Das Museum Fridericianum in Kassel zeigt jetzt die erste Einzelausstellung der amerikanischen Künstlerin Toba Khedoori in Deutschland
Malerei, Zeichnung oder Objekt? Schon bei der Frage, um was es sich bei den Arbeiten von Toba Khedoori genau handelt, ist eigentlich keine eindeutige Antwort möglich. Bekannt geworden ist die 1964 als Tochter jüdisch-irakischer Einwanderer in Sydney, Australien geborene und seit vielen Jahren in Los Angeles lebende Künstlerin durch ihre ungewöhnlich großformatigen, auf gewachstem Papier ausgeführten Arbeiten. Der Einfachheit halber werden wir diese im Folgenden zunächst als Zeichnungen bezeichnen, was schon allein aufgrund des verwendeten Bildträgers Papier Sinn macht und von den meisten Interpret:innen ihres Werkes ebenso gehandhabt wird. Darüberhinaus entstehen seit 2008 auch wesentlich kleinformatigere Arbeiten auf Leinwand, die eindeutig im Medium Malerei zu verorten sind. 23 Arbeiten aus beiden Werkgruppen sind zur Zeit in der Ausstellung „Toba Khedoori“ im Museum Fridericianum in Kassel zu sehen (bis 20. Februar 2022). Die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland versammelt Werke aus den Jahren 1994 bis 2021. Es handelt sich zudem um die erste größere Präsentation ihrer Arbeiten in Europa seit ihrer Ausstellung „Toba Khedoori – Gezeichnete Bilder“ im Jahr 2001 im Museum für Gegenwartskunst in Basel.
Doch zunächst zu den Zeichnungen. Was sofort ins Auge fällt, ist die ungewöhnliche, längst zum Markenzeichen der Künstlerin gewordene Diskrepanz zwischen der verhältnismäßig kleinen, eigentlichen Darstellung und dem auf den ersten Blick gigantisch wirkenden, leeren Umraum beziehungsweise Weißraum. Eine Zeichnung wie die 1999 entstandene Arbeit „Untitled (Window)“ mit den Abmessungen 365,8 x 609,6 cm kann zurecht als extremes Großformat bezeichnet werden. Arbeiten dieser Größe setzt Toba Khedoori aus mehreren, in der Regel vertikal nebeneinander hängenden Papierbahnen zusammen. Auf schützende Elemente wie Rahmen oder Glasscheiben verzichtet sie bei der Präsentation ihrer Arbeiten. Diese werden direkt auf der Wand montiert. Die Betrachter:innen werden daher auch in die Lage versetzt, die Arbeiten ohne schützende konservatorische Barrieren ganz unmittelbar so wahrzunehmen, wie sie aus dem Studio gekommen sind, einschließlich der nicht ausbleibenden Wellungen, Bestoßungen und Ausfransungen des Materials. Die Betrachter:innen stehen vor der letztlich nur individuell zu beantwortenden Frage, geht es hier ums Detail oder um den Gesamteindruck? Soll man ganz nah herangehen oder die Arbeiten besser aus großer Distanz betrachten? Die großzügig bemessenen Ausstellungsräume im ersten Stock des Kasseler Fridericianums bieten für beide betrachterischen Herangehensweisen die perfekte Voraussetzung.
Auf den meisten Arbeiten Toba Khedooris zu erkennen sind Vorzeichnungen mit Bleistift und Konturlinien mit schwarzer Tinte, die dann mit stark verdünnter Ölfarbe ausgemalt werden. Dargestellt sind bei Toba Khedoori niemals Menschen oder sonstwie anthropomorphe Sujets. Stattdessen zeichnet sie so banal wirkende Dinge wie Türen, einen Stuhl, ein Fenster, eine an der Wand lehnende Holzlatte samt Schattenwurf oder eine Fußgängerbrücke, wie sie etwa an Bahnlinien in amerikanischen Suburbs zu finden ist. All diese Gegenstände stellt sie isoliert und ohne narrativ aufgeladene Hintergründe dar. Ebenso bildet sie einen Zug, ein Seil, ein perspektivisch angeschnittenes Haus, eine von einem Maschendrahtzaun eingefriedete Rechteckfläche oder ein prasselndes Kaminfeuer nahezu mimetisch ab. Als Vorlagen dienen ihr häufig Fotografien oder Modelle. Eine genaue zeitliche Einordnung dieser Motive ist schwierig, da sie eher archetypisch aufgefasst werden und keinerlei bestimmten Stil oder eine markante Design- oder Architektursprache aufgreifen.
