Die 4. Ausgabe des Vonovia Award für Fotografie zeigt Bilder zum Thema Zuhause. In Hamburg fand jetzt die virtuelle Preisverleihung statt
Bedingt durch das Corona-Geschehen finden zahlreiche kulturelle Veranstaltungen zur Zeit entweder gar nicht statt, oder sie unterliegen strengen Sicherheitsvorkehrungen. Von derlei Einschränkungen betroffen war jetzt auch die Preisverleihung anlässlich des Vonovia Award für Fotografie 2020. In diesem Jahr wird der Preis bereits zum vierten Mal verliehen. Kam die Preisverleihung in einer Location in unmittelbarer Nähe zum Haus der Photographie der Hamburger Deichtorhallen im vergangenen Jahr noch einem prominent besetzten Familientreffen der lokalen und überregionalen Fotoszene gleich, so musste der Preis in diesem Jahr leider in einer virtuellen Zeremonie an die vier PreisträgerInnen verliehen werden, die per Livestream übertragen wurde.
Das Wettbewerbsthema des Vonovia Award für Fotografie lautet in diesem Jahr einmal mehr „Zuhause“. Angesichts der COVID-19-Pandemie und des damit verbundenen Lockdowns entfaltet die intensive künstlerische Beschäftigung mit den vier Wänden, die entweder das eigene oder ein fremdes Zuhause definieren, 2020 eine ganz neue, bisher nicht gekannte Brisanz und Dynamik. Selbstverständlich thematisieren nicht alle FotografInnen auf der Shortlist 2020 die mit der Krise einhergehende „Neue Realität“ – etliche Serien sind auch schon vor Corona entstanden. Dennoch hat die Ausnahmesituation im diesjährigen Wettbewerb ihre Spuren hinterlassen. Ganz allgemein lässt sich eine Tendenz zu leiseren Geschichten, die den Betrachter auf vielfältige Art und Weise berühren, feststellen. Häufig werden Themen visualisiert, die den BildproduzentInnen persönlich nahe liegen. Die eigene Familie, das vertraute Milieu oder der private Freundeskreis spielen offenbar eine größere Rolle als zuvor. Fremde, soziale Wirklichkeiten wiederum finden die Teilnehmer – von Ausnahmen abgesehen – nicht nur in der Ferne sondern unmittelbar vor der eigenen Haustür. Hier einige Beispiele für die den diesjährigen Wettbewerb dominierenden Ansätze.
„Der Wettbewerb 2020 beleuchtet das Thema „Zuhause“ in seiner Vielschichtigkeit. Er lädt Nachwuchs- und Profi-Fotografinnen und -Fotografen dazu ein, das Thema „Zuhause“ auf künstlerisch-inszenierte, konzeptionelle oder dokumentarische Weise zu beschreiben und zu interpretieren“, heißt es in den Teilnahmebedingungen des Vonovia Award für Fotografie 2020.
Genau das haben auch die drei PreisträgerInnen der Hauptpreise in der Kategorie „Beste Fotoserie“ und die Preisträgerin in der Kategorie „Beste Nachwuchsarbeit“ für FotografInnen unter 26 Jahren auf ganz unterschiedliche Art und Weise getan.
Eine kompetent besetzte Fachjury hat nun aus zunächst 25 Shortlist-KandidatInnen in der Kategorie „Beste Fotoserie“ und acht Shortlist-KandidatInnen in der Kategorie „Beste Nachwuchs-arbeit“ die vier PreisträgerInnen ausgewählt. Zu den Jury-Mitgliedern gehörten unter anderen die Fotografen und Hochschullehrer Peter Piller und Peter Bialobrzeski, die Leitende Bildredakteurin der Wochenzeitung DIE ZEIT Amélie Schneider und der Kurator am Hamburger Haus der Photographie Ingo Taubhorn. Insgesamt wurden 575 Bewerbungen eingereicht.
Den mit 15.000 Euro dotierten ersten Preis erhielt die an der Hochschule für Künste Bremen ausgebildete und in Bremen lebende Fotografin Anja Engelke für ihre Serie „Room 125“. Engelkes künstlerische Praxis zeichnet sich durch ihre intensive Beschäftigung mit der neueren Geschichte des Mediums Fotografie aus. Bereits in einer früheren Serie setzte sie sich mit zentralen Leitfiguren und Erneuerern der Fotografie wie Bernd und Hilla Becher, Thomas Ruff oder Wolfgang Tillmans auseinander, indem sie deren ikonische Arbeiten aus Kuchenteig nachbildete und anschließend abfotografierte.
