Sensibilität als gemeinsamer Antrieb: Das Horsens Kunstmuseum in Dänemark ehrt jetzt den früh verstorbenen dänischen Bildhauer Emil Westman Hertz, indem es seine Arbeiten mit denen des 36-jährigen US-Künstlers Nick Theobald in einen aufschlussreichen Dialog bringt. Beiden gemeinsam ist die hochemotionale Aufladung ihrer von der Natur inspirierten Werke
Mit Emil Westman Hertz und Nick Theobald präsentiert das Horsens Kunstmuseum an der jütländischen Ostseeküste jetzt zwei Künstler, die sich nie persönlich kennengelernt haben, aber sich doch sehr viel zu sagen gehabt hätten, in einer sehr sehenswerten Dialogausstellung mit dem Titel „Last Light“.
Julie Horne Møller, die Kuratorin der Schau, und Claus Hagedorn-Olsen, der Direktor des Hauses, haben sich für diese ebenso unkonventionelle wie zusätzlichen Erkenntnisgewinn produzierende Ausstellungsform entschieden, da sie den 2016 mit nur 38 Jahren viel zu jung an Leukämie verstorbenen Emil Westman Hertz, der auf dem besten Wege war, zu einem der wichtigsten dänischen Künstler aufzusteigen, ehren wollten. Jedoch nicht im überkommenen Format einer förmlich-steifen Gedenkausstellung.
Die hätte auch nicht so sehr zum Profil des Museums gepasst. In seiner heutigen Form besteht das auf experimentelle zeitgenössische Kunst spezialisierte Museum seit 1984. Im Fokus seiner Ausstellungspolitik stehen seitdem innovative künstlerische Sichtweisen auf die Welt, sowohl was die Haltung als auch was Form und Ausführung betrifft.
Bereits im Frühjahr 2019 hatte das Museumsteam im Rahmen einer Recherchereise in die USA den 1986 geborenen Amerikaner Nick Theobald, den sie auf dem Flughafen von Kopenhagen per Zufall kennengelernt hatten, in seinem damaligen Atelier im New Yorker Stadtteil Brooklyn besucht. Sie hatten dabei erstaunliche Parallelen zwischen seinem Werkbegriff, der emotionalen Aufladung seiner Arbeiten, aber auch seiner Vorliebe für und seinen Umgang mit natürlichen Materialien, insbesondere Bienenwachs, festgestellt, die ihn mit Emil Westman Hertz verbindet und daher ein dialogisches Ausstellungskonzept sehr nahelegte.
Im Sommer 2019 erfolgte bereits der erste Ankauf einer Arbeit von Nick Theobald. Es handelte sich um die Skulptur „Soaked Vanitas“ (2019). Dass die lange geplante Ausstellung in Horsens erst jetzt zustande gekommen ist, ist in erster Linie durch die Pandemie bedingt. Allerdings wird sie dafür ein halbes Jahr lang zu sehen sein. Die Tatsache, dass die Lufttransportkosten für Kunst seit Covid-19 in geradezu astronomische Höhen gestiegen sind, darf in diesem Falle ausnahmsweise als Glücksfall bezeichnet werden. Nick Theobald nämlich hat sich darauf eingelassen, sein Atelier für vier Wochen in das Museum zu verlegen. So sind in tage- und nächtelanger Vor-Ort-Produktion viele neue Arbeiten, zum Teil inspiriert durch die zahlreichen Werke von Emil Westerman Hertz aus der Sammlung des Museums, entstanden.
Den Arbeiten beider Künstler eingeschrieben sind Dichotomien und Ambivalenzen. Dauerhaftigkeit und Verfall, Prekarität und Stabilität. Emotionalität, Schönheit und Grauen reichen sich hier die Hand. Bezüge zu den Biografien der beiden Künstler bilden eine weitere Folie für das Lesen der Werke. Viele Arbeiten können als individuelle Bedeutungssetzungen oder Manifestationen des Selbst gelesen werden.
So etwa die Installation „Tent“ (2016) von Emil Westman Hertz gleich in einem der ersten Räume der Ausstellung. Die direkt auf dem Boden stehende Arbeit besteht aus einem reichlich zerschlissenen Ein-Mann-Armeezelt. Davor steht ein Glas mit Schraubdeckel, in welchem sich eine pulverartige Substanz befindet. Außerdem diverse Abgüsse von floralen Architekturelementen, eine simple, aber höchstwahrscheinlich tödliche Tierfalle aus einer schweren Steinplatte, die von dünnen Holzlatten gehalten wird. Eine fast auseinander fallende, mit allerlei Unrat, darunter Bauschaum, Tablettenblistern und -verpackungen, Zeitungsausschnitten und Tierknochen, gefüllte Pappkiste wiederum erinnert zwar auf den ersten Blick an die Akkumulationen der französischen Nouveaux Réalistes. Doch deren Kunst hielt eher der Konsumgesellschaft ganz allgemein einen Spiegel vor, indem sie Alltagsmüll poetisch arrangierte.
