Die 49. Art Basel lockt mit einem fulminanten Angebot moderner und zeitgenössischer Kunst Sammler aus aller Welt in die Schweiz. Die kuratierte Sektion Unlimited legt aber auch mutig den Finger in die offenen Wunden unserer Zeit
Größer könnte der Kontrast kaum sein. Im größten Messetrubel in der Unlimited Halle auf der Art Basel stehen die Besucher Schlange für ein Erlebnis der unheimlichen Art. Der saudi-arabische Künstler Abdulnasser Gharem, Jahrgang 1973, vertreten durch die Kölner Galerie Nagel Draxler, hat im Eingangsbereich eine begehbare Gummizelle aufgebaut, wie man sie in psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen findet. Die gelbe Plastikmarkise am Eingang der Arbeit dürfte den meisten Messebesuchern noch aus der TV-Berichterstattung über die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul bekannt sein. Die Besucher treten einzeln oder zu zweit ein und dürfen nur 40 Sekunden an diesem unheimlichen Ort verweilen. Auf einem Sektionstisch aus Edelstahl finden sie große Stempel mit Politikeraussagen und Literaturzitaten, in welchen es um Macht und Gewalt geht. Die Besucher sind aufgefordert, sich einen davon auszusuchen und mit blutroter Stempelfarbe einen Abdruck auf den weißen Gummiwänden zu hinterlassen, die sich nach und nach rot einfärben. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Diese plakative, politisch stark aufgeladene Arbeit ist nur eines von 75 großformatigen Projekten im Rahmen des Unlimited Sektors. Messedirektor Marc Spiegler, der in den USA Politische Wissenschaften studiert hat, ehe er als Kunstmarkt-Journalist tätig war und 2012 zum Global Director der Art Basel berufen wurde, legt großen Wert darauf, dass auf der Unlimited nicht nur leicht konsumierbare, marktgängige Projekte gezeigt werden, sondern immer auch gesellschaftliche Bruchstellen und die Ränder des Kunstbetriebs mit in den Fokus genommen werden.
In diesem Jahr letztmals kuratiert von dem in New York lebenden Schweizer Gianni Jetzer, versteht sich Unlimited als eine Plattform für raumgreifende Installationen, monumentale Skulpturen und Gemälde, Videoprojektionen und Performancekunst. Giovanni Carmine, Direktor der Kunsthalle Sankt Gallen und Jetzers designierter Nachfolger, dürfte diese Linie in den nächsten Jahren fortsetzen. Die diesjährige Ausgabe bewegt sich ganz zwischen den Polen laut und leise. Im Zentrum der 17.000 Quadratmeter großen Halle präsentiert etwa der deutsche Künstler Daniel Knorr seine spektakuläre Installation „Laundry“. Aus Leinwänden zusammenmontierte Autos werden von Performern durch eine Autowaschanlage geschoben, deren Bürsten mit Farbe präpariert sind. Das Resultat dieses lauten Happenings sind quietschbunte Autos im Stil des Abstrakten Expressionismus.
Ebenfalls laut ist die performative Skulptur „Breathing“ der in Berlin lebenden italienischen Künstlerin Monica Bonvicini. Die feministische Künstlerin lässt einen monumentalen Hexenbesen aus zusammengebundenen schwarzen Ledergürteln von der Decke herabbaumeln. Angetrieben durch einen Kompressor, verwandelt sich das schwarze Gebilde in regelmäßigen Abständen in ein berserkerhaftes Folterinstrument, das wild und unkontrolliert durch den Raum schwingt.
Politisch aufgeladene Arbeiten sind nicht selten auf der Unlimited. Der farbige Berliner Künstler Marc Brandenburg thematisiert in seiner Videoarbeit „Camouflage Pullovers“ mit spielerischem Ernst den alltäglichen Rassismus auf Berliner Straßen. Und die kalifornische Künstlerin und feministische Aktivistin Andrea Bowers präsentiert unter dem Titel „Open Secret“ eine Art „Wand der Schande“ mit ausführlichen Dokumenten zu rund 200 im Rahmen der #MeToo-Debatte bekannt gewordenen Fällen sexueller Übergriffe. Eine durchaus kontroverse Arbeit: Eine der geschlagenen Frauen war geschockt von der ungefragten Zurschaustellung auch von Opfern und verlangte die sofortige Entfernung ihres Fotos.
Ganz im Gegensatz dazu steht die Slow Motion-Performance „ovoid solitude“ des in New York lebenden kosovarischen Künstlers Sislej Xhafa. Xhafa hat ein viele Meter langes Rollgitter installiert, wie es bei Ladengeschäften in Nord- und Südamerika zu finden ist. In einer türgroßen Öffnung sitzt Raúl Postillo Zamá, ein distinguierter älterer Herr, der in Kuba als Eierverkäufer tätig ist. Der Künstler hat ihn eigens aus Kuba einfliegen lassen. Jetzt beobachtet er mit allergrößter Gelassenheit das Messegeschehen. Hin und wieder beugen sich Besucher zu ihm herunter, um dem einsamen Mann etwas Gesellschaft zu leisten. Sislej Xhafas performative Installation hat zwar einen etwas voyeuristischen Unterton. Dennoch ist sie Entschleunigung pur. Angesichts des hektischen Messegeschehens bietet sie einen Pol absoluter Ruhe und Gelassenheit.