Mit „Room 125“ wagt sie sich nun an einen der wichtigsten Pioniere der künstlerischen Farbfotografie heran. Berühmt geworden ist der US-Amerikaner Stephen Shore (*1947), neben William Eggleston eine der beiden Leitfiguren der New Color Photography, mit seiner umfangreichen Serie „Uncommon Places“ (1973-1981). Die Serie ist auf ausgedehnten Reisen durch die Vereinigten Staaten entstanden. Sie ist gekennzeichnet durch das subtile Ausloten der amerikanischen Pop- und Alltagskultur mit dem Stilmittel einer fein austarierten, aber nie zum reinen Selbstzweck werdenden Schnappschusshaftigkeit.
Anja Engelke konzentriert sich in ihrem Projekt auf Shores ikonische Aufnahme „Room 125, West Bank Motel, Idaho Falls, Idaho, July 18, 1973“. Die Aufnahme zeigt die auf dem Bett liegenden Beine und Füße des Künstlers in Jeans und Turnschuhen. Die spärliche Einrichtung des Motelzimmers besteht aus Tisch, Stuhl, Lampe, Vorhang und einem an die Wand montierten Fernseher. Daneben ist der mitgebrachte Koffer des Fotografen zu sehen. Engelke hat diese Aufnahmesituation in ihrer eigenen Wohnung rekonstruiert und für eine Weile darin gelebt und fotografiert. In ihrer Serie entwickelt sie eine ganze Reihe möglicher Variationen: Plötzlich gibt der bei Shore geschlossene Koffer seinen Inhalt preis. Der Fernseher steht auf dem verlassenen Bett, und der Schreibtisch dient zur Zubereitung eines Tomatenbrots. Nach und nach tauchen auf den Bildern auch Objekte und Referenzen auf, die seltsam unamerikanisch wirken wie etwa ein Winnetou-Buch, das auf klischeehafte, aus heutiger Sicht geradezu kolonialistische deutsche Narrative vom sogenannten „Wilden Westen“ verweist.
Anja Engelkes Serie bemächtigt sich auf spielerisch-ironische Art und Weise einer ikonischen Aufnahme der konzeptuellen Fotografie, indem sie deren Momenthaftigkeit in eine Abfolge von Möglichkeiten übersetzt.
Den zweiten, mit 12.000 Euro dotierten Hauptpreis erhält Ingmar Björn Nolting, Jahrgang 1995. Der an der FH Dortmund ausgebildete und heute in Leipzig lebende Fotograf reiste für seine Serie „Neuland – eine Reise durch Deutschland während der COVID-19 Pandemie“ rund 9000 Kilometer kreuz und quer durch die Bundesrepublik. Im Zentrum seiner dokumentarischen Fotografie steht die neue Realität während des Lockdowns. Nolting nähert sich seinem Thema unter diversen Fragestellungen: Welche Maßnahmen wurden ergriffen? Welche Lösungen gefunden? Wieviel Normalität war im Alltag noch möglich? Inwiefern manifestiert sich der deutsche Hang zu Ordnung und Kontrolle im Pandemie-Alltag?
Da niest ein Parlamentarier vorschriftsmäßig in die Armbeuge und wird trotzdem kritisch von seinen in sicherer Distanz sitzenden Kollegen beäugt. Eine Zahnarztpraxis wird zur Hochsicherheitszone. Neu errichtete Grenzzäune, die Corona-Notklinik in den Berliner Messehallen sowie Bilder von Obdachlosen und unter Quarantäne gestellten Geflüchteten vermitteln die ganze – auch soziale – Dimension dieses Ausnahmezustands.
Ingmar Björn Noltings fotografischer Essay arbeitet mit den Mitteln der klassischen Reportage-Fotografie. Seine deutschlandweite Spurensuche mit der Kamera dokumentiert die plötzlichen Veränderungen des gesellschaftlichen Alltags angesichts der COVID-19 Pandemie auf ebenso nüchterne wie eindringliche Art und Weise.
