Die 6. Ausgabe der Biennale von Rennes verzichtet ganz bewusst auf ein übergeordnetes Thema – das Kuratorenduo Céline Kopp und Étienne Bernard betont dagegen die enge diskursive Zusammenarbeit mit den eingeladenen Künstlern. Viele der Arbeiten sind extra für die Biennale entstanden. Andere sind von zeitloser Brisanz. Gerade deshalb gelingt es der Schau, die Finger in die offenen Wunden unserer Zeit zu legen
Gegründet wurde die Biennale von Rennes vor zehn Jahren mit dem Ziel, Kunst, Wirtschaft und kreatives Denken in einer der boomendsten Städte Frankreichs zusammenzubringen. Rennes, die Hauptstadt der Region Bretagne, ist zur Zeit die Stadt mit dem zweithöchsten Bevölkerungswachstum in Frankreich. 60% der Einwohner sind jünger als 40 Jahre, was nicht zuletzt daran liegt, dass von rund 215.000 Einwohnern etwa 63.000 Studenten sind. Gerade erst wird der Hauptbahnhof in futuristischem Design umgestaltet. Der TGV verbindet die bretonische Metropole mit der Hauptstadt Paris in weniger als zwei Stunden.
Kunst und Wirtschaft in Einklang zu bringen, das klingt allzu sehr nach Stadtmarketing und stromlinienförmiger Publikumsbespaßung. Für die beiden Kuratoren der diesjährigen Ausgabe der Biennale war das allerdings keine Option mehr: „Die vorherigen Ausgaben haben zu einer Perspektiverweiterung, was den Umgang mit Werken und künstlerischer Praxis innerhalb der Felder Kunst und Ökonomie angeht, beigetragen. Darauf aufbauend, haben wir jedoch den unbedingten Wunsch, gemeinsam mit den Künstlern darüber nachzudenken, wie sich die Vision einer Welt entwickeln lässt, die nicht mehr von einem orthodoxen ökonomischen Denken geprägt ist, das unseren zivilisatorischen Blick unablässig lenkt und formt. Schließlich haben die Wörter „Ökonomie“ und „Ökologie“ ja das gleiche Präfix gemeinsam.“
Céline Kopp, Direktorin von Triangle France in Marseille, und Étienne Bernard, Direktor von Passerelle Centre d’art contemporain in Brest, legen ihre Finger vielmehr in die offenen Wunden unserer Zeit und Gesellschaft. Statt bloß politisch korrekter, ästhetisch jedoch wenig anspruchsvoller Thesenkunst wie auf der letzten Documenta, zeigen sie in ihrer mit dem Titel „À Cris Ouverts“ überschriebenen Schau Werke, die auch aufgrund des Zusammenspiels zwischen ihrer komplexen Machart, ihrer raffinierten technischen Umsetzung und ihrer materiellen Eleganz überzeugen.
An insgesamt zehn Ausstellungsorten, acht davon in Rennes, jeweils einer in Saint-Brieuc und in Brest, präsentieren sie eine eher überschaubare Zahl von 31 künstlerischen Positionen – zwei davon sind Künstlerduos – so dass insgesamt 33 Künstler an der Biennale teilnehmen. Die niedrige Zahl der Teilnehmer bedeutet jedoch keineswegs, dass auf dieser Biennale wenig zu sehen ist. Die beiden Kuratoren ziehen es vor, den ausgestellten Künstlern viel Raum für ihre Präsentationen einzuräumen.
So etwa der 1982 geborenen, in Los Angeles lebenden, queeren US-Künstlerin Wu Tsang und ihrer 2017 entstandenen Zwei-Kanal-Videoprojektion „We hold where study“. In fünf Kapiteln sieht man zwei halb tanzende, halb miteinander kämpfende Paare, eines auf einer sommerlichen Wiese, das andere in einer leeren Industriehalle. Im Wechsel des Mit- und Gegeneinander, des Missverstehens und Umarmens, der Liebe und des Hasses, des Für und des Wider entstehen eindringliche Bewegungsabläufe im Stil des modernen Ausdruckstanzes, etwa von Yvonne Rainer, deren Arbeit Wu Tsang genau studiert hat. Unterlegt ist die knapp 20minütige Arbeit mit dem eindringlichen Sound des norwegischen Komponisten und Saxofonisten Bendik Giske.