Ebenfalls eine große Portion Ruhe und Gelassenheit vermittelt die Installation „Nirvana“ des chinesischen Künstlers Xu Zhen. In einem an ein Spielkasino erinnernden Raum hat Xu Zhen sechs große Roulettetische aufgebaut. Während der ganzen Messe sind chinesische Performer damit beschäftigt, aus eingefärbtem Sand die Spielfelder zu konstruieren. Sobald sie mit der Herstellung der Sand-Mandalas fertig sind, wird alles zusammengefegt, und sie beginnen ihre Sisyphos-Arbeit wieder von vorne. Sie benutzen dazu eine jahrhundertealte Schütttechnik tibetischer Mönche. Glücksspiel und Meditation, das große Geld und die innere Einkehr, Hektik und Ruhe werden hier spielerisch miteinander vereint.
Kontrastprogramm dann in den benachbarten Messehallen 2.0. und 2.1. Hier präsentieren 290 Galerien aus 34 Ländern Kunst von der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegenwart. Wer an den allerneuesten Tendenzen interessiert ist, beginnt seinen Messerundgang am besten in der Statements Sektion mit 18 jungen Einzelpositionen. Bei der Berliner Galerie Chert Lüdde zum Beispiel ist ein bühnenbildartiges Setting des in Berlin lebenden, spanischen Künstlers Alvaro Urbano, Jahrgang 1983, zu sehen. Die Arbeit „Ever Since Night Falls“ kommt als immersive Installation aus 29 Skulpturen daher, die allesamt von Details aus zerstörten oder verloren gegangenen Kunstwerken inspiriert sind. Das Spektrum reicht von steinzeitlicher Höhlenmalerei über Caravaggio, Caspar David Friedrich, Frida Kahlo, Eva Hesse, Pablo Picasso bis hin zu Andy Warhol und Rachel Whiteread.
Große Aufmerksamkeit gab es auch für die beiden Art Statement-Teilnehmer, die den diesjährigen mit je 30.000 Schweizer Franken dotierten Bâloise Art Preis erhalten haben. Die international besetzte Fachjury entschied sich für die italienische Künstlerin Giulia Cenci, vertreten durch die Galerie SpazioA aus Pistoia, sowie für die in Paris lebende chinesische Malerin Xinyi Cheng, repräsentiert von der Pariser Galerie Balice Hertling. Die in Amsterdam lebende Bildhauerin Giulia Cenci, Jahrgang 1988, hat die gesamte Koje mit einer Installation aus gefundenen Maschinenteilen, Zivilisationsmüll und modifizierten natürlichen Materialien zu einer dystopischen „Urban Landscape“ verdichtet. Die in den USA und an der Rijksakademie in Amsterdam ausgebildete Xinyi Cheng, Jahrgang 1989, wiederum zeigt figurative Gemälde in einer exzellenten Maltechnik. Ihr bevorzugtes Bildsujet sind junge, spärlich bekleidete Männer in ambivalenten, leicht melancholischen Momenten nach der Lustbefriedigung durch Sex, Wein, Tabak, Delikatessen oder anderes. Die in nahezu altmeisterlicher Technik dargestellten Figuren entstammen allesamt ihrem persönlichen Umfeld. Xinyi Cheng malt in einer eher freien Interpretation nach Fotovorlagen. Das überkommene Klischee vom männlichen Maler und seinem weiblichen Modell dreht sie selbstbewusst um. Bereits eine Stunde nach Messeöffnung war die gesamte Koje ausverkauft. Die Gemälde kosteten je nach Format 10.000 – 30.000 Euro.
Einen starken Auftritt hat auch die Berliner Galerie neugerriemschneider. Der sofort ins Auge fallende Stand steht unter dem Thema „Welle“, ausgehend von einer in einer Vitrine präsentierten Porzellanwelle des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Der Frankfurter Konzeptkünstler Thomas Bayrle hat den gesamten Stand mit einem wellenartigen Fries aus blau-weißen Smartphone-Darstellungen versehen. Ein knallgelber Industriefußboden unterstreicht die Optik. Arbeiten von Rirkrit Tiravanija, Olafur Eliasson oder Michel Majerus zu den Themen Naturgewalten, Brandung und Progressivität werden, umrahmt von dem Fischschwarm aus Smartphone-Umrissen, präsentiert.
Die ebenfalls in Berlin ansässige Galerie Esther Schipper hat Arbeiten unter anderem von Ugo Rondinone, Dominique Gonzalez-Foerster und Martin Boyce mit nach Basel gebracht. Der zur Zeit im internationalen Ausstellungsbetrieb stark präsente britische Konzeptkünstler Simon Fujiwara wiederum zeigt Architekturfragmente aus Burj Al Babas, einer türkischen Geisterstadt und Investitionsruine mit hunderten leerstehenden Villen im Stil französischer Schlösser.