Bei Emil Westman Hertz sind die Bezüge jedoch wesentlich persönlicher und intimer. Mit dem Zelt war der Künstler einst durch Afrika gereist. Die Tabletten hat er selbst geschluckt, und die in Bronze abgegossene, halbverweste Katze, die das Ensemble komplettiert, im eigenen Garten auf seiner Heimatinsel Bornholm gefunden. Bei Emil Westman Hertz jetzt einen rein provokativ motivierten Hang zum Morbiden zu unterstellen, ginge jedoch vollkommen an der Realität vorbei. Der Künstler sah sich seit 2008 mit der Diagnose Leukämie konfrontiert. Er erhielt diese kurz nach seinem Kunsthochschuldiplom. Der zuletzt immer aussichtslosere Kampf gegen die unaufhörlich voranschreitende Krankheit fand seinen ästhetischen Niederschlag in nahezu allen in der Ausstellung gezeigten Arbeiten. Angesichts des Primats der sein Leben verdunkelnden Diagnose lässt sich Emil Westman Hertz’ intensive künstlerische Auseinandersetzung damit vielleicht auch mit dem digitalen Tagebuch vergleichen, das der deutsche Maler und Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (1965-2013) unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ als fortlaufenden Blog veröffentlichte, in welchem er das Fortschreiten seiner Krankheit schonungslos beschrieb.
Eine besondere Rolle im Werk von Emil Westman Hertz nehmen aber auch bestimmte, regelmäßig wiederkehrende Naturalien ein. So taucht immer wieder der im Deutschen auch als Herkules-Staude bezeichnete Riesen-Bärenklau auf: entweder in Form getrockneter Teile des bis zu drei Meter Höhe erreichenden Doldenblüters oder aber in Form von Bronzeabgüssen der mächtigen Stängel. Der Riesen-Bärenklau ist eine ursprünglich aus dem Kaukasus stammende, invasive Pflanze, die bei Berührung mit der menschlichen Haut Substanzen freisetzt, die in Kombination mit dem Sonnenlicht zu schwersten, an Verbrennungen erinnernden Hautirritationen führen können. Gleichzeitig werden ihre Inhaltsstoffe aber auch in der experimentellen Therapie bestimmter Krebsarten eingesetzt. So auch – leider ohne Erfolg – bei Emil Westman Hertz.
Auch in seiner zentralen Arbeit „The Prince’s Garden“ (2014), der in der Ausstellung ein ganzer Raum gewidmet ist, kommt der Künstler auf diese Pflanze zurück. Das an eine Wunderkammer erinnernde Ensemble aus mit nahezu naturwissenschaftlicher Akkuratesse und Systematik arrangierten Elementen wird in einer großen Glasvitrine präsentiert, die nach Vorbildern aus dem Ende des 19. Jahrhunderts eröffneten Pariser Naturkundemuseum Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée gefertigt ist. In diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Tatsache, dass Emil Westman Hertz auch Ethnologie, oder um präziser zu sein, Eskimologie, also Sprache, Literatur und Kultur der indigenen Bevölkerung Grönlands, studiert hat. Ein Fach, dass nur an der Universität Kopenhagen angeboten wird. Künstlerische, wissenschaftliche und spirituell oder schamanistisch ausdeutbare, höchst individualistische Annäherungen an die Wirklichkeit reichen sich in seinem Werk die Hand. Wie wir später sehen werden, zeigen sich auch hier wieder überraschende Übereinstimmungen und Verwandtschaften mit Nick Theobald.
