Das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster kombiniert in der Ausstellung „Vita Duplex“ rund 140 Werke des irisch-amerikanischen Malers und Bildhauers Sean Scully mit Texten des Künstlers
Man muss gar nicht mal ins LWL-Museum hineingehen, um mitzubekommen, dass Sean Scullys Kunst in Münster angekommen ist. Exakt vor dem Eingang des Hauses – mit Blick auf den romanischen Dom der Stadt – hat Scully mit der elf Tonnen schweren Skulptur „Moor Shadow Stack“ (2018) einen kaum zu übersehenden Blickfänger platziert. Das fast fünf Meter hohe Werk besteht aus rund zwei Dutzend quadratischen Cortenstahl-Platten, die mit leichten Versätzen zu einem Stapel geschichtet sind. Und es erinnert an ein festes Ritual aus der Kindheit des Künstlers. Scullys Vater, ein Friseur, brachte seine Kupfergeld-Einnahmen nach der Arbeit mit nach Hause, wo sie am abendlichen Esstisch der in London lebenden Familie gemeinsam gezählt und zu kleinen Stapeln aufgetürmt wurden.
Genau an diesem Punkt sind wir bereits bei dem, was die Kunst des 1945 in Dublin geborenen US-amerikanischen Malers in ihrem Kern ausmacht. Die Ambiguität zwischen Pathos und Melancholie, die Dualität zwischen dem sprachlich Fassbarem und seiner haptischen Umsetzung in Form eines Werks. Alle seine Arbeiten vermitteln dem Betrachter zugleich auch etwas über die persönlichen Erlebnisse, Gefühle und Erinnerungen des Künstlers im Moment ihres Entstehens. „Nichts ist abstrakt“, sagt Scully, „Es ist immer noch ein Selbstbildnis. Ein Bildnis des eigenen Zustands.“
Rund 140 Werke aus den vergangenen 50 Jahren sind jetzt in der sehenswerten Ausstellung „Vita Duplex“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster zu sehen. Neben großformatigen Gemälden in Öl und Acryl versammelt die Schau auch Pastelle, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgrafik, Skizzenbücher, Fotografien und bildhauerische Werke. Bilder sind für Scully „Flächen, die über einen Zeitraum entstehen“. Man sieht seinen warmtonigen Gemälden, die das Motiv der Linie, des Gitters, des Rechtecks und des Quadrates in gedeckten, gebrochenen Farben seit Anfang der 1970er Jahre immer wieder neu durchdeklinieren, an, wie mühsam der Prozess ihrer Herstellung sein muss. Da werden Farben aufgetragen, wieder weggeschabt oder ausgekratzt, von Neuem geschichtet und entfernt, bis am Ende ein für Scully gültiges, vielschichtiges und stimmungsvolles Gemälde dabei herauskommt. Überreste, Schatten und Sedimente der Zwischenstadien aber künden von der kräftezehrenden Genese der Bilder.
Die Schau setzt ein mit noch deutlich von der Op Art und der Minimal Art beeinflussten Streifen- und Gitterbildern, die seit Anfang der 1970er Jahre entstanden. Grau- und Schwarztöne dominieren hier. Scully, der damals im britischen Newcastle upon Tyne lebte und arbeitete, ließ sich unter anderem von der Gitterstruktur der sechs Brücken über den Tyne inspirieren, die er als ein Signum der architektonischen Moderne auffasste. Räumliche Tiefe, Hell-Dunkel-Kontraste, perspektivische Überlagerungen, aber auch ein gewisses Interesse an Ruhe, Ordnung und Klarheit kennzeichnen diese Werke.
In den 1980er Jahren beginnt Scully jedoch bereits, die „perfekte“ Form und Ausführung zusehends zu vermeiden. Seine Bildkörper werden objekthafter, quasi rustikaler, und vor allem setzt er an der Wand verschiedene Gemälde unterschiedlicher Formate zu mehrteiligen, physisch stark präsenten und ebenso spirituell aufgeladenen Bildkörpern zusammen. Eine besondere Bedeutung kommt auch den sogenannten „Insets“ zu. Hier dient eine große, mit einer rechteckigen Leerstelle versehene Leinwand quasi als Einschubfläche für ein oder mehrere kleinere Leinwände. Erst aus dem kontrastierenden Zusammenspiel der miteinander verschmelzenden, jedoch unabhängig voneinander entstandenen Leinwände erhalten die Werke ihre Spannung. Beispielsweise werden hier horizontale und vertikale Linien oder Schachbrettstrukturen miteinander ins Verhältnis gesetzt.
Scully, der bereits mit neun Jahren den Entschluss gefasst hatte, Künstler zu werden, machte zunächst eine Lehre als Schriftsetzer, ehe er mit 20 ein Kunststudium aufnahm. Eine Marokko-Reise, die er mit 24 unternommen hatte, schärfte seinen Sinn für Textilien, Farben, Ornamente und das Licht des Südens. Zeit seines Lebens ist der kosmopolitische Künstler ein mit offenen Augen Reisender geblieben. Reiseaufnahmen aus Irland, Brasilien, Schottland oder Spanien in der Münsteraner Ausstellung zeugen davon. 1983 wurde er, mittlerweile in New York ansässig, US-Bürger. 1984 bereits erfolgte der internationale Durchbruch. Scully, der lange Zeit auch in Barcelona gelebt und gearbeitet hat, unterhält heute Ateliers in New York und Mooseurach südlich von München.
Das große Verdienst der Münsteraner Ausstellung besteht aber auch darin, Scullys bildnerische Produktion erstmals im deutschsprachigen Raum im Kontext seiner gehaltvollen Schriften zu präsentieren. Rechtzeitig zur Eröffnung der Schau erschien jetzt die deutsche Übersetzung des kleinen Bandes „Inner“ mit poetisch-philosophischen Reflexionen des Künstlers über die Natur des Menschen, seine Sehnsüchte und Ängste. Etliche Zitate daraus sind auf den Wänden der Ausstellungsräume nachzulesen und tragen so zum tieferen Verständnis dieser von persönlichen Erlebnissen, aber auch von Landschaft, Architektur, Kunstgeschichte, Literatur und Musik inspirierten, zutiefst humanistischen Kunst bei.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Sean Scully. Vita Duplex
Ort: LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
Zeit: bis 8. September 2019
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, 2. Freitag im Monat 10.00 bis 24.00 Uhr.
Katalog: Hatje Cantz Verlag, 240 S., 38,00 Euro
Internet: www.lwl.org