Der Kunstherbst in Paris hat viele Höhepunkte. Nach der erfolgreichen Messewoche mit der FIAC, der Paris Internationale und weiteren Nebenmessen rüstet sich die französische Hauptstadt jetzt für die Paris Photo. Zuwachs auch für die Galerienszene: Der New Yorker Mega-Dealer David Zwirner hat im Oktober seine Pariser Dependance im Marais eröffnet
Es ist kühl in diesen Pariser Herbsttagen. Das Laub fällt langsam von den Bäumen herab. In den Tuilerien unweit des Louvre, wo gerade die große Herbstschau von Leonardo da Vinci eröffnet hat. Doch halt, etwas Ungewöhnliches entdeckte der Passant da Ende Oktober hoch in den fast schon kahlen Bäumen. Drei Stühle thronten auf den Ästen dreier Bäume im Kreuzungsbereich der großen Allee. Waren es improvisierte Baumhäuser von Klimaaktivisten oder Hochsitze von Stadtjägern? Junge Mediatoren gaben freundlich und kenntnisreich Erklärungen ab. Die Stuhl_Installation ist ein Werk des Schweizer Künstlers John Armleder mit dem Titel „Sans titre (Furniture sculpture – 3 chaises)“, ursprünglich 1985 entworfen und 2019 nochmals realisiert. Es handelte sich um eine temporäre Installation innerhalb des Außenskulpturen-Projekts Hors les Murs, das seit einigen Jahren parallel zur Kunstmesse FIAC in den Gärten der Tuilerien stattfindet. 23 Außenskulpturen namhafter Künstler wie Alex Katz, Jenny Holzer, Katinka Bock oder Shana Moulton waren dieses Jahr in den Tuilerien versammelt und lockten nicht nur die regelmäßigen Parkbesucher auf den Pfad der Kunst. Auch Paris-Besucher aus aller Welt wurden so darauf aufmerksam gemacht, dass nur ein paar Fußminuten entfernt im Grand Palais die große Pariser Herbstmesse FIAC (Foire internationale d’art contemporain) ihre Tore geöffnet hatte.
Vom Vernissagetag am 16. Oktober bis zum letzten Tag der Messe am 20. Oktober strömten fast 75.000 Besucher in die lichtdurchfluteten Hallen des im Jahr 1900 errichteten Veranstaltungshauses. Das war eine Steigerung um drei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das allseits beliebte Grand Palais steht vor einer umfassenden Renovierung. Die FIAC und auch die am 6. November startende Fotomesse Paris Photo müssen daher ab dem Jahr 2021 zunächst einmal ausweichen und sich Übergangsquartiere suchen.
Dem Erfolg der FIAC tut dieser Umstand jedoch keinen Abbruch. Die Stadt Paris boomt – sowohl generell als auch als Kunststandort. Die Unsicherheit für den Kunststandort London, die mit dem Brexit-Chaos einhergeht, ist überall Gesprächsthema. Davon profitiert offenbar insbesondere Paris. Weltweit operierende Blue Chip-Galerien wie Marian Goodman und Gagosian haben bereits Filialen in der französischen Hauptstadt eröffnet. Jetzt ist auch der deutsch-amerikanische New Yorker Händler David Zwirner dazugekommen. Während der FIAC eröffnete der gebürtige Kölner seine sechste Filiale weltweit, die erste in Kontinentaleuropa. Zwirner, der seit über 30 Jahren im Geschäft ist, entschied sich bewusst für den Standort Paris.
„Wir werden hier in unserer Pariser Filiale französische und internationale Künstler zeigen, die bisher noch keine Galerievertretung in Paris haben“, sagt Justine Durrett, eine der Direktorinnen von Zwirner Paris. Die international aufgestellte Galerie mit Standorten unter anderem in New York, London und Hongkong konnte in Paris die ehemaligen Galerieräume des legendären, auf Konzeptkunst spezialisierten Galeristen Yvon Lambert im Herzen des Marais übernehmen. Hier auf rund 800 Quadratmetern will David Zwirner neben wechselnden Ausstellungen seiner Künstler in der zentralen Ausstellungshalle auch Präsentationen mit Künstlern aus dem Galerieprogramm in den Seitenkabinetten veranstalten. „Dieser Ort inspiriert unsere Künstler“, schwärmt Galeriedirektorin Justine Durrett.
