Fischen in der Ursuppe der Sklaverei: Die britische Künstlerin Dominique White stellt in der Kunsthalle Münster ihre prozesshaften Konfigurationen aus
Geschredderte Schiffssegel, die zu bizarren neuen Gebilden zusammenfügt werden. Verbogene Harpunenspeere, deren Pfeilspitzen sich gegen sie selbst richten, zerschlissene Taue und Seile, zerstörte Rettungsringe, rostige Eisenketten, angekohltes Mahagoniholz und weitere Trümmerteile von Booten oder Schiffen. Die 1993 geborene britische Bildhauerin, Installationskünstlerin und Performerin Dominique White verwendet in ihren häufig raumgreifenden Installationen alle möglichen Überbleibsel und Reste der Schifffahrt und der Fischerei.
So auch in ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland, die jetzt in der Kunsthalle Münster zu sehen ist. Unter dem Titel „Dominique White: When Disaster Strikes“ präsentiert das städtische Ausstellungshaus im alten Stadthafen jetzt sechs skulptural-installative Settings der Absolventin der renommierten Londoner Kunstakademien Goldsmiths, University of London und Central Saint Martins College of Art and Design. Alle Arbeiten wurden exklusiv für die Münsteraner Ausstellung vor Ort neu produziert. Titel wie „The domination of Nothing“, „The dethroning of the Human“ oder „A refusal to be dominated“ eröffnen ein ambivalentes Feld zwischen Aussichtslosigkeit, Nihilismus, dem Eigenleben der Dinge, aber auch der Entschlossenheit, Widerstand zu leisten. „When Disaster Strikes“ wiederum, den Titel der Gesamtschau, hat die Künstlerin dem 1997 erschienenen zweiten Solo-Album des US-Rappers Busta Rhymes entliehen.
Dominique White, die in Essex und Marseille lebt, ist eine Angehörige der schwarzen Diaspora. Ihre Vorfahren sind aus der Karibik nach Großbritannien eingewandert. In ihren vielschichtigen und materialreichen Arbeiten ist sie beständig auf der Suche nach einer neuen Bildsprache für „Blackness“ und die historischen Traumata der schwarzen Community. Ausgehend von der von Unterdrückung, Gewalt, Versklavung und Kolonisierung geprägten Geschichte farbiger Menschen, entwickelt sie bildgewaltige Narrative voller Anspielungen auf die Welt ihrer Vorfahren, karibische Spiritualität und Legenden, aber auch Akte des Widerstands und der Selbstbehauptung in einer bis heute von Weißen dominierten Welt.
Dominique White, die die einzelnen Elemente ihrer Arbeiten neuerdings mit einem Überzug aus Kaolin – pulverisierter weißer Tonerde – zu einem einheitlichen Ganzen verdichtet, findet zeitlose Bilder für politische Konstellationen und Ereignisse, die sie als zyklisch betrachtet: „Was der Generation meiner Eltern passiert ist, ist auch der Generation meiner Großeltern und meiner Urgroßeltern passiert, und es wird auch der Generation wieder passieren, die nach mir kommt.“ Aus Äußerungen wie dieser wird klar, dass Dominique White sich keinerlei Illusionen hingibt, wonach sich die Situation schwarzer Menschen in der Diaspora rasch zum Positiven wenden könnte.
Die Unterdrückung der Schwarzen betrachtet sie nicht als abgeschlossene historische Periode, sondern als eine bittere Realität, die bis heute fortdauert. Weder das Civil Rights Movement noch die Black Lives Matter-Bewegung konnten bisher wesentliche Verbesserungen für die Emanzipation schwarzer Menschen herbeiführen. Insofern zeigt sich White als Anhängerin einer vom Glauben an die Ausweglosigkeit der schwarzen Existenz geprägten Denkschule, für die der amerikanische Afroamerikanist Frank B. Wilderson III in seinem gleichnamigen Standardwerk die griffige Formel des „Afropessimismus“ geprägt hat. Wilderson geht darin davon aus, dass die unvollständig aufgearbeitete Geschichte der Sklaverei bis heute maßgeblich für die Wahrnehmung und Unterdrückung schwarzer Menschen verantwortlich ist.
Aus Dominique Whites Arbeiten spricht zwar einerseits eine resignative Grundhaltung. Die wenig hoffnungsvolle Perspektive konterkariert die Künstlerin jedoch, indem sie afrofuturistische Narrative als wichtige Inspirationsquellen heranzieht. Das 1992 erschienene Album „Deep Sea Dweller“ des aus Detroit stammenden Techno-Duos „Drexciya“ bildet eine wichtige Referenz für ihr Werk. Darin wird eine utopische Unterwasserzivilisation imaginiert, die von den Kindern schwangerer Sklavinnen gegründet wurde, welche auf der Atlantikpassage ertrunken sind.
