Die Wienerin Sophie Thun beherrscht alle Kniffe in der Dunkelkammer. In ihren komplexen Selbstporträts hinterfragt sie nicht nur die klassisch-analogen Techniken sondern auch ihr eigenes Selbstverständnis als Fotokünstlerin in einem überwiegend von Männern dominierten Betrieb. Ihre aktuelle Ausstellung „Extension“ bei C/O Berlin pausiert aufgrund des Coronavirus
„Fotografieren heißt, sich das fotografierte Objekt aneignen. Es heißt, sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht – anmutet“, so die New Yorker Schriftstellerin und Philosophin Susan Sontag (1933-2004) in ihrem 1977 erschienenen Essay „In Platos Höhle“. Sich selbst zu fotografieren, hieße demzufolge, sich das fotografische Bild vom eigenen Körper anzueignen, es in bestimmte Beziehungen zur Welt zu setzen und daraus Erkenntnis abzuleiten.
Genau das praktiziert die 1985 in Frankfurt am Main geborene und heute in Wien lebende Künstlerin Sophie Thun auf vielfältige Art und Weise. Sophie Thun ist in Polen aufgewachsen. Sie hat zunächst in Krakau und im Anschluss daran von 2010 bis 2017 bei Daniel Richter und Martin Guttmann an der Akademie der bildenden Künste Wien Malerei und Fotografie studiert.
Fast immer ist auf ihren neueren Aufnahmen sie selbst mit einem Selbstauslöser in der Hand zu sehen. So zum Beispiel in der seit 2019 als fortlaufendes Projekt entstehenden Serie „After Hours“. Es handelt sich um analoge Schwarz-Weiß-Abzüge, die die unbekleidete Künstlerin in verschiedenen Interieurs zeigen. Die meisten davon sind Hotelzimmer, andere mietbare Unterkünfte oder halböffentliche Orte, darunter ein Hamam. Stets ist die Künstlerin zwei Mal zu sehen, und zwar in Posen, die Assoziationen an diverse sexuelle Praktiken und weibliche Unterwerfung wachrufen. Um diesen Effekt zu erzeugen, hat Sophie Thun sich in den jeweiligen Räumen in verschiedenen Posen inszeniert und aufgenommen. Die dabei entstandenen Schwarz-Weiß-Negative hat sie dann mit der Schere diagonal auseinander geschnitten und so wieder zusammengefügt, dass der Aufnahmeort und das verdoppelte Selbst durch den Akt der Belichtung in der Dunkelkammer ein neues Bild ergeben.
Die Methode der künstlerischen Intervention und die Konstruktionsweise dieser Bilder werden von Sophie Thun stets offen gelegt. So ist zwischen den beiden Bildhälften immer ein kleiner Spalt zu sehen, der sich wie eine schwarze Linie durch den gesamten Abzug zieht. Außerdem ist zwischen den beiden zusammengesetzten Bildhälften ein kleiner, minimaler Versatz erkennbar. Sozusagen um die rein analoge Erzeugung dieser Paarungen noch weiter zu unterstreichen, sind auf dem finalen Abzug auch die beiden Hände der Künstlerin als weiße Leerstellen zu sehen, wie sie die zwei Negativhälften zusammensetzen. Sophie Thun bedient sich hier der Technik des Fotogramms, das bekanntlich nicht reproduzierbar ist. So wird jeder Abzug zum Unikat. Indem sie ihre Hände oder auf anderen Aufnahmen auch ihren Oberkörper oder die Silhouette ihres ganzen Körpers als Fotogramm in die Abzüge einschreibt, bedient sich Sophie Thun einer Methode der kameralosen Erzeugung fotografischer Abbildungen, die vor ziemlich genau 100 Jahren von den Vertretern der Avantgarde, allen voran Man Ray, erstmals in die bildende Kunst eingeführt wurde. Das Fotogramm bewegte sich von Anfang an an der Schnittstelle zwischen Malerei und Fotografie. In beiden Medien stellt die Einmaligkeit des erzeugten Bildes ein zentrales Charakteristikum dar.