Die Arbeit „The Prince’s Garden“ setzt sich aus unterschiedlichen Objektgruppen voller in sich abgeschlossener, kleiner Bedeutungseinheiten zusammen, die jeweils auf kleinen Holzsockeln aufgereiht sind. So etwa eine Reihe von Medikamentenschachteln, die mit toten Bienen vom Grundstück des Künstlers angefüllt und mit türkis eingefärbtem Wachs ausgegossen sind. Einer Farbe, die wohl nicht von ungefähr an OP-Kleidung erinnert, wie sie Chirurgen tragen. Eine kleine, liegende Wachsfigur wiederum, deren Brustkorb von einem großen Gebilde dominiert wird, dass wie ein Hybrid aus Trichter und Pilz anmutet, erinnert an einen zur Passivität verurteilten, kranken Menschen oder bereits Verstorbenen. Und einer von mehreren menschlichen Köpfen in dieser Vitrine ist von Emil Westman Hertz zunächst aus Wachs modelliert und anschließend in einen Bienenkorb transferiert worden. Quasi als Co-Autoren oder tierische Kollaborateure haben die Insekten die Arbeit vollendet, indem sie sie mit einer arttypischen Wabenstruktur überzogen haben.
An den Wänden außerhalb der Vitrine sind noch diverse Satelliten dieses Ensembles in Form von Bronzeabgüssen installiert: so etwa ein Vogelkadaver und Bärenklaustängel. Außerdem auch Zeichnungen, auf welchen zum Beispiel das Trichtermotiv wieder auftaucht. „The Prince’s Garden“ kann als Schlüsselwerk zum gedanklich-künstlerischen Kosmos von Emil Westman Hertz gelesen werden. Hier begegnen und verdichten sich mehrere symbolische und metaphorische Setzungen, die auch in anderen Arbeiten auftauchen, zu einer großen, obsessiven, für Außenstehende aber nur schwer zugänglichen „Individuellen Mythologie“. Genau diesen Begriff hat Harald Szeemann, der Schweizer Ausstellungsmacher und Leiter der documenta 5 (1972), bereits Anfang der 1960er Jahre geprägt, um darunter künstlerische Positionen zusammenzufassen, in welchen die Künstler:innen Räume schaffen, die sie mit persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken zeichenhaft und symbolträchtig ausstatten. Oft auch mit Bezügen zur Archäologie, Ethnologie und nicht-westlicher Kunstpraxis. Unter den auf der documenta 5 ausgestellten Künstler:innen waren damals Paul Thek, Michael Buthe und Eva Hesse. Allen gemeinsam war auf der materiellen Ebene der prozesshafte Umgang mit ungewöhnlichen, eigentlich kunstfremden und sich leicht zersetzenden, instabilen Materialien. Auf der inhaltlichen Ebene kommt die Tatsache hinzu, dass emotionale Verfasstheiten, Ängste und Traumata adressiert werden, die sich nicht komplett in sprachliche Begrifflichkeiten auflösen lassen. So auch bei Emil Westman Hertz und Nick Theobald.
Was Emil Westman Hertz und Nick Theobald unter anderem miteinander verbindet, ist die besondere Beziehung zu Bienen und dem von ihnen abgesonderten beziehungsweise ausgeschwitzten Bienenwachs. Einer Substanz, die den Insekten vornehmlich als selbstproduziertes Baumaterial für ihre wabenartigen Behausungen dient. Eine spezielle Eigenschaft von Bienenwachs stellt auch das große Farbspektrum dar, welches von nahezu weißen Wachsen über alle möglichen Beige-, Gelb- und Brauntöne bis hin zu nahezu schwarzen Tönen reicht – immer abhängig davon, welchen Blütenpollen die Bienen aufgenommen haben. Nick Theobald macht sich diese Tatsache zunutze, wenn er, wie etwa auf dem Diptychon „Utopia, Utopia“ (2018), nahezu das ganze natürliche Farbspektrum des Wachses anstelle von Öl- oder Acrylfarben verwendet. Das großformatige abstrakte Bild erhält seinen Reiz durch das vielschichtige Über- und Untereinander von Wachsschichten, die an Wolken, Kleckse, Pfützen oder Spritzer erinnern. Mitunter auch an menschliche Hauttöne. Nick Theobald erzeugt diese Formen- und Farbenvielfalt, indem er auf die schräg an der Atelierwand lehnende Leinwand Wachs aufbringt und dieses dann mit einer Heat Gun (dt. Heißluftpistole) gezielt zum Schmelzen bringt. Gegen die Makellosigkeit dieser glatten Oberflächen arbeitet er jedoch auch wieder an, indem er diese anschließend mit einem spitzen Gegenstand linienförmig einritzt, um so eine feine Balance zwischen Perfektion und Imperfektion herzustellen.