Licht und Dunkelheit, Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit, die Rückeroberung verlorengegangenen Terrains, Emanzipation, queere Identitäten, kulturelle Hybridität, Spiritualität, Rituale, Schmerz, Trauer, Selbstreinigung, Katharsis, Elastizität, Fluidität, Prekarität, die post-industrielle Gesellschaft, Nachhaltigkeit, Abfall und Hygiene. Das sind nur einige Begriffe und Gedankenstränge, die der Biennale Struktur geben. Céline Kopp zum kuratorischen Konzept: „Nichts hier ist linear, dafür gibt es eine Vielzahl von Echos und Dialogen über ganz verschiedene Epochen hinweg. Es geht um ganz unterschiedliche Künstler, die sich aber für die gleichen Dinge interessiert haben – allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Es ging uns darum, Dinge zu zeigen, die auch jenseits der Linearität traditioneller Kunstgeschichtsschreibung miteinander in Einklang sind.“
Mit der Dualität von sichtbarer und nicht-sichtbarer Welt, dem Ausblenden und Marginalisieren einzelner Personen oder Ethnien mit Außenseiterstatus oder ganzer gesellschaftlicher Bereiche befassen sich gleich mehrere Künstler in den Räumen des FRAC Bretagne. Zum Beispiel der US-Amerikaner Terry Adkins (1953-2014). Seine Skulptur „Nutjuitok (Polar Star)“ rückt die von der offiziellen Geschichtsschreibung weitgehend unterschlagene Lebensgeschichte des farbigen Amerikaners Matthew Henson (1866-1955) in den Fokus. Henson war der entscheidende Akteur im Expeditionsteam des weißen Polarforschers Robert Peary. Er war es wohl auch, der als erster den vermeintlichen Nordpol erreichte und dort die US-Flagge ins Eis rammte.
Um das Tilgen von Spuren ganz anderer Art geht es in den Arbeiten der 1939 geborenen New Yorkerin Mierle Laderman Ukeles. Was sie umtreibt, formulierte sie bereits 1969 ironisch in ihrem „Manifesto for Maintenance Art“: „Am Montagmorgen nach der Revolution, wer holt da eigentlich den Müll ab?“ Mierle Laderman Ukeles agiert an der Schnittstelle von Feminismus, Aktivismus und sich in den Alltag einmischender Performance Art. Sie hat sich in den 1970er und 1980er Jahren intensiv mit der New Yorker Stadtreinigung beschäftigt.
Im Rahmen ihres in Form von Fotografien dokumentierten „Touch Sanitation“ Projekts etwa schüttelte sie allen 8.500 New Yorker Müllwerkern die Hand, sie dokumentierte die Routen der Müllautos und legte so eine zuvor den Blicken der Öffentlichkeit verborgene Kartografie des Abfalls und der Entsorgungswege offen. Im Rahmen ihres performativen Projekts „Washing“ (1974) wiederum reinigte sie, zu zuvor öffentlich bekannt gemachten Zeiten, bestimmte Straßenecken mit Bürsten und Seifenlauge. Stets elegant angezogen und perfekt frisiert, hinterfragte sie so stereotype weibliche Rollenzuschreibungen, stellte aber auch allgemeinere Fragen zu Tilgungs- und Eliminierungsmechanismen im innerstädtischen Raum. Ihre frühen Arbeiten gelten heute als Meilensteine der Performance Art.
Gleich an mehreren Ausstellungsorten, so auch im FRAC, präsentieren die beiden Kuratoren auch Gemälde des aus Rennes stammenden Außenseiter-Künstlers Yves Laloy (1920-1999). Laloy war ursprünglich als Architekt in Rennes tätig. Nachdem er beleidigende Briefe an den Polizeichef geschrieben hatte, musste er die Stadt verlassen. Die nächsten 40 Jahre seines Lebens verbrachte er auf ausgedehnten Reisen, die ihn in unterschiedlichste Weltgegenden wie Nordafrika oder Neufundland führten.
Seine Arbeiten kommen häufig in Form geometrischer Kompositionen daher, die mit lebenden Kreaturen bevölkert sind. Eine große Rolle spielen aber auch die Titel in Form linguistischer Wortspiele. So etwa bei dem Gemälde „Les petits pois sont verts… les petits poissons rouges“ (etwa: Die kleinen Erbsen sind grün… die kleinen roten Fische) aus dem Jahr 1959. Zu sehen sind zwei stilisierte Goldfischgläser, jeweils bevölkert mit Fischen und Erbsen in Grün oder Rot. André Breton, der ein großer Bewunderer Laloys war, hätte diesen ohne Weiteres in die Surrealistische Gruppe aufgenommen. Laloy selbst zog es jedoch vor, seinen Einzelgängerstatus zu pflegen. Ihn jetzt im Kontext zeitgenössischer Kunst zu zeigen, spricht für den generationenübergreifenden Ansatz der Kuratoren.
