Die Kunstmesse Art-O-Rama in Marseille am Ende des Sommers ist immer wieder ein Ort für Entdeckungen. Ein Dreivierteljahr, bevor die Manifesta 13 in Marseille an den Start geht, wurde die diesjährige Art-O-Rama zum begehrten Treffpunkt für Sammler, Künstler, Kuratoren und Kritiker
„Und nächstes Jahr im Juni sehen wir uns alle wieder in Marseille.“ So lautete einer der häufigsten Sätze auf der Art-O-Rama, der kleinen, feinen Kunstmesse in der südfranzösischen Mittelmeerstadt. Die 13. Ausgabe der Manifesta in Marseille wirft bereits ihre Schatten voraus. Das Kuratorenteam der nomadisierenden, europäischen Biennale trifft sich regelmäßig in Marseille, besucht Ateliers und Ausstellungsorte, hört sich um und entwickelt so nach und nach ein Gespür für diese Stadt, die geprägt ist von Einwanderung, kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden, ihrer traumhaften Lage am Meer und einem mediterranen Lebensgefühl, das bei aller vordergründigen Leichtlebigkeit auch immer wieder brutale Härten durchscheinen lässt.
Dieses gesellschaftliche Klima bietet jedoch eine gute Folie für Kunstproduktion und Ausstellungen. Ob Marseille jedoch auch der Ort ist, an dem der Kunstmarkt gut funktioniert, bezweifeln viele. „Es geht auf der Art-O-Rama jedoch gar nicht in erster Linie um Verkäufe“, sagt die ausstellende Galeristin Vesselina Sarieva aus Bulgarien. „Ich bin froh, dass ich meine Künstlerin hier in Marseille einem guten Publikum präsentieren kann, das aus Kuratoren, Künstlern, Kritikern, einigen Sammlern und Kollegen besteht.“ Vesselina Sarieva hatte die bulgarische Künstlerin Rada Boukova, Jahrgang 1973, mit nach Marseille gebracht. Die in Paris lebende Boukova nimmt Isolierplatten, wie man sie von der Wärmedämmung kennt, zum Ausgangspunkt einer ihrer Werkgruppen. Die Normplatten in Türkis rahmt sie mit dünnen, schwarzen Leisten und präsentiert sie als Tafelbilder in verschieden großen Kombinationen. Was erstaunt, ist die jeweils etwas unterschiedlich ausfallende Körnung der Oberflächen, die dann doch jeder einzelnen Platte so etwas wie Individualität verleiht. In diesem Jahr ist Rada Boukova mit einer dieser Readymade-Arbeiten auch auf der Biennale Venedig vertreten. Dort hat sie die türkisfarbenen Platten ortsspezifisch in den ehemaligen Bürogebäuden der Biennale platziert, die in diesem Jahr als offizieller bulgarischer Pavillon dienen. Das Land kehrt mit dieser Präsentation nach zehn Jahren Abwesenheit zurück zur Biennale.
