Glamour als Werkzeug der Kapitalismuskritik? Die New Yorker Künstlerin Sarah Morris dringt mit ihren Gemälden und Filmen in die Machtzentren des Kapitalismus vor. Doch gelingt ihr der Spagat zwischen Kritik und eigener Verstrickung? Jetzt zu sehen in den Hamburger Deichtorhallen
„Die Kakophonie des Urbanen hat sie von Anfang an interessiert“, sagt Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen in Hamburg und Kurator der Ausstellung „All Systems Fail“ mit über 180 Werken von Sarah Morris. New York, London, Paris, Beijing, Las Vegas, Los Angeles, Rio de Janeiro, Abu Dhabi – die britisch-amerikanische Künstlerin Sarah Morris, Jahrgang 1967, seziert in ihrem Werk die architektonischen Strukturen von Konzernzentralen und politischen Machtapparaten. Ebenso interessiert sie sich für die ikonischen Bilder von den Megacities dieser Welt, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben.
Geboren in der englischen Grafschaft Kent und aufgewachsen im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island, studierte sie ab 1985 Semiotik und politische Philosophie an der Brown University in Providence und siedelte schon bald nach New York City über. Als bildende Künstlerin ist sie Autodidaktin. Von 1999 bis 2000 war sie Gast der American Academy in Berlin und arbeitete im Künstlerhaus Bethanien. Sie lebt vorwiegend in Manhattan und betreibt dort ihr nach einem Filmtitel der 1970er Jahre benanntes Studio „Parallax“. Es entstehen Gemälde und Filme, die jetzt auch das Herzstück ihrer Hamburger Mid-Career-Retrospektive bilden.
Die sehenswerte Schau in einer von studioMDA New York perfekt auf das Werk von Sarah Morris abgestimmten Ausstellungsarchitektur setzt ein mit Gemälden und Zeichnungen aus dem Frühwerk. Schon hier interessiert sich Morris dafür, wie die US-Öffentlichkeit funktioniert. Der Schriftzug „Liar“ verweist auf die Clinton-Lewinsky-Affäre und die Zahl „666“ nicht etwa auf Teufelsverschwörungen sondern auf eine einst angesagte Bar in Uptown Manhattan.
Schnell entwickelt Sarah Morris, die einige Jahre als Assistentin von Jeff Koons gearbeitet hat, in ihrer Malerei so etwas wie einen Signature Style. Gewagte Gitterstrukturen, repetitive Raster, Reflexionen des Himmels und schräge Perspektiven rekurrieren auf Wolkenkratzer aus der Nachbarschaft ihres ersten Studios in Midtown. Die präzise durchkomponierten Bilder in verführerischer Farbigkeit entstehen mit relativ simplen Mitteln: hochglänzendem Haushaltslack und Klebeband, das dann wieder entfernt wird. Strenges Kalkül statt individueller Pinselstrich.
Doch es geht Morris nicht um Eins-zu-Eins-Abbildungen, sondern darum, kleine Reibungen und Diskrepanzen zur Realität der zuvor selbst fotografierten Vorlagen herzustellen. Stets sind nur Ausschnitte der Gebäude zu sehen. Aus strengen Fassadenrastern werden auf ihren Bildern gestauchte und ineinander verschobene Parallelogramme und komplexe Linienmuster, die teils auch Einblicke ins Innere der Gebäude suggerieren. Vergleiche mit der Ästhetik des Neuen Sehens im Deutschland der 1920er Jahre und zum russischen Konstruktivismus eines Alexander Rodtschenko mit seinen extremen Perspektiven, Auf- und Untersichten drängen sich auf, auch wenn die markante Farbigkeit eher an Traditionen der von Männern dominierten amerikanischen Pop und Minimal Art erinnert. Andere Bilder transformieren die Landschaftsarchitektur des Brasilianers Roberto Burle-Marx, eine Tonspur des von Morris verehrten deutschen Filmemachers Alexander Kluge oder japanische Faltanleitungen im Origami-Stil in komplexe Farbsysteme mit hohem Wiedererkennungswert.
In die Ausstellung integrierte Vitrinen mit Skizzen, Briefwechseln und Fotografien geben Back-Stage-Einblicke in die Entstehung ihres filmischen Werks. Sie illustrieren aber auch die bewundernswerte Hartnäckigkeit, mit der diese Powerfrau des internationalen Kunstbetriebs ihre weltweiten Filmprojekte gegen institutionelle Widerstände und behördliche Restriktionen durchgesetzt hat.