Um Kategorien der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit geht es auch bei etlichen anderen im FRAC gezeigten Arbeiten. So etwa in dem 1979 entstandenen, experimentellen Kurzfilm „Water ritual #1: an urban rite of purification“ der kalifornischen Künstlerin Barbara McCullough, Jahrgang 1945. Zu sehen ist eine junge afro-amerikanische Frau in hippiehafter Kleidung in einer Art Abbruchhaus auf einer innerstädtischen Brachfläche. Zunächst unterlegt von schamanistischen Gesängen und Grillenzirpen, agiert sie mit verschiedenen pflanzlichen und mineralischen Materialien. Nachdem sie beim Mörsern in einer Kokosnussschale ein weißes Pulver erzeugt hat, dieses in ihren Handflächen verrieben und durch Pusten verteilt hat, kehrt sie in der nächsten Szene, mittlerweile vollkommen nackt, zurück und uriniert ganz am Schluss in sitzender Haltung auf den steinigen Boden.
Der zu Beginn noch an Afrika erinnernde Sound ist mittlerweile avantgardistischem Free-Jazz gewichen. Aufgenommen wurde dieser Film im Stadtteil Watts, der 1965 Schauplatz der bis dahin blutigsten politischen Unruhen in den USA war. Im Laufe der sechstägigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der überwiegend aus Afro-Amerikanern und Latinos bestehenden Bevölkerung gab es 34 Tote. Dieser 16mm-Experimentalfilm mit der Performerin Yolanda Vidato gilt als eines der frühen Schlüsselwerke des schwarzen feministischen Films. Die knapp sechsminütige Narration vereint stark symbolische, spirituelle Handlungsweisen mit selbstbewusster Körperlichkeit und politisch motivierter Raumaneignung.
Das Grillengezirpe noch im Ohr, findet sich der Besucher dieser Biennale irgendwann in der Halle de la Courrouze, einem weiteren großen Venue, wieder. Der 1986 geborene Franzose Julien Creuzet empfängt die Betrachter seiner Multimedia-Installation mit einem Soundmix, der neben Sprechgesang und Perkussion auch Grillengezirpe enthält.
Auch Jesse Darling, eine 1988 geborene, in London und Berlin lebende Bildhauerin, die zur Zeit auch mit einer Einzelausstellung in der Tate Britain geehrt wird, hat hier einen besonders großen Auftritt. Ihre zwischen Leichtigkeit und Brutalität fein austarierte Arbeit „A Fine Line“ (2018) erinnert an eine Wäscheleine, eine Girlande oder jahrmarkttypische Lichterkette. Aufgereiht sind diverse Kinderspielzeuge, Geschirrhandtücher, Plastiktüten, Windspiele und andere ebenso bunte wie praktische beziehungsweise dekorative Objekte. Unterbrochen wird dieses Sammelsurium aus dem 99-Cent-Paradies jedoch immer wieder durch Stücke von NATO-Stacheldraht mit messerscharfen Klingen, der dem Ganzen etwas Unheimliches und Bedrohliches verleiht.
Doch zurück zum Venue an sich. Das alte Militär-Arsenal aus dem 19. Jahrhundert ist mit seiner großen Fensterfront, Sheddach und gusseisernen Säulen bestens für großformatige Arbeiten und Installationen geeignet. Herausragend hier ist der Film „Mnemosyne“ (2010) des 1957 in Ghana geborenen Londoner Künstlers John Akomfrah. Das konzeptuell aufgebaute, in neun Kapitel unterteilte Werk kombiniert schwarz-weißes Archivmaterial der BBC mit vom Künstler selbst aufgenommenen, elegischen Sequenzen, die eine in winterliche Kleidung verhüllte Person beim Durchschreiten von endzeitartigen Schnee- und Eislandschaften an der britischen Küste zeigen.
