ist zum ersten Mal nach Marseille gereist. Die Renovierungen am Stammaustragungsort der Messe, dem Kunst- und Kulturzentrum Friche Belle La de Mai werden im nächsten Jahr höchstwahrscheinlich noch nicht abgeschlossen sein. Dennoch ist Jérôme Pantalacci optimistisch, auch 2019 wieder ein attraktives Ausweichquartier präsentieren zu können. „Die Veranstaltung hat sich gut etabliert. Die Stadt wird uns helfen, einen guten Ort zu finden, so dass wir die Kosten für die Aussteller niedrig halten können.“
Bereits zum wiederholten Mal auf der Art-O-Rama dabei ist die Galerie Sabot aus Cluj-Napoca in Rumänien. Sie präsentieren eine ganze Wand mit Arbeiten des italienischen Künstlers Stefano Calligaro, der sich auf selbstironische Art und Weise mit dem Formel-Eins-Rennstall Ferrari auseinandersetzt. Obwohl weder im Besitz eines Autos, noch eines Führerscheins, gibt sich Calligaro als großer Fan des Renn-Zirkus zu erkennen. Sein karikaturhaft verfremdetes Selbstporträt hat er auf kleinformatigen Gemälden frech in das Ferrari-Logo hineinmontiert. Daneben auf dem Boden präsentiert sind in bester Readymade-Tradition Luxusgegenstände en miniature aus der ironischen Perspektive eines verarmten Künstlers. Die subversive Installation führt einen Michelin-Führer, eine kleine Champagnerflasche, einen Spielzeug-Ferrari von Matchbox, Kaviarimitat und andere vermeintliche Luxusgüter beiläufig zusammen. Sie stammt von dem in Paris lebenden spanischen Künstler Pepo Salazar, Jahrgang 1972. Sie wird für 3000 Euro angeboten. Weitere Künstler der Galerie zeigt Galeristin Daria D. Pervain als „Sommer-Basar“ auf einer von der Meeresoberfläche inspirierten, horizontalen Linie nebeneinander präsentiert. „Auf der Art-O-Rama herrscht immer eine gute Atmosphäre“, sagt Daria D. Pervain „Es ist leicht, hier mit den Besuchern ins Gespräch zu kommen. Man kann hier gute Kontakte machen.“
Das bestätigt auch Jennifer Chert von der Berliner Galerie ChertLüdde. Sie zeigen den Argentinier Gabriel Chaile, Jahrgang 1985, der, ausgehend von einem dystopischen Film über das Aussterben der Arten auf der Erde, surreale Gemälde und Skulpturen zwischen Melancholie und Komik entwickelt hat. Die einzige überlebende Art stakst etwas ungelenk auf spindeldürren eisernen Beinen herum, während ihr Körper aus einem Backstein besteht, der von einem Hühnerei gekrönt ist. Die Gemälde kosten 2.000 Euro (plus MwSt.), die Skulpturen liegen zwischen 4.000 und 7.500 Euro (plus MwSt.).
Ein tierischer Eyecatcher fand sich auch am Stand der Night Gallery aus Los Angeles. Deren Künstler Josh Callaghan, Jahrgang 1969, beschäftigt sich seit langem mit Tauben. So hat er für die Messe zwei übergroße Stadttauben naturalistisch nachgebildet. Der Clou ist der „Poo“, also der in diesem Falle äußerst malerisch aufgefasste, fleckige Taubenkot auf dem Boden. „Wenn die Leute nach all der Ernsthaftigheit der Messe auf die Tauben stoßen, sind sie ganz angetan und machen Fotos“, so Josh Callaghan. Die Galerie, die seit neun Jahren besteht, nimmt zum ersten Mal an der Art-O-Rama teil. „Es ist eine gute Messe, um unsere Beziehungen zu Europa auszubauen“, sagt Galeristin Davida Nemeroff. „Wir fühlen uns hier sehr willkommen.“
Eine Solopräsentation dann bei Philipp von Rosen aus Köln. Er zeigt an seinem Stand kleine Papierarbeiten von Walther Dahn, Jahrgang 1954. Der Kölner Künstler, einst einer der Hauptvertreter der „Jungen Wilden“, bezeichnet sie als „Malereien auf Papier“. Sie changieren zwischen Abstraktion und Figuration. Die kleinen Arbeiten entstehen kontinuierlich in einem eher meditativen Akt. Die Präsentation in Marseille umfasst den Zeitraum von 1974 bis heute. Die gerahmten Papierarbeiten sind für 1.400 bis 2.400 Euro im Angebot.
Eine echte Entdeckung war dann am Stand der Galerie Sophie Tappeiner aus Wien zu machen. Zu sehen sind analoge Fotografien der 1985 geborenen polnisch-deutschen Künstlerin Sophie Thun, die an der Wiener Akademie unter anderem bei Daniel Richter und Martin Guttmann studiert hat.
Sophie Thun, Jahrgang 1985, kombiniert Fotogramme mit Selbstporträts. Durch Experimente in der Dunkelkammer erzielt sie malerische Effekte. Für ihre neuen Arbeiten fotografierte sie unter anderem in einem Hotelzimmer in der Marseiller Cité Radieuse, der denkmalgeschützten „Wohnmaschine“ von Le Corbusier, die Architekturliebhaber aus aller Welt nach Marseille lockt. Die raffiniert durchkomponierten Unikate sind ab 2.000 Euro im Angebot. Eine Investition, die sich lohnen könnte, denn Sophie Thun dürfte im nächsten Jahr zusätzliche internationale Aufmerksamkeit bekommen, da sie auch auf der Biennale Venedig vertreten sein wird.
