Künstlerische Produktivität als Widerstandskraft gegen Putins Krieg: Die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova zeigt im Kunstverein Hannover neue und ältere Arbeiten
Auf der Biennale Venedig 2019 war die Welt der Zhanna Kadyrova noch in Ordnung. Im Arsenale präsentierte die 1981 geborene ukrainische Künstlerin ihre Arbeit „Market“, eine bunte und vielteilige Installation in Form eines kleinen Wochenmarktes. Und was es da alles gab: Bananen, Auberginen, Wassermelonen und vor allem aber Schinken, Speck, Salami und Würste aller Art. Alles war kunstvoll geformt aus bunten Keramikfliesen, Marmor, Granit, Zement und Glas. Eine performative Komponente hatte die Arbeit, die später auch auf verschiedenen Kunstmessen gezeigt wurde, ebenfalls. Die appetitlich aufgeschnittenen Wurstobjekte etwa konnten bei der als Marktfrau verkleideten Künstlerin direkt erworben werden. Ein Gramm für einen Euro.
Zhanna Kadyrova hat mit dieser ebenso visuell ansprechenden wie subversiven Arbeit gleich zwei Regelsysteme des Kunstbetriebs unterlaufen. Erstens das Tabu der künstlerischen Selbstvermarktung und zweitens die ansonsten eher schwer zu durchschauenden Mechanismen der Preisfindung – hier heruntergebrochen auf simple Kilopreise wie beim Metzger oder Bäcker. Die angeblich von einem alten chinesischen Fluch abgeleitete englischsprachige Redewendung „May You Live In Interesting Times“ hatte Ralph Rugoff, der Künstlerische Direktor der Biennale, zum Motto der Schau gewählt. Dessen Zweischneidigkeit ist leider allzu rasch zum Vorschein gekommen. Denn was seitdem passiert ist, ist allgemein bekannt. Die Ukraine ist seit dem brutalen Überfall durch russische Truppen vor bald einem Jahr zum Kriegsschauplatz mitten in Europa geworden. Business as usual kann es angesichts der dadurch ausgelösten ständigen Angst- und Bedrohungszustände und unverarbeiteten Traumata für keinen mehr geben – auch nicht für eine in Ost und West gleichermaßen erfolgreiche bildende Künstlerin wie Zhanna Kadyrova.
In ihrer Ausstellung „Daily Bread – Eine erste Retrospektive“ im Kunstverein Hannover darf natürlich auch diese mittlerweile ikonische Arbeit nicht fehlen. Sie steht am Anfang eines von Raum zu Raum zunehmend verstörenderen Parcours. Dieser enthält zwar auch einige ältere Arbeiten, in denen die Künstlerin Elemente des sowjetischen Alltags wie die Fliesen einer stillgelegten Seidenfabrik oder einer aufgegebenen Busstation bei Tschernobyl in sperrige Modeobjekte übersetzt.
Die retrospektiven Anteile der Schau halten sich jedoch in Grenzen. Denn Zhanna Kadyrova hat eine ganze Reihe von neueren, hochaktuellen Arbeiten mit nach Hannover gebracht, die sich mit den Auswirkungen und Folgen des Krieges beschäftigen. Dabei vermeidet die Künstlerin gekonnt das Vordergründige, Plakative oder plump Anklagende. Stattdessen benutzt sie tradierte Genres wie das Readymade, um ihre hintergründigen Botschaften in diskret-abstrahierter Form zu vermitteln.
So etwa im Fall der zwei aus dem Straßenbelag der zerstörten Stadt Irpin entnommenen, mehrere Hundert Kilo schweren Asphalt-Fragmente, die jetzt wie schrundige Bilder des Informel an der Wand hängen. Die russischen Granaten, die sich dort in die Fahrbahn gebohrt hatten, sind nicht zu sehen, dafür aber die Krater, die sie hinterlassen haben. Im langgestreckten Oberlichtsaal des Kunstvereins wiederum präsentiert sie unter dem sarkastischen Titel „Harmless War“ ein ganzes Repertoire geometrischer Grundformen. Die der Minimal Art abgeschaute skulpturale Eleganz der mattweiß lackierten Kugeln, Kuben, Kegel und Pyramiden kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese aus Autodächern, Straßenschildern und anderen Metalloberflächen zusammengeschweißt wurden, deren scharfkantige Verwundungen durch Granaten und andere Geschosse nach wie vor sichtbar sind. Die Reinheit der idealen Form trifft hier auf die unversöhnliche Rohheit des Militärischen.
Zhanna Kadyrova, die mittlerweile wieder in Kyiv lebt, ist kurz nach dem russischen Angriff zusammen mit ihrem Lebenspartner Denys Ruban in ein kleines Dorf in Transkarpatien, ganz im Westen der Ukraine, geflüchtet. In einem 20-minütigen Film ist zu sehen, wie sie sich von einigen der Dorfbewohner deren Träume aus der letzten Nacht vor dem russischen Angriff erzählen lässt und diese währenddessen zeichnet. Auch diese Porträts werden in Hannover gezeigt.
Entstanden ist in dem Dorf auch die neue Werkgruppe „Palianytsia“, mit der Zhanna Kadyrova an ihre Marktstände anknüpft. Zusammen mit den Dorfbewohnern in der Westukraine hat die Künstlerin am Ufer eines Flusses Findlinge aufgelesen, diese wie frische Brotlaibe aufschneiden und die Oberflächen polieren lassen. Die sinnlichen Brotskulpturen präsentiert sie in Hannover auf einem weißen Tischtuch. Wer sie direkt aus der Ausstellung heraus erwerben will, ist wiederum mit einem Euro pro Gramm dabei. Alle Erlöse stellt Zhanna Kadyrova für humanitäre Zwecke in ihrer Heimat zur Verfügung. Kriegsgerät wird davon nicht gekauft.
Besonders eindringlich sind aber auch die großformatigen Fotografien, die Zhanna Kadyrowa unmittelbar nach dem Abzug der russischen Truppen in der Region Charkiw gemacht hat. Sie zeigen zerstörte Interieurs von Krankenhäusern, Bibliotheken und Klassenzimmern. Etliche Zimmerpflanzen, die auf diesen Aufnahmen zu sehen sind, hat Zhanna Kadyrova an diesen Schauplätzen des Krieges eingesammelt und nach Hannover mitgebracht. Ihre Installation „Refugees“ im letzten Raum der Ausstellung versammelt von Granatsplittern lädierte und angekokelte Kakteen, Zimmerpalmen und Gummibäume und gibt ihnen – verbunden mit der Hoffnung, dass sie eines Tages in die Ukraine zurückkehren können – ein neues, fürsorgliches Zuhause auf Zeit.
Christoph Platz-Gallus, der nach Stationen bei den Skulptur Projekten Münster und der documenta zuletzt beim Kunstfestival Steirischer Herbst in Graz tätig war, gibt mit dieser ebenso sehenswerten wie aktuell relevanten Schau sein gelungenes Debüt als neuer Direktor des Kunstvereins Hannover. Organisiert wurde die Ausstellung gemeinsam mit dem PinchukArtCentre in Kyiv. Dort soll sie auch im Sommer dieses Jahres in etwas anderer Form gezeigt werden. Es bleibt zu hoffen, dass die ukrainische Situation das dann auch zulassen wird.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Zhanna Kadyrova: Daily Bread – Eine erste Retrospektive
Ort: Kunstverein Hannover
Zeit: bis 9. April 2023. Di-So 12-19 Uhr. So und Feiertage 11-19 Uhr
Katalog: noch keine Angaben
Internet: www.kunstverein-hannover.de
www.kadyrova.com