Sophie Thun bevorzugt ganz klar den analogen Prozess der Bildproduktion. Im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen KünstlerInnen ist sie mit den Prozessen der Arbeit in Labor und Dunkelkammer bestens vertraut und fertigt alle ihre Abzüge selbst an. In einem Interview mit der in Berlin erscheinenden Zeitschrift für junge Kunst „KubaParis“ äußerte sie sich folgendermaßen zu ihren Beweggründen: „Viele Leute gehen mit Fotografie um, wie man es aus der Kodak-Werbung kennt: »You press the button, we do the rest!«. Beim Malen hingegen oder bei der Arbeit in der Dunkelkammer oder mit der Technik des Fotogramms entsteht das Bild ,während du es machst. Die Praxis beeinflusst sozusagen das Ergebnis.“
„After Hours“, der Titel der oben beschriebenen Serie, zu deutsch etwa: „Nach Dienstschluss“ oder „Am Feierabend“ bezieht sich im Übrigen auf die Tatsache, dass Sophie Thun diese Aufnahmen tatsächlich immer dann gemacht hat, wenn sie sich am Ende eines langen Arbeitstages in verschiedenen Städten in ihr Hotelzimmer zurückgezogen hat. Wie viele andere jüngere KünstlerInnen auch arbeitet sie gelegentlich als Assistentin etablierterer, in der Regel männlicher Kollegen. Insofern stellt die Serie „After Hours“ auch eine kritische Reflexion über prekäre Arbeitsbedingungen junger Frauen im Kunstbetrieb dar. Sie macht also Abhängigkeiten und Hierarchien innerhalb des Kunstbetriebs sichtbar. Gleichzeitig stellt sie aber auch einen dezidierten Akt der Selbstbehauptung in Form der Rückeroberung von Kreativität und Arbeitskraft für das eigene Werk dar. Zudem verhandelt sie auf komplexe Art und Weise Kategorien des Privaten und des Öffentlichen, indem sie das an sich heimliche Geschehen hinter den geschlossenen Türen eines Hotelzimmers zum Thema einer fotografischen Serie macht. Hier bieten sich durchaus auch interessante Vergleiche mit Sophie Calles Arbeit „L’Hôtel“ (1981) oder Florian Slotawas Serie „Hotelarbeiten“ (1998/99) an.
Mit „After Hours“ reiht sich Sophie Thun jedoch in erster Linie in eine lange Tradition performativer weiblicher Selbstinszenierungen für die Kamera ein, zu deren Pionierinnen seit den 1970er Jahren Künstlerinnen wie Hannah Wilke, Carolee Schneemann, Lynda Benglis, Eleanor Antin, Marina Abramović oder auch Cindy Sherman gehörten.
Stets geht es in den Arbeiten von Sophie Thun auch darum – unter feministischen Vorzeichen – Mechanismen der Konstruktion und der Repräsentation des weiblichen Körpers offen zu legen, männlich dominierte Blickregime in Frage zu stellen und aus weiblicher Perspektive neu zu definieren. „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich, sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen“, schrieb Simone de Beauvoir 1951 in ihrem Werk „Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau“. Seitdem ist zwar viel geschehen, dennoch haben sich tradierte Rollenbilder bis heute hartnäckig in bestimmten Milieus außerhalb und innerhalb des Kunstbetriebs gehalten oder drohen sogar, sich erneut zu verfestigen.
In diesem Zusammenhang sollte auch Sophie Thuns Mitgliedschaft und kuratorische Tätigkeit in zwei überwiegend weiblich besetzten Wiener Künstlerkollektiven nicht unerwähnt bleiben. So ist Sophie Thun Mitglied bei „dienstag abend“. Dabei handelt es sich um ein 2009 gegründetes, nomadisches Projekt, das an wechselnden Orten mit wechselnden Akteuren interdisziplinäre, nicht hierarchische Ansätze erzeugt. Sophie Thun ist seit 2015 Mitglied. Das zweite Künstlerkollektiv, an dem Sophie Thun mitwirkt, heißt „MZ* Balthasar’s Laboratory“. An der Schnittstelle von Technologie, Kunst und sozialpolitischen Themen, widmet sich auch diese bunt zusammengesetzte Gruppe feministischen Fragestellungen.
Eine größere Aufmerksamkeit erfuhr Sophie Thun mit ihrer Einzelausstellung „Double Release“, die vom 21. März bis 5. Mai 2018 in den Räumen der Galerie Sophie Tappeiner in Wien stattfand. Im Zentrum der Schau stand die für die Ausstellung und teilweise in den Räumlichkeiten der Galerie fotografierte Arbeit mit dem englischen Titel „While Holding (passage closed)“. Sie besteht aus sechs großen, zusammengesetzten, sich leicht überlappenden Bögen belichteten Fotopapiers. Dieses Ensemble hat Sophie Thun in der Galerie vom der Decke bis zum Boden angebracht, so dass ein Durchgang geschlossen wurde. Daher erklärt sich auch der in Klammern gesetzte Zusatz im Titel (passage closed).