Exemplarisch für diese Art der Darstellung ist wiederum die Arbeit „Untitled (window)“. In Frontalansicht und daher schattenlos dargestellt ist ein typisch amerikanisches Schiebefenster aus Holz, wie es beispielsweise immer wieder auf Gemälden Edward Hoppers oder Fotografien von Walker Evans, Berenice Abbott oder Robert Frank auftaucht. Jeder US-Bürger ist mit diesem mehr oder weniger standardisierten Bauelement vertraut. Toba Khedoori gelingt es hier, durch lasierenden Farbauftrag die Materialeigenschaften eines hell lackierten, aber schon allmählich verwitternden Holzrahmens täuschend echt wiederzugeben. Die eigentliche Glasfläche jedoch wird durch ein opakes, geradezu suprematistisches Schwarz repräsentiert, das die Betrachter:innen einerseits magisch anzieht, sie andererseits aber auch entschieden zurückstößt. In dem zu einer Ausstellung Toba Khedooris bei David Zwirner in New York 2013 erschienenen Katalog charakterisiert der mit der Künstlerin befreundete Künstler und Autor Julien Bismuth Toba Khedooris mimetische Art der Darstellung zwischen Zeichnung und Malerei folgendermaßen: „Obwohl sie häufig gemalt sind, erscheinen ihre Werke aber vielmehr graphisch als malerisch, sie reihen sich viel klarer in die Geschichte der Zeichnung ein als in die der Malerei… Insbesondere in das spezifische Genre der technischen Zeichnung, welche sich durch Präzision und stilistische Neutralität auszeichnet.“
Indem Toba Khedoori sie also mit einer Exaktheit zeichnerisch erfasst, die an technische Zeichnungen erinnern lässt, ruft sie banale Gebrauchsgegenstände ins Gedächtnis, deren spezifische Qualitäten im Alltag kaum bewusst wahrgenommen werden. Aussagen der Künstlerin, warum sie ein bestimmtes Objekt zeichnet oder überhaupt für bildwürdig hält, gibt es nicht. Toba Khedoori gibt keine Interviews, in denen sie ihre künstlerische Strategie erläutert. Es gibt von ihr auch keinerlei Artist Statements oder Künstlertexte. Eigentlich untypisch für eine Absolventin der UCLA School of the Arts and Architecture in Los Angeles, zu deren Lehrkörper stark mitteilsame und öffentlichkeitswirksame Professor:innen wie John Baldessari, Barbara Kruger, Mike Kelley oder Paul McCarthy gehörten. Die einzigen von Toba Khedoori autorisierten Aufnahmen, die sie bei der Arbeit im Studio zeigen, stammen aus dem Jahr 1995. Fotografiert wurde sie damals von ihrer Zwillingsschwester Rachel Khedoori, die ebenfalls als Künstlerin in Los Angeles tätig ist. Diese Zurückhaltung sollte jedoch nicht als Verweigerungshaltung ausgedeutet werden. Sie ist ganz einfach nur kongruent mit den stillen Arbeiten der Künstlerin, die ja auch eher eine Aura von Verschlossenheit statt übertriebener Redseligkeit transportieren. Geheimnisvolle Schlichtheit ist allerdings nicht unbedingt das Hauptcharakteristikum von Kunst, die an der amerikanischen Westküste entsteht. Insofern repräsentiert Toba Khedoori eine leise und nachdenkliche Stimme in der aus der Counter Culture der 1960er und 1970er Jahre hervorgegangenen, gemeinhin als eher extrovertiert wahrgenommenen kalifornischen Kunstszene. Gewisse Bezüge könnte man allerdings zu Werken Ed Ruschas herstellen, der ebenfalls typisch amerikanische Erscheinungen wie Tankstellen, das Hollywood-Zeichen, Wüsten oder Berge ganz lapidar darstellt – dann aber meist ergänzt um typographische Elemente.
