Der Hamburger Maler Simon Modersohn findet seine Bildsujets sowohl in urbanen Alltagssituationen als auch im ländlichen Raum. Zuletzt waren seine eigenwilligen Bilderforschungen in der Kunsthalle Bremerhaven zu sehen
Ein weißer Plastikgartenstuhl, Typ Monobloc, stapelbar. Eine weiß-cremefarbene Hundetransportbox, auf einem handelsüblichen Rollbrett stehend. Ein von Unkraut überwuchertes Motorrad. Oder ein hellblaues Einerkajak vor schlammfarbenem Hintergrund. Jedes dieser Objekte ist Gegenstand eines Gemäldes von Simon Modersohn. Eine sitzwillige Person, einen reisefreudigen Hund, einen motorradbegeisterten Jugendlichen oder einen durchtrainierten Wassersportler sucht der Betrachter jedoch vergebens. Womit wir bereits bei einem markanten Charakteristikum seiner Malerei wären: Simon Modersohns Bildwelten zeichnen sich durch ein subtiles Spiel mit An- und Abwesenheiten aus. Anwesend ist in der Regel die unbelebte Dingwelt, mit der sich Menschen umgeben. Oft sind es industriell hergestellte, in gewisser Weise genormte, nicht besonders luxuriöse und daher für jedermann verfügbare Objekte des Alltags, der Wohnumgebung oder der Freizeitwelten.
Abwesend jedoch ist der Mensch. Denn kaum einmal tauchen Personen auf seinen Bildern auf. In den seltenen Fällen, wo das der Fall ist, sehen wir nur Fragmente von ihnen. So zum Beispiel auf dem geheimnisvollen Bild „Feuerteufel“ (2017), das eine von innen hell erleuchtete Scheune in der Dämmerung zeigt. Eines der drei Tore ist ganz geöffnet. Es gibt den Blick auf abgestellte Sachen wie einen Satz Autoreifen, einen Tisch und einen Gartenstuhl frei. Während ein weiteres Tor ganz geschlossen ist, entdeckt man hinter dem mittleren, zu einem Viertel hochgezogenen Rolltor zwei breitbeinig dastehende Stiefel. Ob sie allerdings nur dort abgestellt sind oder tatsächlich eine (wahrscheinlich männliche) Person, womöglich gar ein Brandstifter darin steckt, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen.
„Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern, dass sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah, dass sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der Aura bemächtigt sie sich unser“, schrieb Walter Benjamin in Jahr 1935 in seinem Band „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Simon Modersohns Gemälde locken den Betrachter auf diffuse Spuren, und sie verströmen stets eine bestimmte Aura. Bei aller Präsenz der dargestellten Dingwelt zeichnen sich seine Bilder durch eine gewisse Ausgestorbenheit, bewusst gesetzte Leerräume und Abwesenheiten aus.
Ambivalenzen und Unwägbarkeiten sind ein entscheidendes Merkmal von Simon Modersohns Malerei. Hinzu kommt die sprachlich fein austarierte Verwendung von Bildtiteln. Simon Modersohn bedient sich auch auf der sprachlichen Ebene einer ähnlich gearteten Reduktion, wie er sie auf der malerischen Ebene durchexerziert. Man könnte sagen, die Titel seiner Bilder eröffnen Blicke auf das, was auf ihnen gar nicht zu sehen ist.
Im Sommer 2020 war eine Auswahl zwischen 2017 und 2020 entstandener Gemälde von Simon Modersohn in der Kunsthalle Bremerhaven zu sehen. Dabei handelte es sich um seine erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland mit dem Titel „Paket beim Nachbarn“. Der Titel der Schau gab bereits Hinweise sowohl auf das Themenspektrum von Simon Modersohns gegenständlicher Malerei als auch auf sein Talent, humorvolle sprachliche Botschaften zu vermitteln. Das häusliche Umfeld, Einfamilienhäuser in scheinbarer nachbarschaftlicher Idylle, Alltagsgegenstände in kuriosen Konstellationen, Bilder von Freizeitaktivitäten ohne die Anwesenheit von Protagonisten oder metaphorisch aufgeladene Gegenstände voller situativer Komik und tragischer Vertracktheit gehören zu seinen bevorzugten Motiven. So zum Beispiel auf dem Bild „Komplikation“ (2020), das einen altmodischen Handmixer mit nach außen gedrehten Rührquirlen zeigt, die sich beim Einschalten mit nicht zu umgehender Sicherheit in die Quere kommen würden.
Nächstes Bild: Hinten am Horizont sieht man in einer flachen Landschaft das tief heruntergezogene Satteldach eines Einfamilienhauses hinter einem hermetisch wirkenden Bretterzaun. Das Dachfenster ist hell erleuchtet. Offenbar ist jemand zu Hause, der den auf einem grünen Rasenstück platzierten Rasensprenger in Betrieb genommen hat, der im rechten Bildvordergrund zu sehen ist. Der Sprenger scheint sich jedoch durch ungezügelten Aktionismus auszuzeichnen: Er hat die Rasenfläche in eine an ein Camouflagemuster erinnernde Sumpflandschaft verwandelt. Auch auf diesem atelierfrischen, großformatigen Ölgemälde von Simon Modersohn mit dem signifikanten Titel „Sprenger“ sind keine Menschen zu sehen, obwohl die Spuren ihres Handelns und Gestaltens gegenwärtig sind.
