Die Berliner Künstlerin Nevin Aladağ konterkariert die Baden-Badener Kurroutine mit diversen Interventionen und einer interaktiven Klangskulptur
Der Baden-Badener Kurgarten verkörpert sozusagen die Quintessenz deutscher Bäderkultur. Mit seinen perfekt gepflegten Grünanlagen, dem Kurhaus und dem Spiel-Casino mit ihren klassizistischen Fassaden, einer strahlend weißen Konzertmuschel und den 1867/1868 nach Pariser Vorbildern entworfenen, baumbestandenen Kurhaus Kolonnaden mit ihren exklusiven Juwelier-, Schuh-, Mode- und Feinkostgeschäften strahlt er eine zeitlose Eleganz aus, die Gäste aus aller Welt in die Bäderstadt am Rande des Schwarzwalds lockt.
Doch „When too perfect lieber Gott böse“. So formulierte es einst der aus Korea stammende amerikanische Videokunst-Pionier und Fluxus-Künstler Nam June Paik. Daher ist es sicherlich keine schlechte Idee, die in sich selbst ruhende Historie und Heile-Welt-Idylle der Kurstadt von Zeit zu Zeit mit einer wohlproportionierten Dosis Zeitgenossenschaft etwas aufzumischen.
Die in diesem Sommer zum dritten Male im Kurgarten stattfindende Kunstaktion „kunst findet stadt“ hat sich genau das zum Ziel gesetzt. Temporäre künstlerische Interventionen schaffen Irritationsmomente, laden zur Interaktion ein und lassen den Kurgarten zumindest zeitweise in einem anderen Licht erscheinen. Nachdem in den beiden Vorjahren der dänische Installationskünstler Jeppe Hein und die italienische Künstlerin und Aktivistin Marinella Senatore das Terrain künstlerisch markiert haben, ist jetzt mit der in Berlin lebenden Bildhauerin, Installations- und Performancekünstlerin Nevin Aladağ eine international erfolgreiche Künstlerin zu Gast, zu deren Markenzeichen der ebenso tiefgründige wie aber auch spielerische und mitunter humorvolle Umgang mit kulturellen Mehrdeutigkeiten, Kulturtransfers und durch Zeit und Raum mäandrierenden kulturellen Codes gehört.
„Public Resonator“, der Titel ihrer aus mehreren Teilen bestehenden Intervention, gibt bereits die Stoßrichtung des Projekts vor. Angesprochen ist durch diese bei freiem Eintritt rund um die Uhr zugängliche Abfolge von Arbeiten nicht etwa nur ein kleiner Kreis von Kunstexpert:innen und Connaisseur:innen sondern ein möglichst breites Publikum aus Einheimischen und Tourist:innen. „Resonanz (von lateinisch resonare „widerhallen“)“, so ist bei Wikipedia zu lesen, „ist in Physik und Technik das verstärkte Mitschwingen eines schwingfähigen Systems, wenn es einer zeitlich veränderlichen Einwirkung unterliegt.“
Betrachtet man die Öffentlichkeit in diesem Sinne als „schwingfähiges System“, das zum „verstärkten Mitschwingen“ angeregt werden soll, so gelingt Nevin Aladağ insbesondere mit der titelgebenden zentralen Arbeit auf der Rasenfläche vor dem Kurhaus genau dies.
Die auf einem bühnenartigen Podest installierte Klangskulptur „Public Resonator“ ähnelt auf den ersten Blick einem rätselhaften unbekannten Flugobjekt, das auf dieser Wiese gelandet zu sein scheint. Doch dieses metallene Konstrukt mit zwei Metern Durchmesser entpuppt sich bei näherem Hinsehen und vor allem mittels Benutzung als vielseitiges Klangwunder. Auf den kugelförmigen, silbrig-glänzenden metallischen Hohlkörper, der als Resonanzraum dient, sind vom Formenrepertoire der Klassischen Moderne inspirierte dreieckige, viereckige, sechseckige und runde, trommelartige Formen montiert. Ebenso flötenartige Metallröhren unterschiedlicher Dicke und Länge sowie unterhalb des Sockels nochmals eine Art Vorhang aus an ein Glocken- oder Windspiel erinnernden weiteren Röhren aus Messing.