Was Toba Khedooris großformatiges zeichnerisches Werk auszeichnet, ist die Dialektik von Exaktheit und Ortlosigkeit, Detailliertheit und Weite. Eingebettet sind die symmetrisch exakt im Bildgrund zentrierten Motive in geradezu verschwenderisch große, mattweiße oder gebrochen eierschalfarbene Flächen, die, nur von Ferne betrachtet, monochrom erscheinen. Tatsächlich aber enthalten die stets mit einer oder mehreren Wachsschichten versiegelten Bilduntergründe eine Vielzahl von Partikeln, Verunreinigungen, Befleckungen, Unterzeichnungen, Verwischungen oder Schrammen. Zu sehen sind etwa Staub, Flusen, Finger- oder Fußabdrücke, Haare der Künstlerin oder ihres Hundes, kleine Insekten, Heftklammern und Ähnliches. Sedimente des Studiobetriebs und Spuren der Herstellung und Bearbeitung also, die den auf den ersten Blick womöglich konzeptuell erscheinenden Arbeiten jene aseptische Aura austreiben, die gemeinhin mit Konzeptkunst oder Minimal Art konnotiert wird.
Die Linzer Kunsthistorikerin Monika Leisch-Kiesl hat sich in ihrer umfangreichen Monographie „ZeichenSetzung | BildWahrnehmung. Toba Khedoori: Gezeichnete Malerei“ (2016, Verlag für moderne Kunst, Wien) ausführlich mit dem Werk Toba Khedooris und insbesondere auch dessen zeichentheoretischer Aufladung beschäftigt. In ihrer Analyse der 2001 entstandenen Zeichnung „Untitled (Windows)“ beschreibt Leisch-Kiesl zunächst den exakt rasterförmigen Bildaufbau mit fünf Reihen aus jeweils dreizehn fensterförmigen Rechtecken. Sie kommt zu folgender Einordnung: „Was wie die Beschreibung eines Werks der Minimal Art anmutet, ist erneut eine Arbeit Toba Khedooris, die mit ihrem reduzierten und sehr bestimmt gesetzten Bildvokabular dieser Tradition unverkennbare Anleihen entnimmt, sie aber auch deutlich bricht. Weiß ist nicht einfach Weiß, sondern eine ganze Welt: Papier und Wachs, Farbnuancen von Weiß bis Ocker, Relikte des Arbeitsprozesses. Und der Rechteckraster ist noch sehr viel mehr als dies. Er erzählt erneut von Fenstern.“
Und zwar von Fenstern, die alle unterschiedlich dargestellt sind. Insofern weist diese Arbeit allerdings auch Bezüge zur amerikanischen Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, genauer gesagt, zu einem Gemälde Georgia O’Keeffes auf. „The Radiator Building–Night, New York (1927)“ zeigt das gleichnamige Gebäude als Nachtansicht mit seinen erleuchteten Fensterreihen. Auch hier weist jedes Fenster einen anderen Grad von Helligkeit und eine etwas andere Farbe auf.
Toba Khedoori zeigt uns Wirklichkeitsausschnitte, die geradezu archetypisch wirken. Auf ihren Bildern dominiert die Faktizität des Einfachen und der Ereignislosigkeit, die allerdings mit großer Exaktheit und Detailtreue zeichnerisch erfasst werden. Zeichnungen sind von jeher das direkteste Medium der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung. Laut dem Kunsthistoriker Max Imdahl liefern sie „Anschauungserfahrungen, die an dreidimensionalen Gebilden nicht zu gewinnen sind.“ Am Beispiel der Arbeit „Untitled (stick)“ von 2005 wird dies besonders deutlich. Sie zeigt eine industriell hergestellte (Bau-)Latte mit leichter Maserung, die leicht schräg an eine Wandfläche angelehnt ist. Durch das hereinfallende Licht entstehen zwei Schatten, ein kurzer auf dem Boden und ein längerer auf der Wand, die zusammen mit der Latte selbst ein spitzwinkliges, nahezu schwebendes Dreieck, mithin also eine geometrische, der reinen Dingwelt entrückte abstrakte Figur, bilden. Gerade diese Arbeit bietet auch die Gelegenheit, näher auf die markanten Leerräume auf den Zeichnungen Toba Khedooris einzugehen, stellen doch „ihre solitären Subjekte“, laut Julien Bismuth, „sich selbst als sie selbst dar, und zwar losgelöst von allen anderen Dingen, die ihnen womöglich Zweckmäßigkeit und Bedeutung verleihen würden.“