Die diesjährige Ausgabe der Art-O-Rama fand wieder an ihrem angestammten Ort im Kulturzentrum Friche la Belle de Mai statt. Im vergangenen Jahr musste die Messe aufgrund von Renovierungsarbeiten in ein Quartier direkt am Wasser ausweichen. 31 Galerien aus Frankreich sowie 12 weiteren Ländern waren in diesem Jahr nach Marseille gereist, darunter viele Teilnehmer, die schon seit mehreren Jahren dabei sind, sowie einige Newcomer. Einige Erfahrung mit der Messeteilnahme an der Art-O-Rama hat der Kölner Galerist Philipp von Rosen gesammelt. Er zeigte den aus Österreich stammenden Künstler Florian Schmidt, Jahrgang 1980, mit neuen Arbeiten. Die in Bricolagetechnik entstehenden, dreidimensionalen Arbeiten sind jeweils mit einer monochromen, in vielen Schichten aufgetragenen, matten Farbe versehen. Seine in Serie entstehenden Arbeiten wirken auf den ersten Blick wie zweidimensionale Malerei. Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch die Dreidimensionalität, die durch das sorgfältige Konstruieren etwa von Buchbinderkartonagen auf der Leinwand entsteht. Florian Schmidt hat bei mehreren Professoren an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg studiert, unter anderem bei Daniel Richter und Wim Wenders. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Eine Malerin, deren Werk gerade vom internationalen Kunstbetrieb neu beziehungsweise wiederentdeckt wird, ist die 80-jährige, seit den 1960er Jahren in Paris lebende Niederländerin Jacqueline de Jong. Die Galerie Dürst Britt & Mayhew aus Den Haag präsentierte eine Reihe von stark farbig gehaltenen Gemälden aus den 1980er Jahren, die auf beliebten Detektivgeschichten der Schwarzen Serie basieren, wie man sie aus weit verbreiteten Heften und Büchern kennt. Jacqueline de Jong lässt sich in ihrer Malerei von den Titeln dieser Detective Stories inspirieren und erfindet prägnante Szenerien, die von Gewalt, Sex, aber auch einem untergründig-schwarzen Humor geprägt sind. Ergänzt wurde die Standpräsentation von kleinen Installationen mit Trompe l’œil-Effekten des in Brüssel lebenden Franzosen Alexandre Lavet, Jahrgang 1988. Der Clou: Alle ausgestellten Objekte wie Kissen, Bücher, handbeschriebene Zettel, Flugtickets oder Bierdosen sind eigenständig hergestellt, sozusagen „handmade“, und verführen die Besucher fast schon dazu, sie zu berühren. In Korrespondenz zu Jacqueline de Jongs figurativen Gemälden bildeten Alexandre Lavets Arrangements einen sehr besonderen Kontrast.
Ebenfalls zwei Positionen hatte die junge Wiener Galeristin Sophie Tappeiner mit nach Marseille gebracht. Für Sophie Tappeiner war es die zweite Teilnahme an der Art-O-Rama in Folge. Sie zeigte mythisch-narrativ aufgeladene Keramiken und Gemälde der 1990 geborenen, in Wien lebenden östereichisch-ecuadorianischen Künstlerin Anna Schachinger sowie zarte, vielschichtige Malereien der 38-jährigen Berlinerin Sophie Reinhold, die in Leipzig, Berlin und Wien ausgebildet wurde. Sophie Tappeiner möchte sich in ihrem Galerieprogramm auf Künstler konzentrieren, „die nicht jeden Hype mitmachen“. So betreibt sie langfristig ausgerichtete, nachhaltige Galeriearbeit, für die eine Messe wie die Art-O-Rama genau das richtige Format ist.
Für große Aufmerksamkeit sorgte der Stand der Galerie Alexander Levy. Der Berliner hatte den US-amerikanischen Künstler Colin Snapp, Jahrgang 1982, mit nach Marseille gebracht, der sich in seinen Fotografien, Videoarbeiten und Installationen mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens Tourismus auseinandersetzt. In seinem Werk untersucht er nicht nur die eingetretenen Pfade touristischer Ziele in den USA, sondern thematisiert auch die langsam in Vergessenheit geratenden Eigenschaften der analogen Fototechnik.
Ein ästhetisch besonders überzeugendes Fotodiptychon des US-Amerikaners Peter Downsbrough hatte der Pariser Editeur GDM im Angebot. Die beiden aufgrund eines minimalen Perspektivwechsels leicht unterschiedlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von einer Ausfallstraße in Las Vegas aus dem Jahr 2016 wurden in einer 5er-Auflage angeboten, die komplett verkauft wurde.
Für „bestes Kuratorenfutter“ sorgte der Stand des Zürcher Labels Provence. Unter diesem Label verbergen sich eine von Künstlern gegründete Kunst- und Modezeitschrift sowie das Zürcher Modelabel „Thema Selection“ aus dem Jahr 1971. Das Label ging ursprünglich aus einer Gruppe junger Frauen aus der Zürcher Subkultur hervor, die damals Häuser besetzten und eng mit der Kunstszene verbunden waren. Gleichzeitig aber wurde schlichte, tragbare Mode für beruflich erfolgreiche Frauen entworfen.