Akomfrah kontrastiert diese Szenen mit Archivaufnahmen, die einerseits die mit großen Hoffnungen verbundene Ankunft von Einwanderern aus dem Commonwealth, andererseits aber auch deren wenig glanzvolle reale Wohn- und Arbeitsbedingungen in der streng nach Klassen und Ethnien aufgeteilten britischen Gesellschaft zeigen. Ursprünglich mit Textzeilen aus John Miltons epischem Gedicht „Paradise Lost“ (1667) unterlegt, wird der Film in Rennes noch um Untertitel mit Beschreibungen der Neuen Welt ergänzt, die von dem in der Bretagne geborenen, romantischen Dichter und Forschungsreisenden François-René de Chateaubriand (1768-1848) stammen.
Mit einem ganz anderen virulenten Thema, nämlich den Auswüchsen der Reproduktionsmedizin, beschäftigt sich dann die 1985 geborene französische Künstlerin Anne Le Troter. Für die Realisierung ihrer neu für die Rennes-Biennale entstandenen, multimedialen Installation „The Four Fs: Family, Finances, Faith and Friends“ hat sich Anne Le Troter als potenzielle Kundin bei einer privaten Samenbank im Süden der USA registrieren lassen. Um die in einer großen betretbaren Box befindliche Arbeit zu erleben, müssen die Besucher zunächst eine Schiebetür öffnen und dann durch einen Vorhang aus kleinen weißen Kanülen, wie sie zum Einfrieren von Sperma verwendet werden, schreiten.
In dem heruntergekühlten Raum wird der Betrachter dann mit der Hybris dieser Branche konfrontiert: Weibliche Stimmen preisen die körperlichen Merkmale und den Charakter der anonymen Spender an. In einer Diashow und zusätzlich auf daumennagelgroßen Fotos an der Wand sind deren geschönte Porträts zu sehen. In einem Aquarium werden verschiedenfarbige Kontaktlinsen permanent durcheinandergewirbelt. Le Troter entwirft hier ein beängstigendes Szenario komplett durchkommerzialisierter und in High-Tech-Labore verlagerter menschlicher Fortpflanzung – das leider in einigen Teilen der Welt bereits zum Alltag geworden ist.
Ein weiterer Eye-Catcher in der Halle de la Courrouze sind die Arbeiten von Richard Bacquié (1952-1996). Der im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Künstler wird nur noch selten ausgestellt. Für das Kuratorenduo Céline Kopp und Étienne Bernard war gerade das aber ein Grund, sein Werk einmal einem größeren Publikum vorzustellen. Die Arbeit „Epsilon“ aus dem Jahre 1986 besteht aus einem über und über mit Rost überzogenen Renault 16, der scheinbar auf eine metallene Wand zurollt, die aus überdimensionierten Blockbuchstaben besteht, welche das Wort „ZERO“ bilden. In die Motorhaube des schrottigen Gefährts ist zudem der Satz „Rien juste la mémoire de la lumière“ (Nichts als die Erinnerung an das Licht) hineingefräst.
Indem Bacquié ausgerechnet diesen einst weit verbreiteten Wagentyp, der in Frankreich lange Zeit als Symbol des allgemeinen Wohlstands in der seit den 1960er Jahren boomenden Industriegesellschaft galt, in eine Art nihilistisches Setting setzte, schuf er bereits vor mehr als 30 Jahren ein Memento mori des langsam zu Ende gehenden Industriezeitalters, das heute angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Außergewöhnlich ist auch das Design der Plakate, Drucksachen und Tote-Bags dieser Biennale. Es besteht aus schwarzen, pinselstrichartigen Balken, die sich mal mehr, mal weniger überlagern, teils fast opake Cluster bilden, um dann wieder recht luftig nebeneinander zu existieren. Diese Mischung aus Durchstreichungen, Markierungen und kalligrafischen Elementen kommt ganz ohne Buchstaben und Logos aus, ist variantenreich, aber dennoch auf den ersten Blick wiedererkennbar. Entworfen hat das Corporate Design dieser Biennale der Pariser Grafiker Jean Marc Ballée.