Bleibt also die Frage nach der augenscheinlichen Ästhetisierung der Leere auf Toba Khedooris Zeichnungen. Kunsthistorische Vergleiche führen beispielsweise zu Malewitsch‘ suprematistischem Nullpunkt der Malerei, dem Bild „Weiß auf Weiß“ (1918), aber auch zu Arbeiten Mark Rothkos oder Robert Rymans. Aber vielleicht ist Toba Khedooris Interesse an Räumen der Abwesenheit ja auch eher philosophisch begründet, oder es folgt buddhistischen, taoistischen oder hinduistischen Vorstellungen oder auch Konzepten der jüdischen Kabbala. Vielen mystischen Lehren zufolge ist die Leere keineswegs das reine Nichts, sondern ein körperlich und sinnlich erlebbarer Erfahrungsraum, in dem die Bedingungen göttlicher beziehungsweise menschlicher Existenz sichtbar werden. Fragen nach den ontologischen Bedingungen des Erscheinens und der mit Bedeutung aufgeladenen Materialisierung der Leere tauchen unter anderem auch in der Architektur auf. So hat der Architekt Daniel Libeskind sowohl im Jüdischen Museum Berlin als auch im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück ganz bewusst Räume der Abwesenheit, sogenannte Voids oder Void Spaces, geschaffen. Und in Peter Eisenmans Berliner Holocaust Memorial ist die begehbare Leere zwischen den Steinquadern die unbedingte Voraussetzung dafür, das Monument in all seinem Gehalt sinnlich zu erfahren.
Insofern stellt sich auch bei Toba Khedoori die Frage: Inwiefern wird das Abwesende zum eigentlichen Bildgegenstand? Die Rationalität der gebauten Welt in Form von Möbeln, Fenstern oder Brücken präsentiert sie innerhalb eines sehr viel mehr Raum einnehmenden Feldes der Formlosigkeit. So gesehen lassen Toba Khedooris Zeichnungen durchaus Raum für spirituelle, mystische, philosophische und theosophische Formen der Annäherung durch die Betrachter:innen.
Ganz im Gegensatz zu den Zeichnungen sind die seit 2008 entstehenden Gemälde auf Leinwand bis zum Bildrand hin mit gemalten Details ausgefüllt. Auch im Medium der Malerei schärft Toba Khedoori unseren Blick auf das Alltägliche. Die Formate sind im Vergleich zum zeichnerischen Werk jedoch wesentlich kleiner. Selbst das größte in Kassel gezeigte Gemälde „Untitled (hole)“ (2013), die Darstellung eines lichterfüllten Durchbruchs innerhalb einer komplett schwarz gehaltenen Backsteinwand, misst vergleichsweise kleine 112,4 x 121 cm. Für ihre Gemälde wählt Toba Khedoori Motive, in denen Weite und Unendlichkeit ganz anders angelegt sind als auf den Zeichnungen. Das Bild „Untitled (branches I)“ von 2011/12 zeigt in einer ausschnitthaft wirkenden Ansicht ineinander verschlungene Äste und Zweige innerhalb eines winterlich anmutenden Waldes. Das 2014 entstandene, nahezu fotorealistisch wirkende Gemälde „Untitled (tile)“ wiederum zeigt einen glänzenden Mosaikfußboden mit geometrischem Muster samt Lichtreflexen, die von einem nicht dargestellten Scheinwerfer oder Blitzlicht hervorgerufen zu sein scheinen.
Was Toba Khedooris Zeichnungen und Gemälden also gemeinsam ist, sind die Verweise auf eine außerhalb des Bildraumes existente Wirklichkeit, sei sie nun mystisch aufgeladen oder womöglich bloß rein technischer Natur. Distanz und Nähe, Präzision und Vagheit, Rationalität und Transzendenz, das Sichtbare und das Unsichtbare kommen auf diesen Bildern auf eine sehr eigentümliche und die Betrachter:innen daher umso mehr berührende Art zusammen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Toba Khedoori
Ort: Museum Fridericianum, Kassel
Zeit: bis 20. Februar 2022
Di – So und an Feiertagen 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr
31.12.2021 geschlossen, 1.1.2022 geöffnet
Monografie zu Toba Khedoori: ZeichenSetzung | BildWahrnehmung
Toba Khedoori: Gezeichnete Malerei
Autorin: Monika Leisch-Kiesl
Verlag für moderne Kunst, Wien, 348 S., 48 Euro
www.fridericianum.org