Auf der Fotoarbeit zu sehen ist ein lebensgroßes Selbstporträt der Künstlerin. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um eine Aktaufnahme. Sophie Thun trägt auf der Aufnahme schwarze Alltagskleidung. Die Künstlerin blickt die BetrachterInnen frontal und selbstbewusst durch ihre markante Metallbrille an, eine Brille, die sie im übrigen auch auf den Aktaufnahmen der Serie „After Hours“ trägt, und die schon zu so etwas wie dem Markenzeichen der Künstlerin geworden ist. Auch auf der Arbeit „While Holding (passage closed)“ legt Sophie Thun die Machart ihrer Produktion offen. In der rechten Hand hält sie einen Selbstauslöser am Kabel. Auch in diese farbige Fotoarbeit hat Sophie Thun wieder Fotogramme von ihrem eigenen Körper integriert. So taucht wiederum sie selbst gleich zwei Mal als weißer Schatten in Seitenansicht auf. Der Betrachter entdeckt Sophie Thun dann noch ein viertes Mal. Sie ist auf der Fotoarbeit zu sehen, wie sie die Aufnahme von ihrem eigenen Selbstporträt mit beiden Händen hochhält. Daher handelt es sich um eine „Bild-im-Bild“-Aufnahme und um ein vierfaches Selbstporträt, bestehend aus zwei Frontalansichten und zwei Fotogrammen im Profil.
Sophie Thun wird somit nicht nur zur Produzentin dieses auf faszinierende Art und Weise komplexen Werkes, sondern auch zu dessen Repräsentantin. Das Spiel mit verschiedenen, sich überlagernden Identitäten ist charakteristisch für ihre Arbeit. Ebenfalls wichtig ist der räumliche Bezug der Arbeit „While Holding (passage closed)“, die nicht nur einen Durchgang in der Galerie verdeckt, sondern deren unterer Teil auch den Galerieboden bedeckt. Sophie Thun konstruiert und dekonstruiert Räume, indem sie Blickwinkel und Perspektiven verschiebt.
Es lohnt sich auch ein Vergleich mit dem berühmten fotografischen Selbstporträt aus der Serie „Art is a Criminal Action“ (1969/2017) der 1943 geborenen deutschen Foto- und Medienkünstlerin Ulrike Rosenbach. Auch sie inszenierte sich als selbstbewusste Frau vor der Kamera, und zwar im Westernlook, breitbeinig, mit Jeans, weißer Bluse, Westerngürtel und Colt. Sie richtet diesen Colt auf die BetrachterInnen. Schuss – Gegenschuss. Auch Ulrike Rosenbach arbeitete bereits mit Strategien der Verdoppelung und Vervielfachung des Selbst.
Der Omnipräsenz digital erzeugter und unendlich oft reproduzierbarer Fotografien begegnet Sophie Thun, indem sie in der Dunkelkammer unverwechselbare Unikate produziert, die die technischen und philosophischen Aspekte des Mediums reflektieren. Gleichzeitig stellt sie aber auch die genderspezifischen Produktions- und Arbeitsbedingungen als weibliche Produzentin fotografischer Bilder in einer nach wie vor vom instrumentellen männlichen Blick beherrschten Welt, ebenso kritisch wie stets auch mit einer gewissen Prise Humor und Selbstironie unterfüttert, auf den Prüfstand.
Aktuell ist Sophie Thun eine der beiden Preisträgerinnen des f/12.2 Projektstipendiums der DZ Bank Kunstsammlung in Frankfurt am Main. Auch in diesem Zusammenhang wird sie wieder ein Selbstporträt erstellen, welches ihre Lebensumstände und die Produktionsumstände ihrer Arbeit thematisiert. Sophie Thun beabsichtigt, alle Gegenstände in ihrer Einzimmerwohnung, die 1:1 auf ein Großnegativ passen, zu fotografieren und als Kontaktabzüge auszubelichten. Auch hier plant sie wieder, ihre Hände in Form fotogrammartiger Leerstellen in die Arbeiten einzuschreiben.
Die Ausstellung „Extension“ von Sophie Thun ist noch bis zum 6. Juni 2020 bei C/O Berlin zu sehen. Zur Zeit ist die Ausstellung aufgrund des Corona-Virus bis auf Weiteres geschlossen. www.co-berlin.de
Von Mitte Mai bis Ende Juni 2020 geplant ist die Ausstellung „Stolberggasse“ von Sophie Thun in der secession in Wien. Aufgrund der aktuellen Situation im Zusammenhang mit dem Coronavirus ist eine Verschiebung jedoch nicht ausgeschlossen. www.secession.at
Sophie Thun wird von der Wiener Galerie Sophie Tappeiner vertreten.