Simon Modersohn wurde 1991 in Ottersberg bei Bremen geboren. Er stammt aus einer weit verzweigten Künstlerfamilie. Sein Urgroßvater war der bekannte Landschaftsmaler Otto Modersohn (1865-1945). Simon Modersohn hat im Jahr 2019 sein Kunststudium an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg bei Werner Büttner abgeschlossen. Seine Bilder, die bereits früh die Aufmerksamkeit von Kuratoren, Sammlern, Galeristen und Kritikern auf sich gezogen haben, stehen nicht nur in der Tradition des von Sprachwitz und lakonischer Ironie geprägten Stils seines Lehrers Werner Büttner. Auch eine gewisse Verwandtschaft mit der melancholisch unterfütterten Bildsprache des Bremer Malers Norbert Schwontkowski (1949-2013) ist durchaus erkennbar.
Auf dem 2019 entstandenen Gemälde „Generation Trockner“ ist im Vordergrund eine aufgespannte, handelsübliche Wäschespinne, jedoch ohne Wäsche, zu sehen, neben der ein kleines Kindertrampolin aufgestellt ist. Eingefasst werden diese beiden Paradebeispiele für baumarkttypisches Gartenmobiliar von einer halbrund angelegten Koniferenhecke. Der auch als Grabbepflanzung beliebte, pflegeleichte Lebensbaum, auch Scheinzypresse genannt, gehört zu den eher konventionellen Gartenpflanzen, die häufig in Gartenmärkten und bei Discountern zum Aktionspreis angeboten werden. Im oberen Teil des Bildes jedoch tut sich eine zumindest auf den ersten Blick ganz andere Welt auf. Hier zu sehen ist in leichter Hanglage und mit gewiss gutem Ausblick auf die Umgebung ein großzügiges, von innen hell erleuchtetes Einfamilienhaus mit Dachfenster und Gaube. Unterschiedliche Lebenswelten und Einkommensklassen scheinen hier unmittelbar aufeinanderzuprallen.
Indem Simon Modersohn für dieses Bild den Titel „Generation Trockner“ wählt, stellt er unter anderem auch einen Bezug zu dem im Jahr 2000 erschienenen Buch „Generation Golf“ von Florian Illies her. Während die in diesem Buch beschriebene Generation jedoch ihren hedonistischen Lebensstil unter anderem, wie es der Titel schon andeutet, in der permanenten Mobilität suchte, scheint die „Generation Trockner“, wie Simon Modersohn sie darstellt, sich eher einer kleinbürgerlichen Sesshaftigkeit verschrieben zu haben. Gleichzeitig werden bestimmte Konventionen der soziologischen Charakterisierungen bestimmter Generationen beziehungsweise Alterskohorten wie „Generation X“, „Generation Y“, Generation Z“ und „Millennials“ durch den Bildtitel in Erinnerung gerufen und ironisiert.
In seinem 2020 erschienenen Buch „Das Landleben“ stellt der Kulturgeograf Werner Bätzing eine zunehmende Rückbesinnung auf vormoderne Bauformen im ländlichen Raum fest. Er beschreibt, dass die modernen funktionalen Bauten der 1960er und 1970er Jahre ungefähr seit Beginn der 1980er Jahre durch postmoderne Bauten ersetzt wurden, „bei denen die reine Funktion gegenüber einer neuen Lust an vielfältigen Formen zurücktritt.“ Bätzing schreibt: „Die neuen Wohnhäuser sind geprägt durch aufwendig gestaltete Eingangssituationen, aufgelockerte Wandflächen mit Vor- und Rücksprüngen, durch Erker, versetzte Balkone und durch steile Dächer mit verwinkelten Gauben. Eine Reihe dieser Neubauten verwendet Bauelemente aus fernen Urlaubsregionen (Säulen, Portale, Fenster, Türen), die hier besonders unpassend wirken; häufig bemühen sich Bauherren und Architekten, die neuen Gebäude etwas an die regionale Bauweise anzupassen.“
Beispiele von spießig-restaurativer Architektur finden sich auch in den Bildern von Simon Modersohn. Die dargestellten Häuser mit ihren akkurat gepflegten, geradezu „kuratierten“ Vorstadtgärten und ihrer übermöblierten Enge wirken wie Kulissen der freiwilligen Selbsteinmauerung. Zu beobachten ist auch ein gewisser Fanatismus des Heimwerkertums. So zum Beispiel auf dem 2020 entstandenen Gemälde „Brückentag“. Wieder einmal ist es, wie auf fast allen Gemälden Simon Modersohns, Abend geworden. Zeit also, die baustellenartige Szenerie elektrisch auszuleuchten. Links im Vordergrund zu sehen ist eine Flutlichtlampe, deren Schein eine abgestellte Schubkarre stark ausleuchtet und ihren übergroßen Schatten auf eine im Entstehen begriffene Wand aus weißen Ytong-Steinen wirft. In der rechten Bildhälfte ist ein Betonmischer zu sehen, der anscheinend von einer ganz anders positionierten Lichtquelle ausgeleuchtet wird und daher seinen Schatten auf den Boden wirft. Viel (Lichter-)schein, wenig Sein? Auch hier wieder ist der Mensch selbst abwesend. Es sind keine Akteure, sondern lediglich die Spuren ihrer Aktivitäten zu sehen. Insofern ließen sich Simon Modersohns Bilder als „gemalte Schwebezustände“ zwischen Abwesenheit und Anwesenheit des Subjekts bezeichnen. Seine Protagonisten beziehungsweise deren von Konventionen und Konformismus geprägte Gedankenwelt macht er umso sichtbarer, indem er sie ganz einfach weglässt.