Am Eröffnungstag wurde die Skulptur von dem vierköpfigen Avantgarde-Ensemble Maha Pudma in freier Improvisation aktiviert, wobei den Musiker:innen ganz unterschiedliche, teils sehr unorthodoxe Schlaginstrumente zur Verfügung standen, darunter Trommelschlägel und -klöppel, Fleischspieße, Schrauben, Spülbürsten und Essstäbchen. Weitere Musikperformances finden am 29. Juli sowie dem 12. und 19. August statt.
Abgesehen davon steht die Arbeit aber allen zur Verfügung, die sie zum Klingen bringen wollen. Und von diesem Angebot wird sowohl von Kindern als auch Erwachsenen rege Gebrauch gemacht. Ob allein, mit Angehörigen oder Freunden oder gar im Zusammenspiel mit gänzlich fremden Personen, sind alle Vorbeikommenden eingeladen, mit der Skulptur zu interagieren und ihr Töne zu entlocken. Ob dabei etwas Harmonisches, Disharmonisches oder vollkommen Kakophonisches herauskommt, ist nicht zuletzt dem Zufall überlassen.
Bei der jetzt in Baden-Baden präsentierten Arbeit handelt es sich um Nevin Aladağs erste Klangskulptur im öffentlichen Raum. Der Arbeit vorausgegangen sind jedoch zahlreiche andere Werke, in welchen die Künstlerin, teils in Kooperation mit professionellen Instrumentenbauern, Möbelstücke wie Tische und Stühle zu benutzbaren Soundkörpern transformiert und beispielsweise in ihrer Einzelausstellung „The Sound of Spaces“ 2021/2022 in der Münchner Villa Stuck präsentiert hat.
Daneben hat Nevin Aladağ aber noch weitere Werke für den Kurgarten geschaffen. So hat sie in den Bäumen der Kurhaus Kolonnaden und in der offenen Säulenhalle des Kurhauses bunte, elektrisch beleuchtete Lampions mit einem Durchmesser von einem Meter aufgehängt, die an eine Mischung aus Raumschiffen und Montgolfieren erinnern. Ebenso extravagant wie frappant ist allerdings das Material dieser Leuchtkörper. Nevin Aladağ verwendet für diese Arbeiten mit dem Titel „Color Floating“ Nylonstrumpfhosen in verschiedenen Farben und Strukturen, die sie auf Metallgestellen zu vielgestaltigen Kurvenmustern verbindet.
Ob hell oder dunkel, grell oder dezent farbig, transparent oder blickdicht, fein- oder grobmaschig oder in verführerischer Netzoptik: Nevin Aladağ adressiert mit der unkonventionellen Nutzung dieser Frauen-, aber gelegentlich auch Männerbeine verhüllenden zweiten Haut ein buntes Spektrum von gesellschaftlichen und sexuellen Identitäten und Rollenmustern – und das auf einer Promenade, die von Menschen in ganz unterschiedlichen Ausprägungen der Ver- und Enthüllung bevölkert wird. Von westlich gestylten Casinobesucherinnen im Minirock ebenso wie von nahezu komplett verschleierten weiblichen Angehörigen von Großfamilien aus der arabischen Welt, die seit langem zu den Stammgästen Baden-Badens gehören.