In anderen Arbeiten wiederum setzt er Wachs zum Versiegeln oder Stabilisieren anderer Materialien ein. So zum Beispiel in der 2016 entstandenen Arbeit „Return to sender“. Auf einem Stahlsockel stehen zahlreiche Hefte aus sogenanntem „Joss Paper“ oder „Höllengeld“, also einer Art Schicksalspapier, das in der ostasiatischen Kultur als Brandopfer dargebracht wird, um mit den Ahnen in Kontakt zu treten oder deren Gunst zu erlangen. Es kann daher als vermittelndes Material zwischen den Lebenden und den Verstorbenen betrachtet werden. Nick Theobald, der mit verschiedenen Weltreligionen, insbesondere Shintoismus und Buddhismus eng vertraut ist, setzt diesem an sich kurzlebigen rituellen Material allerdings eine Art Denkmal, indem er die einzelnen Hefte in Wachs eintaucht, sie zu einem aufrecht stehenden Block formt, diesen mit Seilen kunstvoll verknotet und die Enden des Knotens noch zusätzlich mit einer Art goldenen Plombe versiegelt.
An dieser Arbeit wird vielleicht besonders deutlich, was ihn an Wachs interessiert. Es ist insbesondere auch die konservierende, quasi in die Ewigkeit weisende Eigenschaft eines Materials, das in der Natur immer schon vorhanden war – lange bevor es sich Menschen zu eigen machten. Wachs war, wie Nick Theobald berichtet, auch das Material, mit dem die alten Ägypter ihre Pharaonen einbalsamiert haben. Auch als Grabbeigaben benutzte Figurinen wurden aus Wachs hergestellt. Wobei wir wiederum bei Emil Westman Hertz’ wächserner Figurine mit der Trichteröffnung wären.
Nick Theobald hat New York City angesichts der Pandemie und astronomisch hoher Ateliermieten verlassen und ist, wie so viele andere Künstler:innen auch, aufs Land gezogen. Er hat damit auch der New Yorker Kunst- und Modeszne, deren etabliertes Mitglied er war, den Rücken gekehrt. In der Kleinstadt Palmyra ganz im Norden des Bundesstaates New York hat er das Gebäude einer ehemaligen katholischen Schule gekauft, in dem er jetzt mit seinen vier Hunden lebt und arbeitet. Palmyra gilt als Geburtsstätte der allgemein als Sekte eingestuften Mormonen-Bewegung. Die Mehrheit der Einwohner:innen ist konservativ, antiliberal und nationalistisch eingestellt. Eigentlich kein ideales Umfeld für einen freigeistigen, viel in der Welt herumgekommenen Künstler. Was Nick Theobald jedoch daran schätzt, sind die Ruhe, die Nähe zur Natur, der Platz und die überschaubaren Kosten.
Mit den politisch-gesellschaftlichen Ansichten seiner neuen Nachbarn setzt er sich zudem in einer Fotoserie auseinander, die jetzt auch in Horsens gezeigt wird. Mit einer einfachen Analogkamera fotografiert er Kurioses aus seiner Nachbarschaft in ungekünstelter Schnappschuss-Ästhetik. So etwa einen in den Nationalfarben lackierten Metallkasten mit der Aufschrift „Retired U.S. Flag Drop Box“, in welchem Bürger des Ortes ihre ausgeblichenen oder zerschlissenen US-Flaggen deponieren können. Diese werden dann feierlich verbrannt. Auf anderen Bildern sind Autoaufkleber mit rechtslastigen Botschaften zu sehen. „Socialism sucks“ etwa steht da auf einem Toyota-Kotflügel oder „DYING“ auf einem Autokennzeichen. Es handelt sich um einfache, kleinformatige Abzüge in Drogeriemarktqualität. Alle diese Aufnahmen sind mit dem genauen Entstehungsdatum versehen. Insofern bietet diese neue Werkgruppe einen bemerkenswerten Kontrast zu der Zeitlosigkeit seiner malerischen und skulpturalen Arbeiten.
Ein durchgängiges Motiv in Nick Theobalds Werk ist, wie wir bereits gesehen haben, das Seil. So auch in der Arbeit „Last Light“, die der ganzen Ausstellung ihren Titel gibt. Die von der Decke herabhängende Skulptur beruht auf einem Gebilde aus mehrfach ineinander verknoteten Seilen, die mit Wachs überzogen und anschließend in Bronze ausgegossen wurden. Keine leicht konsumierbare Arbeit, wie Nick Theobald zugibt. „Das Werk ruft seltsame Emotionen hervor, und ich begrüße alle Arten, wie es gelesen werden kann… Wenn Sie suizidgefährdet sind, mag es für Sie verlockend aussehen, wie es für mich der Fall war, für andere ist es eine spielerische Geste.“
Ob er eine Arbeit wie diese angesichts des derzeitigen politischen Klimas in den USA zeigen könnte, bezweifelt er. Womöglich würde sie sehr einseitig als rassistisches Symbol missverstanden werden, was jedoch der Offenheit dieser Arbeit zuwider läuft.
