Die deutsch-kanadische Künstlerin Antonia Hirsch zeigt in der Kunsthalle Lingen Arbeiten von hoher formaler Eleganz, deren dystopische Botschaften nachdenklich stimmen
Kaltschaum, Plexiglas, pulverbeschichteter Stahl, Polyurethan oder Silikon. Die Materialpalette der interdisziplinär arbeitenden Berliner Künstlerin Antonia Hirsch umfasst eine ganze Reihe technoider, vornehmlich von der Industrie oder in naturwissenschaftlichen Kontexten verwendeter Stoffe. Diese kombiniert die Deutsch-Kanadierin etwa mit lebensgroßen Abgüssen von Rinderzungen. Zum Beispiel in der an einer Wand hängenden Arbeit „Twin“ (2021). Sie besteht aus der naturgetreuen Abformung einer Rinderzunge, die dann in Glas gegossen wurde, das, je nach Lichttemperatur, etwas befremdlich zwischen grün und grau changiert.
Sozusagen der Zwilling dieses Objekts ist das aus Polyurethanschaum geformte Futteral, in dem diese gläserne Zunge jetzt präsentiert wird. Fress- und Sinnesorgan eines Säugetieres, muskulöser Mundteil, der zur Kontaktaufnahme mit Artgenossen, aber auch Menschen dient, essbare Innerei und für manche auch exquisite Delikatesse. Das Motiv der Rinderzunge dürfte so gut wie alle Betrachter:innen auf irgendeine Art und Weise berühren. Und sei es nur, weil sie nicht von ungefähr an eine überdimensionierte Menschenzunge erinnert.
In der Ausstellung „Phenomenal Fracture“ in der Kunsthalle Lingen ist noch ein weiterer Abguss einer Rinderzunge zu sehen, neben knapp zwanzig weiteren Werken der 1968 in Frankfurt am Main geborenen Künstlerin. Die großflächige Halle hätte sicherlich Platz für etliche weitere Arbeiten geboten, doch Antonia Hirsch und die Kunsthallenleiterin Meike Behm, die die Ausstellung kuratiert hat, entschieden sich für diese sparsame, doch damit umso klarer konturierte Art der Präsentation.
Die parcoursartig angelegte Schau mit ausschließlich neueren Arbeiten aus den letzten vier Jahren bespielt dennoch die gesamte Ausstellungshalle mit Skulpturen und Objekten unterschiedlichster Größe sowie zwei großen, aufblasbaren Arbeiten. Und sie lässt den einzelnen Arbeiten genügend Platz, um zur Geltung zu kommen. Die Präsentation nimmt sich dabei zum Ziel, die Betrachter:innen auf eine Reise in die Untiefen ihrer eigenen Wahrnehmungsmechanismen zu schicken.
Was unterscheidet Kunst- und Alltagsobjekte voneinander? Wie stellen sich Momente des Unvertrauten in der Wahrnehmung des scheinbar Vertrauten ein? Wie beeinflussen in der Realwelt gemachte Erfahrungen unsere Wahrnehmung von Kunst? Hirschs Objekte kontrastieren starre, unvergängliche Materialien aus der anorganischen Dingwelt mit weichen, körperlich konnotierten, aber potentiell vom Vergehen bedrohten Stoffen wie Wachs oder Schaumstoff. Zwei in den Parcours eingestreute, flüsternde Apparate sollen dabei auf irritierende Art und Weise die Distanz zwischen den Betrachtenden und den Exponaten überbrücken.
Antonia Hirsch setzt auch immer wieder auf die verwirrende Kraft von Spiegelbildern. „Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert“, schreibt Umberto Eco in seinem 1987 veröffentlichten Aufsatz „Über Spiegel“. Er liefert ein virtuelles Bild, das der Betrachter so wahrnimmt, als wäre es hinter der Spiegeloberfläche. Das jedoch ist naiv, da der Spiegel nur Oberfläche ist und gar kein Innen hat. Wie wir uns durch Spiegel täuschen lassen, demonstriert Antonia Hirsch mit ihrer Arbeit „Mirror Box“ (2023), die auf die Magischen Kisten Bezug nimmt, wie sie von Zauberkünstlern verwendet werden, um ihr Publikum zu täuschen oder zu verblüffen.