In zwei großen Black Boxes werden 15 ebenso abwechslungsreiche wie dynamisch geschnittene Filme gezeigt, in deren Mittelpunkt jeweils die DNA einer Großstadt steht. Morris arbeitet immer mit ihrem ehemaligen Partner, dem Künstler Liam Gillick zusammen, der die Soundtracks in Form minimalistischer Electro-Loops beisteuert. Alle Filme funktionieren als „Flow“ ohne Anfang und Ende: Man sieht Szenen aus einer Saftbar in Rio, dann wieder nächtliche Autofahrten in Asien oder Jockeys auf Rennpferden. Aber auch die Produktion von Parfüm und Champagner des Luxuskonzerns LVMH, der im Besitz von Bernard Arnault, einem der reichsten Männer Frankreichs und der Welt, ist. Für dessen neues Museum im Pariser Bois de Boulogne produzierte Morris 2014 den Film „Strange Magic“, eine Auftragsarbeit, die aufgrund der prominenten Platzierung diverser Luxusprodukte die Grenzen zwischen Kunst und Promotion komplett verwischt.
Sündenfall oder Über-Affirmation als subtile Strategie? Dass sie mit ihren kapitalismuskritischen Projekten aus dem „Bauch der Bestie“ heraus operiert, hat Morris immer wieder betont. Inwiefern sie Teil dessen ist, was sie kritisiert und bloßstellt, liegt trotzdem im Auge der Betrachter:innen. Dass sie die Klaviatur der Aufmerksamkeitserregung schon vor Beginn ihrer künstlerischen Karriere analysiert und durchschaut hat, hat sie mit dem 1989 kurz vor ihrem Examen von ihr selbst herausgegebenen, einem künstlerischen Manifest gleichkommenden Magazin „Defunct!“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Es enthielt Gastbeiträge unter anderem von Susan Sontag, Jean Baudrillard und Jeff Koons.
Die Macht des Kapitals, Kontrolle und Kontrollverlust, die Power-Gesten von Architektur – Themen dieser Art durchziehen das Werk von Sarah Morris, mit dem sie im Ausstellungsbetrieb und auf dem Kunstmarkt längst zum Superstar geworden ist. Doch auch an ihr ist die Corona-Pandemie nicht spurlos vorbeigegangen. „All Systems Fail“ – der Titel der Schau legt es nahe: Was passiert, wenn in unserer penibel durchorganisierten Welt plötzlich die Systeme versagen und die eingespielten Lebensroutinen nicht mehr wie gewohnt funktionieren – das Ende des Anthropozän tatsächlich näherrückt?
Sarah Morris reagiert darauf mit Bildern, auf denen sie sich erstmals nicht mehr mit menschengemachten Strukturen auseinandersetzt. Ihre von Spinnennetzen inspirierten „Spider Net Paintings“ etwa zeigen irreguläre natürliche Gefüge, denen offenbar ganz andere Denkmuster zugrundeliegen als der gleichgeschalteten Welt der kapitalistischen Konzern- und Machtzentralen. Netzwerke sind angesagt. Das Raster als Metapher unserer Gegenwart scheint allmählich ausgedient zu haben.
Auf einen Blick:
Sarah Morris: All Systems Fail
Ort: Deichtorhallen Hamburg, Halle für aktuelle Kunst
Zeit: bis 20.August 2023, Di-So 11-18 Uhr, jeden 1. Do im Monat 11-21 Uhr, Mo geschlossen
Katalog: Hatje Cantz Verlag, 320 S., 508 Abb., deutsch/englisch, 48 Euro (Buchhandel), 42 Euro (Museum)
Internet: www.deichtorhallen.de
Weitere Stationen: Kunstmuseen Krefeld, Zentrum Paul Klee, Bern und Kunstmuseum Stuttgart
1 Comment
„Das Rätsel des Autodidakten“
….interessant informativ, sind am ende die autodidakten die stärkeren künstler ?
CHARDIN, CEZANNE, VAN GOGH, BACON, RYMAN, BASQUIAT, STINGEL…..
bei den Künstlerin:
VALODON, TANNING, SAINT-PHALE, MORRIS….