Ohren auf und durch: Die Ausstellung „À bruit secret. Das Hören in der Kunst“ im Museum Tinguely in Basel rückt das Primat des Akustischen in den Fokus ihrer Werkauswahl
Wir sind umgeben von Klängen. Ob die Waschmaschine schleudert, aus der Ferne ein Martinshorn herüberschallt oder die Nachbarin gerade Klavier spielt. Der Hörsinn prägt unseren Alltag, und wir können uns der allgegenwärtigen Geräuschkulisse nur schlecht entziehen. Dass die Visualisierung des Hörens auch in der bildenden Kunst schon seit Jahrhunderten eine große Rolle spielt, beweist jetzt die Ausstellung „À bruit secret. Das Hören in der Kunst“ im Museum Tinguely in Basel mit ausgewählten Werken vom Barock bis in die unmittelbare Gegenwart. Die von Annja Müller-Alsbach kuratierte Schau ist der vierte und damit vorletzte Teil einer Reihe von Themenausstellungen im Museum Tinguely, die sich den fünf menschlichen Sinnen widmet. Die Schau versammelt Werke von rund zwei Dutzend internationalen Künstler:innen. Der französische Titel „À bruit secret“ bezieht sich auf ein geheimnisvolles Readymade von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1916/1964 mit ebendiesem Titel, das auch in der Ausstellung gezeigt wird. Ein zwischen Messingplatten fixiertes Schnurknäuel soll ein unbekanntes, tönendes Objekt enthalten. Jeder Versuch der Freisetzung würde jedoch die Zerstörung des Readymades erforderlich machen.
Der Prolog der Schau findet aber auf der von Licht erfüllten Passerelle mit Panoramafenstern zum Rhein statt. Gleich hier kann man die erste Soundarbeit mit dem Titel „Il Reno“ (2023) erleben. Die Berliner Klangkünstlerin Christina Kubisch hat systematisch Unterwassergeräusche vom Rhein in Basel aufgenommen und daraus eine ungewöhnliche Audioinstallation entwickelt, die sich über speziell angefertigte Induktionskopfhörer sukzessive erleben lässt. Beim langsamen Abschreiten der Rampe und dem Betrachten des Flusses werden die unterschiedlichsten Unterwasserklänge des gurgelnden, strömenden und plätschernden Rheins hörbar. Der Strom porträtiert sich sozusagen selbst, indem er zum Soundscape wird.
Derart eingestimmt, startet man in die eigentliche Schau mit einigen historischen Exponaten, die vor allem die Klang- und Geräuschwelten der Futuristen zum Thema haben. Maschinen, Industrie, Verkehr und Großstadt sorgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts für einen atemberaubenden Sound, den vor allem die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti als akustisch-ästhetisches Material begriffen und in ihren Arbeiten zu visualisieren versuchten. Auch der Hannoveraner DADA-Künstler Kurt Schwitters konnte dem Sound der Metropolen etwas abgewinnen. In Basel wird jetzt neben einigen hinreißenden Collagen auch Schwitters’ legendäre Ursonate präsentiert, die aus absurden, sprachmalerischen Lauten besteht und einer ganz eigenen Logik folgt.
Das menschliche Ohr taucht gleich mehrmals in der Ausstellung auf, etwa als großformatige Farbfotografie von Isa Genzken, die das Ohr einer rothaarigen, sommersprossigen Frau in extremer Nahsicht zeigt. Die Arbeit ist Teil einer ganzen Serie, die Genzken 1980 auf New Yorker Straßen fotografiert hat. „Das Ohr von Giacometti“ (1959) wiederum, einen Bronzeabguss, ließ die Surrealistin Meret Oppenheim nach einem Wachsmodell anfertigen, das auf ihrer Zeichnung von Giacomettis Hörorgan basierte. Wer genau hinschaut, wird aber erkennen, das Oppenheim das Ohr um einige erotisch ausdeutbare Details ergänzt hat.