Gleich zu Beginn des Rundgangs hat Antonia Hirsch zwei atelierfrische Arbeiten aus dem Jahr 2024 leicht versetzt nebeneinander auf den Hallenboden gestellt. „Coin Op (World Trade Part One)“ und „Ballot Box (World Trade Part Two)“ lauten die Titel dieser auf den ersten Blick fast identischen, jedoch in einem kleinen Detail unterschiedlichen, quaderförmigen und hoch aufragenden Körper, deren Oberflächen aus spiegelndem Edelstahl bestehen. Der eine verfügt über eine Art Münzeinwurf als kleine Öffnung, der andere über einen Briefschlitz. Wir haben es also anscheinend mit den Grundformen eines Warenautomaten und einer Wahlurne zu tun. Dass wir, noch ehe wir die Titel dieser Arbeiten gelesen haben, unweigerlich an das zerstörte World Trade Center in New York denken, entlarvt uns in erster Linie als historisch denkende Wesen.
Ein ähnlicher Grad von verführerischer Sleekness zeichnet auch eine Reihe anderer skulpturaler Setzungen im Ausstellungsraum aus. So die Arbeiten „Blade I“ und „Blade II“, beide aus dem Jahr 2023. Auch hier gelingt es Antonia Hirsch, durch die Kombination von einfachen Formen, industriell hergestellten Materialien und deren perfekter Verarbeitung eine ambivalente Atmosphäre zwischen Anziehung und Abstoßung zu erzeugen. Was wir sehen, strahlt durch seine hochwertige Machart eine hohe Eleganz aus. Die Objekte erinnern an Werke der Minimal Art oder an begehrte Designklassiker. Gleichzeitig enthalten sie aber ein bildnerisches Vokabular, dass an bestimmte Elemente erinnert, die bei der Konstruktion von Guillotinen verwendet wurden: Kreisrunde Öffnungen für das Einspannen von Kopf und Händen des Delinquenten etwa oder hauchdünne, verspiegelte Metallplatten, die an die Unerbittlichkeit eines herabsausenden Fallbeils erinneren. Oder spielt sich auch diese Ausdeutung nur in der Fantasie der Betrachtenden ab?
Antonia Hirsch hat bis 1994 am Central Saint Martins College of Art and Design in London studiert. Danach lebte sie bis 2010 in Vancouver, Kanada. 2022 war sie für längere Zeit in Japan unterwegs. Eine Recherchereise, die sie immer schon geplant hatte, aber aufgrund der Pandemie verschieben musste. Über diesen massiven Einschnitt und dessen Folgen auf ihre künstlerische Praxis äußert sie sich so: „Bei reduzierten Sozialkontakten sind es möglicherweise Objekte aller Art, auch oder besonders Konsumartikel, durch die wir uns emotional verbinden und erden. Das ist es eigentlich, was ich in meiner Arbeit ergründe: Wie Objekte – durch ihre Form und Beschaffenheit – die Befriedigung emotionaler und kreatürlicher Bedürfnisse versprechen und dadurch gesellschaftliche Zustände und Dynamiken beleuchten.“
Nicht zuletzt interessieren die Künstlerin Bildschirme und Monitore aller Art, die quasi wie Membranen zwischen uns und der Außenwelt funktionieren, aber auch leicht als Instrumente der Überwachung und Kontrolle missbraucht werden können. Antonia Hirsch setzt sich in der Lingener Ausstellung gleich in mehreren Arbeiten mit Screens auseinander. So in der Arbeit „Brittle Bedding“ (2021). Eine leicht gebogene Platte aus dunkel gefärbtem Glas erinnert an ein überdimensioniertes Handydisplay. Sie liegt auf einer Art Sockel aus zwei hellgrünen Kaltschaumplatten. Die untere ist dabei so gebogen, dass sie mit der bündig auf ihr liegenden oberen Platte eine gewisse Neigung erzeugt, der sich die Glasplatte komplett anpasst. Es entsteht also so etwas wie die Andeutung von Intimität zwischen zwei anorganischen Materialien, die den Menschen, der diese in Form von Touchscreens oder High-Tech-Matratzen tagtäglich benutzt, vollkommen ausblendet.
Man verlässt die anregende Schau mit dem Gefühl, sein eigenes, ohnehin schon vorhandenes Unbehagen gegenüber einer immer mächtiger werdenden, technoiden Dingwelt, deren Hervorbringungen wir alle tagtäglich benutzen, bestätigt zu sehen. Die synthetisch hergestellten High-Tech-Materialien, so steht zu befürchten, werden sich irgendwann selbst genügen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Antonia Hirsch – Phenomenal Fracture
Ort: Kunsthalle Lingen
Zeit: bis 2. Juni 2024. Di-Fr 10-17 Uhr. Sa/So 11-17 Uhr
Katalog: IDEA Books/Information Office, 2024, 192 S., zahlreiche Farbabbildungen, in deutscher und englischer Sprache, 32,25 Euro
Ein weiterer Katalog, speziell zur Lingener Ausstellung, ist in Vorbereitung
Internet: www.kunsthallelingen.de