Im Zentrum der Kritik Whites steht auch das Phänomen der Hydrarchie. Darunter versteht man imperiale Machtmechanismen der Seemächte, die durch die Beherrschung der Weltmeere den Anspruch auf ferne Länder zementieren. Getreu etwa dem aus dem 18. Jahrhundert stammenden britischen Lied: „Rule Britannia! Britannia Rule the Waves“, in dem der imperialistische Anspruch zum Ausdruck gebracht wird, dass ausgerechnet die damals den Weltmarkt des Sklavenhandels dominierenden Briten selbst niemals zur Sklaverei verdammt sein sollten. „Britons never will be slaves“, heißt es da ebenso arrogant wie anmaßend.
In Münster gelingt es der Künstlerin, diese unterschiedlichen Einflüsse in eindrucksvollen Arbeiten visuell zu verdichten. Im Zentrum steht dabei immer das verwendete Material, mit dem Domique White sich in einem beständigen und prozessualen Dialog und Austauschprozess befindet. Seit Oktober war sie in Münster mit der Herstellung der Arbeiten und dem Aufbau der Schau beschäftigt, hat tagelang Netze geknüpft, die Oberflächen von Holz angesengt oder rostiges Eisen in Form gebogen. Entstanden sind überwiegend raumgreifende Konstellationen. Daneben aber auch stark reduzierte Arbeiten wie „The anthrophagus“, ein schlangenförmiges, aus Eisen und geflämmtem Mahagoni bestehendes Gebilde mit einem Widerhaken als Kopf, das sich ebenso gewandt wie bedrohlich an einer der hellgrau lackierten Stahlsäulen in dem ehemaligen Speichergebäude emporwindet.
Die größte Installation „The domination of Nothing“ entfaltet sich auf einer Fläche von 540 x 270 cm gleich im ersten Raum der Schau. Sie besteht aus den von der Künstlerin bevorzugten Materialien: rostiges und geschmiedetes Eisen, Sisal, zerstörte Segel, gebranntes Mahagoni und hochflüchtige Holzkohle. Zu sehen sind drei an Überbleibsel einer Brandkatastrophe erinnernde, haufenartige Zusammenballungen von Seil- und Segelresten, die von einem amorphen Gebilde aus andeutungsweise kreisförmigen Eisenstangen gleichsam gerahmt werden. Einzelne in sich gebogene und an der Oberfläche verkohlte Mahagonistränge ragen wie Kundschafter in das Ensemble hinein. Der Boden ist nahezu ganzflächig mit pulverartiger Holzkohle bedeckt, die an den Außenrändern der Installation nur noch als feiner Staubüberzug wahrnehmbar ist. Dieser wird sich mit der Zeit wahrscheinlich immer weiter im Ausstellungsraum verteilen. Eine bildhauerische Entscheidung, die das Solide mit dem Flüchtigen, die Form mit der Formlosigkeit kontrastiert und gleichzeitig das subtil Unheimliche und Katastrophische der Installation weiter akzentuiert.
Die fünf Konfigurationen im großen Ausstellungsraum der Kunsthalle Münster bedienen sich einer ähnlichen Materialität, wobei hier Kaolin als heller Überzug eine besondere Rolle spielt. Ein wiederholt auftauchendes Element der Arbeiten Dominique Whites sind Harpunen, insbesondere deren mit Widerhaken versehene Spitzen, aber auch Unterwasser-Fangkörbe, wie sie etwa im 19. Jahrhundert von chinesischen Krabben- oder Hummerfischern benutzt wurden. Um eine direkte Wiedererkennbarkeit geht es ihr dabei aber nicht. Vielmehr benutzt sie solche Inspirationen eher als visuelle Eintrittspforten für das Publikum, aber auch, um daraus für sich etwas Neues zu entwickeln.
Und noch etwas ist ihr wichtig: das Eigenleben der Materialien und Substanzen, mit denen sie arbeitet. Sozusagen das metamorphotische Potenzial des Nicht-Humanen. „I am a mediator, talking and listening to the material“, sagt sie. Dominique White betonte in Münster auch das transitorische Moment ihrer Kunst: „There is no scheduled lifetime for any of my works“, so die meist nomadisch arbeitende Künstlerin.
In einer Zeit, in der Kunst dazu tendiert, immer sauberer, pflegeleichter, alltagstauglicher und immaterieller zu werden, um im Extremfall nur noch als Abfolge digitaler Codes zu existieren, setzt Dominique White auf das genaue Gegenteil: die Betrachter:innen unmittelbar ansprechende, weitgehend temporäre (und somit schwer verkäufliche) Werke, die der eigenen Biografie und Weltsicht als schwarzer Person karibischer Abstammung ebenso abgerungen sind wie den handfesten Materialien und ihrer Geschichte, an denen sie sich sowohl inhaltlich wie auch physisch mit großem Kraft- und Zeitaufwand abarbeitet.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Dominique White: When Disaster Strikes
Ort: Kunsthalle Münster
Zeit: bis 10. März 2024, Di-So 12-18 Uhr (Eintritt frei)
Internet:www.kunsthallemuenster.de
www.blackdominique.com