Am Stand der Düsseldorfer Galerie Kadel Willborn ist eine neue Arbeit der US-amerikanischen Konzeptfotografin Barbara Kasten für 40.000 US-Dollar im Angebot. Die 1938 geborene, ursprünglich als Malerin ausgebildete Fotografin aus Chicago ist in Europa noch ein Geheimtipp. Das könnte sich jedoch demnächst ändern. Das Kunstmuseum Wolfsburg plant im nächsten Jahr eine große Retrospektive mit Werken von Barbara Kasten. Diese wird die erste institutionelle Einzelausstellung der überwiegend analog arbeitenden Fotografin in Europa sein. Außerdem am Stand von Kadel Willborn zu sehen: eine wandfüllende Tapisserie der in Berlin lebenden Kanadierin Shannon Bool, die die Architektur von Le Corbusier subversiv mit den Rundungen Kim Kardashians verquickt. Die Arbeit in einer 3er-Auflage mit jeweils individuell bestickten Partien wird für 38.000 Euro angeboten.
Die Berliner Galerie Thomas Schulte zeigt eine mechanische Arbeit mit auf- und absteigenden Messern der 1944 geborenen Bildhauerin Rebecca Horn für 375.000 Euro sowie einige gestische Körperzeichnungen der Berlinerin. Passend dazu wurde gerade eine große Übersichtsschau von Rebecca Horn im Museum Tinguely in Basel eröffnet, in der auch viele frühe Arbeiten der Künstlerin gezeigt werden. Daneben fiel das großformatige Gemälde „White Moon Abyss“ (2006) der 79-jährigen US-Amerikanerin Pat Steir ins Auge. Die äußerst produktive New Yorkerin feiert im hohen Alter große Erfolge auf dem Kunstmarkt. Das abstrakte Gemälde aus ihrer Serie „Waterfall“, das in einer Schütttechnik entstanden ist, ist bei Thomas Schulte für 660.000 US-Dollar im Angebot.
Die Kunstmesse Art Basel bietet jedoch nicht nur der gut betuchten Sammlerklientel ein attraktives Angebot an qualitativ hochwertiger Kunst. Auch für kunstinteressierte Besucher ohne Kaufabsicht gibt es spannende Formate wie etwa das Art Film Programm mit einer exzellenten Auswahl an Künstlerfilmen im Stadtkino Basel. Daneben feiert in diesem Jahr der beliebte Sektor Art Parcours sein zehnjähriges Jubiläum. Hier werden für die Dauer der Messe 20 ortsspezifische Kunstprojekte im Stadtraum rund um den Münsterplatz präsentiert. Mit dabei sind etwa Dan Graham, Camille Henrot oder Matias Faldbakken.
Zu den Highlights der diesjährigen Art Basel zählte auch das performative Environment „Aggregate“ der rumänischen Tänzerin und Choreografin Alexandra Pirici. In einem eigens auf dem Messeplatz errichteten, aufblasbaren Zeltpavillon führten 63 weibliche und männliche Performer eine immer wieder neu improvisierte Abfolge von Formationen, Schwarmbildungen und anderen Choreografien auf. Diese waren zuvor in tagelangen Proben erarbeitet worden. Den an die Kuppelbauten Buckminster Fullers erinnernden Pavillon hatte Piricis Landsmann Andrei Dinu entworfen. Referenzpunkte für die sich jeweils über mehrere Stunden entwickelnde Aufführung waren unter anderem Camille Claudels Marmorskulptur „Sakantula“ , Michelangelos „David“, rumänische Volkslieder, Yoga-Stellungen, politische Demonstrationen und ein Song von Depeche Mode.
Auch wenn vermehrt von Messemüdigkeit, dem harten Überlebenskampf kleinerer Galerien und einer Verlagerung des Geschäfts ins Internet zu hören ist: Der Art Basel mit ihren drei Standorten in Basel, Miami und Hongkong geht es nach wie vor blendend. Damit neben Global Playern wie Gagosian, Hauser & Wirth oder David Zwirner auch neue Galerien ihre Chance erhalten, unterstützt Messedirektor Marc Spiegler Erstteilnehmer in diesem Jahr erstmals mit einer Reduktion des Quadratmeterpreises um 20 Prozent. Ob diese Massnahme ausreicht, wird sich zeigen. Im nächsten Jahr wird auf jeden Fall erst einmal der 50. Geburtstag der Messe mit einer großen, federführend von Kasper König kuratierten Jubiläumsausstellung gefeiert.
Auf einen Blick:
Messe: 49. Art Basel
Ort: Messe Basel
Zeit: 13. bis 16. Juni 2019, 11-19 Uhr
Katalog: Art Unlimited Katalog: 60 Euro
Art Basel Jahrbuch: 70 Euro
Internet: www.artbasel.com
Nächster Termin: 18. bis 21. Juni 2020