Den dritten, mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis erhält in diesem Jahr die in St. Gallen lebende deutsche Fotografin Tine Edel, eine Absolventin der Bauhaus-Universität Weimar. Tine Edels analoge Schwarz-Weiß-Aufnahmen oder, genauer gesagt, Fotogramme entstehen im Rahmen ihrer intensiven Arbeit in der Dunkelkammer. Sie selbst spricht von „räumlichen Versuchen in Graustufen“. Für die Serie „Die vier Wände“ arbeitete sie mit Papierschablonen. Mit deren Hilfe erzeugte sie auf silberbasiertem Fotopapier Belichtungen voller ausdifferenzierter Hell-Dunkel-Kontraste und Grauabstufungen. Mit Rastern, Trapezformen oder fensterartigen Aussparungen und stufenartigen Gebilden vermitteln ihre Fotogramme die Illusion dreidimensionaler Räume. Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich diese jedoch als hochkomplexe Kompositionen aus der Dunkelkammer.
Tine Edel zieht für ihre Serie alle Register der klassischen kameralosen Laborarbeit. Unter anderem verwendet sie Einzel- und Mehrfachbelichtungen, Abschattungen, Nachbelichtungen oder Umkopierungen vom Negativ zum Dia.
Eine Jugend zwischen Stillstand und Aufbruch, Frust und Langeweile dokumentiert Valentin Goppel auf seinen meist nächtlichen Aufnahmen voller feinjustierter Hell-Dunkel-Kontraste in seiner Serie „allá en la pampa“. Der 2000 in Regensburg geborene Nachwuchsfotograf ist der jüngste Teilnehmer des diesjährigen Wettbewerbs. Er erhält den mit 5.000 Euro dotierten Preis für die beste Nachwuchsarbeit.
Seine teils intimen Aufnahmen von Jugendlichen entstanden während eines einmonatigen Gastaufenthalts in der argentinischen Provinz. Einige Zeit zuvor hatte Goppel den Ort bereits im Rahmen eines Auslandsaufenthalts für Schüler kennengelernt. Nun kam er noch einmal mit seiner Fotoausrüstung zurück. Goppel fotografierte in dem Dorf Maria Susana, einer Gemeinde mit knapp 3.500 Einwohnern. Es liegt weit weg von Buenos Aires in der argentinischen Pampa, vier Stunden von der nächst gelegenen Großstadt Rosario entfernt. Der Ort ist nicht gerade vom Wohlstand verwöhnt. Im Alltag allgegenwärtig ist der Kursverfall des argentinischen Peso. Die Jugendlichen träumen von einem Leben in Rosario, Buenos Aires oder gar Deutschland, aber nichts passiert, und alle Tage verlaufen nach den gleichen Mustern.
Auf Goppels Fotografien sieht man, dass die endlosen Tage geprägt sind von Langeweile und dem monotonen Zeitvertreib mit Videospielen, Musikhören und dem Betrachten von Serien auf Netflix. Valentin Goppels Ästhetik erinnert an das Werk des Berliner Fotografen Tobias Zielony (Jahrgang 1973). Man spürt auch bei ihm die Nähe zu den Porträtierten und die Empathie des Fotografen für seine Protagonisten. Valentin Goppel begegnet den Porträtierten auf Augenhöhe. Viele der Aufnahmen sind bei Dunkelheit unter Verwendung vorhandener Lichtquellen (Feuer, Innenraumbeleuchtung im Auto, Laternenlicht, Handydisplay, Computermonitor) entstanden. Dass er aber auch ganz andere Bilder hervorbringen kann, zeigt Goppel mit einer elegisch aufgeladenen, fast malerisch wirkenden Aufnahme von staubumwehten Bäumen, Stromleitungen und der flachen, nahezu horizontlosen Landschaft.
Valentin Goppel studiert mittlerweile Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover.
Die diesjährigen PreisträgerInnen überzeugen jeweils mit kohärenten Serien. Dabei decken sie ganz ähnlich wie im Vorjahr die ganze Bandbreite des Mediums Fotografie ab. Das konzeptuell-experimentelle Konstruieren und Dekonstruieren von Räumen im Studio und in der Dunkelkammer sowie die Befragung des Mediums selbst vor der Folie früherer Avantgarden wie New Color Photography und Bauhaus zeichnen die Arbeiten von Anja Engelke und Tine Edel aus. Dieser eher medienimmanenten Bildproduktion gegenüber stehen Ingmar Björn Nolting und Valentin Goppel mit ihren dokumentarischen Reportagen zu hochaktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. Im vierten Jahr seines Bestehens hat sich der Vonovia Award für Fotografie damit zu einer festen Größe in der deutschen Fotografielandschaft etabliert.