Ein ganzes Lebensgefühl ging von diesem Zürcher Modelabel und seinem Umfeld aus, zu dem auch Protagonisten wie Martin Kippenberger, Bice Curiger, Sigmar Polke und Walter Pfeiffer gehörten. Auf der Art-O-Rama präsentierte der Mitherausgeber des Magazins Provence, Jean-Claude Freymond-Guth, nicht nur Originalfotos und Vintage-Kleidung sondern auch Teile des Archivs, darunter zahlreiche Polaroid-Aufnahmen. „Viele Besucher kannten diese Geschichte noch gar nicht und waren sehr interessiert“, so der Schweizer. „Daraus könnte sich vielleicht sogar eine Ausstellung entwickeln.“
Ein Dauergast auf der Art-O-Rama ist die rumänische Galerie Sabot aus Cluj-Napoca. Sie zeigte unter anderem die Künstlerin Camilia Filipov, geboren 1990 in der Republik Moldawien, mit der 2019 entstandenen Wandarbeit „Rhythm (Study in Red)“. Rote Holzbretter wurden von der Künstlerin nach einem Zufallsprinzip zertreten und neu an der Wand arrangiert, so dass die Bruchstücke eine Art Lebenslinie bilden.
Eine starke fotografische Position präsentierte die Galerie Hot Wheels Projects aus Athen. Der griechische Künstler Yorgos Prinos, Jahrgang 1977, zeigt in seiner Street Photography-Serie in mehreren Kapiteln Menschen, die durch Blindheit oder andere körperliche Handicaps von der Masse isoliert sind. Diese politische Serie entstand auf den belebten Straßen von Manhattan.
Die Londoner Galerie Bosse & Baum hatte subtile Buntstift-Zeichnungen der Londonerin Catherine Parsonage, Jahrgang 1989, mit nach Marseille gebracht. Persönliche Anekdoten, nah herangezoomte Details von Gegenständen und intime Blicke auf den menschlichen Körper stehen im Zentrum dieser Arbeiten, die auf einer von einer großen Hand dominierten Wand gezeigt wurden.
Für den kleinen Geldbeutel hatte das Pariser Kollektiv More Projects noch eine Auswahl ungewöhnlicher Unikate im Angebot. Sie hatten verschiedene Second Hand-Vinyl-Schallplatten an eine Reihe von Künstlern geschickt mit der Bitte, sie umzugestalten. Der Stand des Projekts „Toomanyrecords“ mit günstigen Unikaten für je 500 Euro von Künstlern wie Mathieu Mercier, Saâdane Afif oder Sophie Thun war stets umlagert. Zahlreiche Arbeiten konnten verkauft werden.
Auch wenn nach dem intensiven Eröffnungswochenende der Art-O-Rama die meisten Galerien und Messe-Gäste wieder abgereist waren, boten die beiden Messedirektoren Jérôme Pantalacci und Véronique Collard Bovy noch bis zum 15. September Gelegenheit für ein größeres Publikum, die Art-O-Rama anzuschauen. Sie funktioniert dann nicht mehr als Kunstmesse sondern als Ausstellungsprojekt, das auch Schülern und jungen Kunstinteressierten den Zugang zu zeitgenössischer Kunst ermöglichen soll. Der nächste nicht zu verpassende Termin in Marseille dürfte dann die Eröffnung der Manifesta Anfang Juni 2020 sein.
Auf einen Blick:
Messe: Art-O-Rama. International Exhibition of Contemporary Art
Ort: Marseille, Friche la Belle de Mai
Zeit: 30. August bis 1. September 2019 (Messe)
- September bis 15. September 2019 (Ausstellung)
Internet: www.art-o-rama.fr