Céline Kopp: „Wir haben ihn ganz früh in unser Team geholt. Sogar bevor wir irgendwelche Künstler eingeladen haben. Es ging darum, eine Art übergeordnete Grammatik zu finden. Eigentlich eine unmögliche Aufgabe. Wir wollten etwas von ihm, das alles zugleich ist: nicht zentriert, nicht statisch, ungestüm und ruhig, fröhlich und anstrengend, schnell und langsam. Er ließ sich auf diese Aufgabe ein, und ich finde, er hat sie ganz wunderbar gemeistert.“
Die Biennale bezieht ihren Reiz auch aus der bewusst angelegten Unterschiedlichkeit der verschiedenen Venues. Dazu noch einmal Céline Kopp: „Jeder Ausstellungsort hat seine ganz eigene Art von Intensität. Im FRAC etwa ist es die Spannung zwischen Schmerz und Schönheit. Im Museé des Beaux-Arts geht es eher um Desorientierung, Chaos, die Aufhebung strenger Vorschriften und Regeln, wohl wissend, dass man sich in einer sehr traditionellen und historischen Sammlung befindet, die beispielhaft dafür steht, wie Kunstsammlungen in Frankreich aufgebaut wurden.“
Zurück in der Innenstadt von Rennes: Im 1794 gegründeten Musée des Beaux-Arts de Rennes mischt sich die Biennale unter die Werke der hochkarätigen, mehrere Jahrhunderte umfassenden Sammlung. Gleich im Foyer wird der Besucher von den an Totems oder schamanistische Kultobjekte erinnernden, lebensgroßen Figurinen des Brasilianers Kenzi Shiokava, Jahrgang 1938, empfangen. Auch hier schließt sich wieder ein Kreis. Der Sohn japanischer Einwanderer, der schon seit mehreren Jahrzehnten in Los Angeles lebt, führt uns zurück nach Watts, jenen durch den Aufstand von 1965 bekannt gewordenen Stadtteil von Los Angeles, in dem auch Barbara McCullough ihren Film „Water ritual #1: an urban rite of purification“ gedreht hat.
Shiokava, der enge Kontakte zur afroamerikanischen Community pflegt, findet in Watts die Materialien für seine assemblageartig zusammengefügten Skulpturen: Eisenbahn-schwellen, ausgediente Strom- und Telegrafenmasten, aber auch Pflanzen kurz vor dem Absterben, die er in seinem Garten findet. Diese, so meint er, verfügen über eine große spirituelle Aufladung. Sie verkörpern für ihn den Kreislauf von Leben und Tod. Indem Shiokava seine Stelen mit Muschelketten und mit in Makrameetechnik geknüpften Schnüren behängt, ruft er zudem afrikanische wie brasilianische Traditionen auf.
Ebenfalls im Musée de Beaux-Arts zu sehen sind die zum zivilen Ungehorsam aufrufenden Siebdrucke von Sister Corita Kent (1918-1986), aber auch die raumfüllende Installation „Revisiting Genesis“ (Work in Progress seit 2016) der israelischen Künstlerin Oreet Ashery, Jahrgang 1966. Oreet Ahery präsentiert in einem ganz in Weiß gehaltenen Raum alle zwölf Folgen ihrer Web-Serie zum Sterben im Digitalzeitalter. Der in Amsterdam lebende Brite Dan Walwin, Jahrgang 1986, wiederum hat für seine ausufernde, Themen der Ökologie und der Zersiedelung berührende Installation „Bridge with sound“ (2018) nach dem Vorbild ägyptischer Grabkammern zwei begehbare, tunnelartige Strukturen gebaut, in denen er unter anderem Drohnenaufnahmen von Landgewinnungsprojekten in den Niederlanden präsentiert.
Mit Arbeiten wie diesen, einem umfangreichen Performance-Programm, Kuratorenführungen, Künstler(-innen)gesprächen und Lectures fackelt die 6. Ausgabe von „Ateliers des Rennes – biennale d’art contemporain“ in der bretonischen Hauptstadt ein wahres Feuerwerk der zeitgenössischen Kunst ab. Das Bestechende an dieser Großausstellung ist die zutiefst humanistische kuratorische Sorgfalt, mit der die unterschiedlichsten künstlerischen Positionen zu einem großen Ganzen voller tiefgründiger Anspielungen auf all das, was uns letzlich als Menschen formt und ausmacht, zusammengeführt werden. Die Schau zeigt auf, wofür es sich in der heutigen, politisch angespannten Zeit über nationale, ethnische, geschlechtsspezifische und Altersgrenzen hinweg zu kämpfen lohnt. Viel mehr kann eine Kunstausstellung dieser Größe nicht erreichen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: 6. Rennes Biennale für zeitgenössische Kunst – À Cris Ouverts
Ort: Rennes, Saint-Brieuc, Brest, insgesamt zehn verrschiedene Ausstellungsorte, davon acht in Rennes
Zeit: bis 2. Dezember 2018
Katalog: Guide Book in französischer und englischer Sprache, 80 S., ohne Abb., kostenlos
Internet: www.lesateliersderennes.fr
Rennes Art Weekend: 15.-18. November 2018. Zahlreiche Künstler sind dann anwesend.