Die erste Show in den frisch renovierten Räumen ist eine Einzelausstellung des New Yorker Künstlers Raymond Pettibon, Jahrgang 1957, mit dem Titel „Frenchette“. Seit den Anfängen der Galerie David Zwirner im Jahr 1985 in New York ist der für seine politisch-literarischen Zeichnungen bekannte Pettibon fest im Programm. In Paris wird er seit 1995 zum ersten Mal wieder umfassend gezeigt. Der rastlose Raymond Pettibon arbeitet in seinem Atelier stets an mehreren Serien gleichzeitig. Die mit oftmals ironischen Textbotschaften versehenen, sozialkritischen, die Comicsprache aufgreifenden Zeichnungen enthalten viele Anspielungen auf die Weltliteratur, etwa auf Marcel Proust oder William Shakespeare. „Sie stehen in einer Linie mit den Karikaturen von Honoré de Daumier“, erläutert Co-Galeriedirektorin Victoire de Portalès. Das dürfte vor allem die Franzosen interessieren. Die Galerie David Zwirner erwartet in der Rue Vieille du Temple jedoch ein gemischtes Publikum: Pariser, Franzosen und internationale Besucher.
Während der FIAC-Woche hatte die Galerie David Zwirner die südafrikanische Künstlerin Marlene Dumas zu Gast, die ihr neuestes Buch im Marais signierte. Doch auch auf die FIAC im Grand Palais zeigte die Galerie Präsenz mit einem großen, zentral gelegenen Stand mit Arbeiten der drei Künstler Wolfgang Tillmans, Sherrie Levine und Lucas Arruda.
Gleich gegenüber am Stand der mächtigen, weltweit operierenden Gagosian Gallery, die ebenfalls seit 2010 eine Filiale in Paris unterhält, herrschte großer Andrang. Unter dem Motto „Artists on the French Riviera“ präsentierte Gagosian internationale Künstler, die zeitweise an der französischen Mittelmeerküste lebten und arbeiteten oder hier zu Gast waren. Im Mittelpunkt der Konzeption des Standes steht das berühmte Interieur der Villa Santo Sospir in Saint-Jean-Cap-Ferrat. Hier hielt sich in den Jahren 1950 bis 1963 unter anderem der französische Künstler Jean Cocteau auf, der die Wände und Decken mit Illustrationen aus der griechischen Mythologie versah. Eine Rekonstruktion dieser figurenreichen Bemalung bildete am Stand von Gagosian das Setting für die Präsentation hochkarätiger Werke von Alexander Calder, Alberto Giacometti, Henri Matisse, Pablo Picasso, Fernand Léger oder Man Ray.
Eine Standkonzeption, die auf der FIAC ebenfalls ins Auge stach, war die Szenografie von Michał Budny bei der Wiener Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder. Es ist bereits die dritte Messekojengestaltung des polnischen Künstlers für die FIAC in den aufeinanderfolgenden Jahren 2017, 2018 und 2019. Durch die sensible Verwendung der Nichtfarben Schwarz, Weiß und Grau erzeugt Budny atmosphärische Resonanzräume und kontrastlose Balance-Zustände. Dieser zwielichtige Dämmerzustand korrespondierte vortrefflich mit der dominanten Architektur des Grand Palais. Die Kojen-Szenografie trug den Titel „NOUS, acte III – Neither“ und bezog sich auf ein Gedicht des irischen Schriftstellers Samuel Beckett. Ein Eyecatcher am Stand war ein sanft wogender Seidenvorhang der Berliner Malerin Katharina Grosse. Unter den gezeigten Arbeiten am Stand waren Werke von Helmut Federle, Daniel Knorr, Bernard Fritze, Günter Umberg und Isa Melsheimer.
Zum ersten Mal auf der FIAC präsentierte sich die Galerie Barbara Wien. Die Berlinerin konnte als Hauptwerk am Stand eine wandfüllende Arbeit des frisch gebackenen Prix Marcel Duchamp-Preisträgers Eric Baudelaire, Jahrgang 1973, präsentieren. Der in den USA geborene Pariser zeigte ein fortlaufendes Projekt, das auf einer Korrespondenz basiert. Baudelaire hat alle britischen Abgeordneten des House of Lords und House of Commons angeschrieben und nach ihrer Position zum Brexit befragt. Die teils handschriftlichen, teils gedruckten, häufig mit Briefkopf und Wappen versehenen und eigenhändig unterschriebenen Antworten präsentiert der Konzeptkünstler einheitlich gerahmt als Gesamtkonvolut. Eine politisch hochaktuelle, vielschichtige und auch von typisch britischer Selbstironie gekennzeichnete Arbeit, die nicht auseinandergerissen werden darf, sondern als Gesamtkonvolut einen Käufer finden sollte.