Ein Besuch der zwischen 1947 und 1952 errichteten Cité Radieuse ist nicht nur für Architekturfans ein Must. Auf der Dachterrasse des gigantischen Wohngebäudes, das 337 Apartments unterschiedlichsten Zuschnitts beherbergt, präsentiert der 1944 geborene schweizerische Maler Olivier Mosset noch bis Ende September eine aufwendige Intervention.
Auf zwei Wänden aus Aluminiumpaneelen, die längere misst mehr als 18 Meter, hat er Autolack aufgetragen, der durch sein changierendes Farbspiel fasziniert. Die öffentlich zugängliche Terrasse erhält so eine bühnenhafte Aufladung. Das reflektierte Sonnenlicht verwandelt die metallene Oberfläche in eine Art Kinoleinwand und bildet so das Setting für imaginäre Dreharbeiten oder einen Catwalk. Der Motoradliebhaber Mosset, er lebt heute in Tucson, Arizona, präsentiert zudem im Ausstellungsraum eine ebenfalls malerisch modifizierte Harley Davidson, mit der er bereits die Wüste Arizonas durchquerte.
Für Gesprächsstoff in Marseille sorgt derzeit auch die Ausstellung „Fan-Tan“ des chinesischen Künstlers Ai Weiwei im Mucem. Er kombiniert eigene Werke mit Exponaten aus der Sammlung des 2013 eröffneten Museums der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers direkt an der Wasserfront. Zudem setzt er sich mit der Geschichte seines Vaters, des Dichters Ai Qing auseinander, der im Jahr 1929 mit dem Schiff nach Marseille kam. Zu sehen ist unter anderem ein aufschlussreicher Schwarz-Weiß Film, den Laszlo Moholy-Nagy im Jahr 1929 am Vieux Port in Marseille drehte.
In der Kulturfabrik Friche La Belle du Mai wetteifern gleich vier aktuelle Ausstellungen um Aufmerksamkeit. Produziert vom Goethe-Institut Marseille wurde die Schau „Noss Noss“ in der im Erdgeschoss gelegenen Salle des Machines, die die in Marseille lebende deutsche Künstlerin Katrin Ströbel kuratiert hat. Sie hat internationale Künstler eingeladen, die als Nomaden in verschiedenen Ländern und Kulturen leben und sich künstlerisch mit der Migration auseinandersetzen. In Hamburg lebt beispielsweise der Brasilianer Filipe Lippe, der eine eher konzeptuell-anthropologische Arbeit zum Thema Wanderung zwischen den Welten entwickelt hat. Die Ungarin Timea Anita Oravecz thematisiert hingegen in ihrem dreiteiligen Video die Absurdität der Behördenwillkür anhand ihrer eigenen Geschichte als nomadisierende Künstlerin, die sich gezwungen sieht, mit wechselnden Identitäten zu operieren, um an ihren präferierten Hochschulen zu studieren.
Die beiden Kuratorinnen Céline Kopp und Marie de Gaulejac haben unter dem Titel „Vos Désirs Sont Les Nôtres“ eine sehenswerte Gruppenausstellung mit Künstlern, die in Marseille ein Atelierstipendium hatten, realisiert. In verschiedenen Medien setzen sich die Arbeiten mit politischen, erotischen und urbanen Themen auseinander – oftmals mit Humor und Ironie.
Das Künstlerpaar Marie Péjus und Christophe Berdaguer aus Marseille hat eine ganze Etage in einen abwechslungsreichen Ausstellungsparcours verwandelt. Die überwiegend bildhauerischen und installativen Arbeiten entstanden extra für La Friche. Sich durch die Anwesenheit der Betrachter langsam vermischender schwarzer und weißer Quarzsand auf dem Boden, grünes Licht, Maschinen, geometrische Körper und immer wieder neue, überraschende Sichtachsen markieren den Ausstellungsraum und erzeugen eine surreale Anmutung.
Die vierte Ausstellung in La Friche präsentiert die vier Nachwuchskünstler des französischen Wettbewerbs Audi Talents.
Nur eine Stunde entfernt von Marseille in Arles hat die Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann auf einem ehemaligen Eisenbahngelände die Luma Foundation gegründet. Nach und nach bespielt sie die von der deutschstämmigen New Yorker Star-Architektin Annabelle Selldorf renovierten Hallen mit hochkarätiger Kunst. Zur Zeit zu sehen ist eine Retrospektive des Londoner Künstlerduos Gilbert & George, die von den Kuratoren Hans-Ulrich Obrist und Daniel Birnbaum zusammengestellt wurde und einen exzellenten Überblick über das Gesamtwerk der beiden Exzentriker gibt. Gerade in der heutigen Zeit erhält ihr stark politisch unterfüttertes Werk eine brennende Aktualität.
Auf dem Gelände wird zur Zeit ein neues Gebäude des Star-Architekten Frank O. Gehry errichtet. Nach seiner Einweihung voraussichtlich im Frühjahr 2020 dürfte dies ein weiteres Highlight für die Region sein, das nicht nur Kunst- sondern auch Architekturpilger nach Arles locken wird.
Noch bis Sonntag, 9. September bleibt die Art-O-Rama geöffnet. Auch wenn die Galeristen abgereist sind, ist die Messe als Ausstellung weiter zu sehen. Der Sommer an der Côte d’Azur geht langsam zu Ende. Die Art-O-Rama und ihr Umfeld setzen ein starkes Zeichen für den Saisonstart des Kunstherbsts 2018. Auch wenn bereits der Mistral durch die Straßen fegt, und das Meer langsam abkühlt – der Hunger nach Kunst ist im Süden Frankreichs offenbar ungebrochen.
www.art-o-rama.fr
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