Der deutsche Philosoph, Schriftsteller und Soziologe Dietmar Kamper (1936-2001) zitiert in seinem Band „Die Ästhetik der Abwesenheit: Die Entfernung der Körper“ aus dem Jahr 1999 den französischen Lyriker und Philosophen Paul Valéry (1871-1945) mit dem Satz: „Zwei Gefahren bedrohen das Leben, die Ordnung und die Unordnung“ und leitet daraus für sich folgende Wahrheiten ab: „Es heißt nicht, je mehr Ordnung, desto weniger Unordnung. Es heißt: Je mehr Ordnung, desto mehr Unordnung. Es heißt nicht: Je mehr Licht, desto weniger Schatten. Es heißt: Je mehr Licht, desto mehr Schatten. Je mehr Wissen, desto mehr Nicht-Wissen. Je mehr Bilder, desto mehr Lärm. Je intensiver der Fall, desto extensiver der Abfall. Diese Wahrheiten kommen ex post. Sie widerstreiten der humanen Intention und der Welt als Wille und Vorstellung.“ Aussagen, die durchaus auch auf die Bilder Simon Modersohns zutreffen.
Auch auf Bildern mit Titeln wie „Kneipp’s Garten“ (2019) oder „Round Up“ (2018) sind keine Sehnsuchtsorte zu sehen, sondern vielmehr Abziehbilder von Konventionen und Zwängen. Anders als in den beim Lesepublikum zur Zeit überaus populären, harmlos-ironischen Landlustsatiren von Schriftstellerinnen wie Dörte Hansen („Altes Land“, 2015) oder Christiane Neudeck („Sommernovelle“, 2015), vermitteln Simon Modersohns Gemälde die Aura einer trügerischen Schein-Idylle, die geprägt ist von einer zunehmenden Gentrifizierung auch in ländlichen Gebieten. Vor dem Hintergrund der Verdrängung der alteingesessenen ländlichen Bevölkerung durch Stadtflucht, steigende Preise und den schleichenden Import neuer, urban geprägter Lebensstile wird vielfach ein neuer Blick auf das Leben in ländlichen Gebieten geworfen. Gerade unter Großstädtern populäre Magazintitel wie „Landlust“, „Landgenuss“ oder „Mein schönes Land“ sowie TV-Formate wie „Expedition in die Heimat“ (SWR), „Landpartie – in Norden unterwegs“ (NDR) oder „Land und Lecker“ (WDR) zeugen davon. In diesen idealisierten Formaten wird das Land relativ eindimensional als Ort des guten beziehungsweise besseren Lebens dargestellt.
Das Ländliche als eher ambivalenter Sehnsuchtsort, das häufig jedoch nur leere Versprechen und Banalisierung bietet, wird auch in den in den letzten Jahren erschienenen Romanen „Unterleuten“ (2016) von Juli Zeh oder „Ein ganzes Leben“ (2014) von Robert Seethaler dargestellt. Hier ist das Dorf keine bloße Kulisse, kein reines Arkadien, sondern vielmehr Protagonist und Akteur der allmählich ins Entsetzliche umkippenden Handlung. Bei den französischen Schriftstellern Édouard Louis (Jahrgang 1992) oder Didier Éribon (Jahrgang 1953) hingegen erscheint das Land als Ort der Normen, der Intoleranz, der Gewalt, der Armut und der Nichtidylle. Einziger Ausweg für die an den Verhältnissen leidenden Protagonisten ihrer autobiografischen Romane ist der Weg in die Stadt und die Aufnahme eines großstädtischen Lebensstils.
Simons Modersohns Bilder bewegen sich genau in dieser Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten des Landlebens werden ebenso aufgezeigt wie die am Horizont aufscheinende, nach wie vor denkbare Möglichkeit des Rückzugs in ein naturnahes Idyll. In Simon Modersohns Malerei mischen sich Elemente der norddeutschen Moorlandschaft seiner Heimat in Fischerhude mit Großstadtbeobachtungen in Städten wie Bremen, Hamburg oder Berlin. Man darf gespannt sein, auf welche ästhetischen Phänomene und gesellschaftliche Realitäten sich sein überaus spezieller künstlerischer Blick in naher Zukunft richten wird.
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