Kontrastprogramm dann im 8. Arrondissement. Auf der Rue Alfred de Vigny fand bereits im fünften Jahr die gerade auch bei Sammlern beliebte Satellitenmesse Paris Internationale statt. In einem ehemaligen, großbürgerlichen Apartmenthaus, das zur Zeit noch vor der Renovierung durch einen Investor steht, zeigten 42 Galerien sowie acht Non-Profit-Spaces auf vier Etagen ihre Arbeiten. Das Setting der Messe wirkt wie eine aufmüpfige Antithese zum gängigen Paradigma des White Cube oder konventioneller Kojenarchitektur. Die Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und Videoarbeiten wurden in ehemaligen Salons, Küchen, Ankleidezimmern und luxuriös gekachelten Bädern präsentiert. Am Vernissagetag herrschte geradezu Goldgräberstimmung. Bekannte Sammler, Kuratoren, Kunstmesse-Direktoren und Kritiker schoben sich durch die engen Korridore, um Cutting Edge-Kunst von morgen zu entdecken oder auch das ein oder andere Schnäppchen zu machen.
Manchen Galeristen ging es jedoch weniger um einen schnellen Verkauf, als um die Präsenz ihrer Künstler in der französischen Hauptstadt. So hatte die Galerie KOW (Berlin, Madrid), die zur Zeit vor allem in Deutschland und Österreich mit institutionellen Ausstellungen präsente Künstlerin Henrieke Naumann, Jahrgang 1984, mit nach Paris gebracht. Naumann ist in erster Linie für ihre kritisch-analytische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in den ostdeutschen Bundesländern bekannt. Hier zeigte sie etwas anderes, von einer Residency in Japan inspiriertes Projekt, das ihre Vorliebe für japanisches Design, den Erfolg eines afrikanischen Musikers in Japan und den plötzlichen Niedergang der japanischen Wirtschaft nach den Hochzeiten in den 1980er Jahren zusammenbringt. Kleidungsstücke, Uhrenobjekte, postmodernes Design, historische Fotografien und Videoaufnahmen kombiniert Henrieke Neumann zu einem stimmigen Setting, das den Wunsch nach Erfolgsstreben kritisch hinterfragt.
Besonders eindrucksvoll dann auch die Soloshow des bosnisch-französischen Künstlers Bojan Šarčević, Jahrgang 1974, bei der Galerie BQ aus Berlin in einer ehemaligen Küche. Auf dem dominanten schwarz-weiß gekachelten Boden hatte Sarcevic mehrere im weitesten Sinne konsumkritische Skulpturen installiert. Naturmaterialien trafen da auf Memphis-Design, dekonstruierte Möbel auf Küchenoberflächen aus Furnier, und aus einer alten Gefriertruhe tönte 80er-Jahre-Popmusik, die das Eis nach und nach zu bizarren Gebilden umformte.
Das Herbstlaub bedeckt in diesen Novembertagen die Alleen in den Tuilerien und die Straßen des Marais. David Zwirner rüstet sich bereits für seine nächste Einzelausstellung in Paris mit Dan Flavin. Und im Grand Palais laufen die Vorbereitungen für die nächste große Kunstmesse. Am Mittwoch beginnt die Spezialmesse Paris Photo, die international wichtigste Messe für künstlerische Fotografie. Erwartet werden nicht nur Fotosammler, Galeristen und Kuratoren aus der ganzen Welt. Traditionellerweise reisen anlässlich der Paris Photo auch viele internationale Fotografen in die Pariser Hauptstadt, um Kontakte zu knüpfen oder an einem der vielen Book Signing Events teilzunehmen. Paris ist in diesem Herbst einmal mehr ein Magnet für Kunstliebhaber.
Auf einen Blick:
www.fiac.com
Nächster Termin: 22.-25. Oktober 2020
www.parisinternationale.com
Nächster Termin: Oktober 2020
www.davidzwirner.com
Paris, 108, rue Vieille du Temple
Raymond Pettibon: Frenchette, bis 23. November 2019
www.parisphoto.com
7.-10. November 2019 (Vernissage mit Einladung am 6. November)