In Horsens ist mit den „Canvas Sculptures“ auch eine ganze Reihe neuer Arbeiten entstanden, die aus Moniereisen, wie sie im Stahlbetonbau verwendet werden, und große,n in Wachs getränkten Leinwänden zusammengesetzt sind. So zum Beispiel die Arbeit „Allegiance“ (2023). Sie rekurriert auf die an allen öffentlichen und vielen privaten Gebäuden angebrachten US-Flaggen und das damit verbundene, stark ritualisierte und heute in progressiven Kreisen kontrovers diskutierte Treuegelöbnis mit dem Gottesbekenntnis am Ende. Nick Theobalds zusammengerollte, ganz monochrom gehaltene und durch Wachs stabilisierte Flagge ist vollkommen entleert von jeglicher Symbolik. Andere Arbeiten aus dieser Serie erinnern wiederum an Geschütze oder aber Krankentragen und Leichenbahren.
Nick Theobald betrachtet sich eigentlich nicht als politischen Künstler. Er betont dagegen die Emotionalität seiner Arbeiten. Angesichts der Pandemie, diverser Amokläufe, des Rassismus, der Waffenbegeisterung und des Nationalismus in seiner Heimat, der Black Lives Matter-Bewegung, des Ukraine-Krieges und anderer politisch-gesellschaftlicher Krisen und Verwerfungen verschließt er vor diesen Einflüssen aber gerade in seinen neueren Arbeiten auch nicht die Augen.
Um Nick Theobalds Werkästhetik zu verstehen, ist aber auch ein Blick auf seine Biografie hilfreich. Aufgewachsen ist der US-Amerikaner nämlich in verschiedenen Ländern Südostasiens, wo sein Vater als Vertreter amerikanischer Hafenlogistikunternehmen tätig war. Er ist daher schon früh auch mit ostasiatischer Kunst, etwa Tuschezeichnungen und ZEN-Malerei in Kontakt gekommen. Ein Einfluss, den man auf Arbeiten wie „Fallen Star“, „Ghost money“ oder „Annunciation“ (alle von 2022) klar erkennen kann. Sie alle sind mit Holzkohle auf roher Leinwand ausgeführt. Anschließend wird die Leinwand mit Wachs getränkt, so dass zuvor statische Linien unkontrolliert ineinanderlaufen und sich aus dem Ausgangsmotiv verunklärende Grauzonen und Verwischungseffekte ergeben. „Eine Art Erinnerung von dem, was da vorher war“, wie es Nick Theobald beschreibt.
Zu dieser Serie gehört auch die Arbeit „Shelter“ (2022). Sie zeigt ein spitz aufragendes, Zuflucht und Schutz in Aussicht stellendes Gebäude mit einer großen Tür und wird in der Ausstellung unmittelbar neben der Installation „Tent“ von Emil Westman Hertz gezeigt. Abgesehen von dieser direkten Gegenüberstellung verzichtet das kuratorische Konzept von Julie Horne Møller aber auf die Herstellung allzu offensichtlicher Nachbarschaften. Auch wenn es im Hinblick auf die extreme Subjektivität, die Verarbeitung von Grenzerfahrungen, das Verhältnis zu mythischen Meta-Erzählungen, Spiritualität und die Verwendung spezifischer Materialien viele Übereinstimmungen zwischen den beiden Künstlern gibt, so betont die Ausstellung doch die Eigenständigkeit der zwei Positionen. Ein Ansatz, der auch ganz im Sinne von Nick Theobald ist: „Ich wusste, dass ich meine Arbeiten nicht als Reaktion auf seine Werke kreieren, sondern mich nur von unseren Gemeinsamkeiten inspirieren lassen wollte. Mir ist es wichtig, dass das jeweilige Werk seine eigene Kraft hat und in seiner Geschlossenheit für sich existiert.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Last Light – Nick Theobald & Emil Westman Hertz. An artistic dialogue across materials, time and space
Ort: Horsens Kunstmuseum
Zeit: bis 13. August 2023
Bis 30. Juni: Di-So 11-16 Uhr, Mo geschlossen, ab 1. Juli täglich 10-16 Uhr
Katalog: in Planung
Internet: www.horsenskunstmuseum.dk