Die menschliche Stimme, die Vielfalt der Sprachen und der Lärm der Stadt animierten auch Künstler wie Jean Tinguely oder Robert Rauschenberg nach dem zweiten Weltkrieg zu Klangobjekten, in die Elektromotoren, Autoteile, Radiogeräte und etliche andere Objets Trouvés integriert sind. So zeigt das Museum Tinguely jetzt erstmals in der Schweiz das raumfüllende Skulpturenensemble „Oracle“ (1962-1965) von Robert Rauschenberg.
Dass Künstler:innen auf der Suche nach akustischen Erkenntnissen auch zu Feldforscher:innen werden können, zeigt die Videoarbeit „Acoustic Ocean“ (2018) der Schweizer Künstlerin Ursula Biemann. Ausgestattet wie die Teilnehmerin einer wissenschaftlichen Expedition, sehen wir in dem Video eine dem Volk der Samen angehörige junge Norwegerin im Forscherinnendress, die offenbar akribisch die verborgenen Klangwelten im Inneren des Meeres bei den norwegischen Lofoten erforscht.
Auch der kolumbianische Künstler Oswaldo Maciá hat für seine raumfüllende Installation „Something Going On Above My Head“ (1999/2023) Tonaufnahmen aus der Natur gesammelt. Und zwar 2000 verschiedene Vogelstimmen aus vier Kontinenten. Er selbst versteht sich, wie er es auf einem Wandgemälde darstellt, als Dirigent, der mit dem vielstimmigen Vogel-Orchester eine 30-minütige Komposition aufführt. Ein Fest der Artenvielfalt, das angesichts des prognostizierten Verlustes der Biodiversität allerdings auch nachdenklich stimmt.
Extreme Hör- und Seherlebnisse dann bei dem dänischen Künstler Alexander Tillegreen. In einer komplexen Sound- und Lichtinstallation untersucht er das psychoakustische Phänomen der sogenannten „Phantom-Wörter“. Wer den mit einem Vorhang versehenen kleinen Raum betritt, setzt sich, flankiert von LED-Lichteffekten, einem schwer zu dechiffrierenden Stream unterschiedlicher Sprachen, Stimmen, Wörter, Wortfetzen und Geräuschen aus, die bestenfalls zur Irritation führen, aber auch ein unangenehmes Gefühl der Überforderung auslösen können.
In viel ruhigeres Fahrwasser entführt die Besucher:innen dann die Berliner Künstlerin Jorinde Voigt, die dafür bekannt ist, auf sinnliche Weise Musik, Kompositionen und Klänge zu visualisieren. Ihre neue Reliefserie „Rhythm“ (2022) aus farbigen, kunstvoll zerschnittenen und zu wellenartigen Gebilden arrangierten Papieren und Metallfolien lässt die Betrachter:innen auf faszinierende Art und Weise in die abstrakte Welt der musikalischen Sinneserfahrung eintauchen.
Dem selbst formulierten Anspruch, „die Vielfalt an Geräuschen differenzierter wahrzunehmen“, wird das Museum Tinguely durch die Gegenüberstellung von so unterschiedlichen Medien wie Soundarbeiten, Skulpturen, immersiven Installationen, Fotografien, Arbeiten auf Papier und Gemälden in der Schau durchaus gerecht. Der schwierige Balanceakt, akustische Phänomene visuell darzustellen, scheint mittels der Kunst möglich zu sein. Das Hören kann nicht nur Emotionen, Glücksgefühle, Schmerzen oder halluzinatorische Gedanken-assoziationen evozieren. Auch Erinnerungen aller Art können durch das synästhetische Zusammenspiel von Bildern und Tönen geweckt und längst Verschüttetes an die Oberfläche geholt werden. Wer sich auf die vielfältigen Klangerlebnisse und –darstellungen in Basel einlässt, verlässt das Museum Tinguely mit Gewinn.
Auf einen Blick:
Ausstellung: À bruit secret. Das Hören in der Kunst
Ort: Museum Tinguely Basel
Zeit: bis 14. Mai 2023, Di-So 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr, Mo geschlossen
Katalog: in Vorbereitung
Internet: www.tinguely.ch