Ebenfalls in den Kolonnaden und am Kurhaus-Gebäude, welches auch das berühmte Baden-Badener Casino beherbergt, ist die Arbeit „Läufer“ zu sehen. Nevin Aladağ hat an beiden Orten einen schmalen, industriell hergestellten Teppichläufer mit einem pseudo-orientalischen Allerweltsmuster in Beige- und Brauntönen installiert. Nicht etwa einen Roten Teppich, wie er zu Baden-Baden passen würde, sondern einen preiswerten Bodenbelag von der Endlosrolle, wie er unter anderem in Hotelfluren, Treppenhäusern oder Privatwohnungen zum Einsatz kommt – mithin ein Readymade, das eine bestimmte Form der fragwürdigen kulturellen Aneignung offenlegt. Dennoch weckt die Arbeit auch Assoziationen zu einem Catwalk, markiert und persifliert sie doch augenzwinkernd die bevorzugten Wege, die von reichen und schönen Baden-Baden-Besucher:innen frequentiert werden.
Eine letzte Arbeit, die ebenfalls auf dem Rasen vor dem Kurhaus installiert ist, liefert ein gutes Anschauungsbeispiel für die grundsätzliche Vorgehensweise der an der Überlagerung und Verschmelzung von Formen, Motiven, Mustern, Ornamenten, Dekoren und Patterns unterschiedlichster Provenienz stark interessierten Künstlerin. In einem 2019 geführten Interview mit der Zeitschrift Kunstforum beschrieb Nevin Aladağ ihre künstlerische Strategie so: „Meine Arbeiten erzählen von wechselseitigen Einflüssen und betonen Gemeinsamkeiten mehr, als dass sie Unterschiede aufzeigen… Wichtig ist zudem, etwas zusammenzubringen, das angeblich nicht zusammenpasst, weil es aus unterschiedlichen historischen, religiösen oder politischen Zusammenhängen kommt.“
Diese Aussage bezog sich zwar auf die „Social Fabrics“, also für ihr Werk sehr typische Arbeiten, in welchen sie Fragmente von Teppichen unterschiedlicher Herkunft zu neuen, hybriden Gebilden verknüpft. Sie trifft aber ebenso auf die Arbeit „Cloud“ (2023) aus der Werkgruppe „Pattern Kinships“ zu, die jetzt den Abschluss des Parcours in Baden-Baden bildet. Die zwei Meter hohe und nahezu zweieinhalb Meter breite Arbeit aus nur einem Zentimeter dickem Corten-Stahl wurde im Wasserstrahlschnitt hergestellt. Das wolkenartige, frei auf der Grasfläche stehende Gebilde collagiert fast 40 verschiedene, ursprünglich von der Natur inspirierte Patterns aus den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten zu einem hybriden Allover. Als Quellenmaterial für Arbeiten dieser Art dient Nevin Aladağ ein im Verlauf vieler Jahre zusammengestelltes Musterarchiv, in welchem sie beispielsweise Patterns, die sie auf Fassaden, Toren und Gittern findet, sammelt.
Nevin Aladağ wurde 1972 im türkischen Van geboren. Ihre Familie hat kurdische und iranische Wurzeln. Sie kam bereits im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach Deutschland. In Stuttgart aufgewachsen und sozialisiert, studierte sie von 1993 bis 2000 unter anderem bei Olaf Metzel an der Akademie der Bildenden Künste in München. Ihr Werk ist national und international häufig ausgestellt worden, so zum Beispiel auch auf der documenta 14 in Kassel und Athen sowie auf der 57. Biennale Venedig. Für das Projekt „kunst findet stadt“ wurde sie von Nora Waggershauser, der Initiatorin des Projekts, und den Beiratsmitgliedern Florian Matzner, Professor für Kunstgeschichte an der Münchner Kunstakademie, Thomas Köhler, dem Direktor der Berlinischen Galerie, und dem freien Kurator Johann von Haehling ausgewählt.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Nevin Aladağ – Public Resonator im Rahmen von „kunst findet stadt“ im Kurgarten Baden-Baden
Ort: Kurgarten Baden-Baden
Zeit: bis 3. September 2023. Jederzeit zugänglich
Internet: www.badenbadenevents.de
www.nevinaladag.com
www.wentrupgallery.com
Rahmenprogramm mit Live-Musik und Kuratorenführungen. Informationen unter www.badenbadenevents.de