Music for the Masses: In Mönchengladbach ebnet der Berliner Musiker und Künstler Ari Benjamin Meyers singenden Fußballfans den Weg ins Museum. Doch das ist längst nicht alles. Ein Atelierbesuch in Kreuzberg
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Ari Benjamin Meyers in seinem Atelier in Berlin-Kreuzberg, Foto: Heiko Klaas
Berlin-Kreuzberg im vierten Stock eines Gewerbehofs. In diesen von der Wintersonne durchfluteten Räumen arbeitet der in Berlin lebende amerikanische Komponist und Künstler Ari Benjamin Meyers. Das Herzstück seines Studios bildet ein älterer Flügel aus dem Jahr 1908. Echte Wertarbeit, wie Meyers betont. Bei Flügeln aus dieser Zeit seien noch richtig gute Materialien verarbeitet worden. Hier entstehen Kompositionen, die dann auch in seine künstlerischen Projekte einfließen. „Musik und Musikmachen sind die Basis meiner Kunst“, sagt Ari Benjamin Meyers und fügt hinzu: „Was bedeutet: Menschen sind die Basis meiner Kunst.“ Die Menschen – das können die unterschiedlichsten Individuen und Gruppen sein: Musikbegeisterte aus aller Welt im Melting Pot der Ostküstenmetropole Philadelphia, mit denen Meyers ein ungewöhnliches Orchester gebildet hat. Gegen die Depression ansingende Opel-Beschäftigte im mittlerweile abgewickelten Werk in Bochum oder auch Kinder in Graz, die während des Festivals Steirischer Herbst das erwachsene Publikum mit Wiegenliedern in den Schlaf sangen.
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Performance „Nation of sleep“, 2009, Steirischer Herbst Graz, Foto © Johanna Lamprecht
Ortswechsel: Mit einer Mitgliederzahl, die sich allmählich der 100.000er-Marke nähert, gehört der Bundesligist VfL Borussia Mönchengladbach nicht nur zu den größten Sportvereinen in Deutschland sondern auf der ganzen Welt. Die Vereinsfarben Schwarz-Weiß-Grün prägen das Mönchengladbacher Stadtbild, und die Fangesänge und Torhymnen des Clubs gelten weit über das Rheinland hinaus als legendär.
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Fan-Aufkleber im Stadtraum von Mönchengladbach, Foto: Heiko Klaas
Jetzt ist eine neue Komposition hinzugekommen, die sich vom stimmlichen Einerlei der Bundesliga markant abhebt. „Hymnus (Mönchengladbach)“, so der Titel der Komposition, besteht aus sieben einzelnen Hymnen, die markanten Orten der Fussball-Metropole zugeordnet sind. Sie wurde von Ari Benjamin Meyers in enger Zusammenarbeit mit Fangruppen des Vereins entwickelt.
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Besucherin in der Ausstellung „Hymnus (Fankurve)“ im Museum Abteiberg, Foto: Heiko Klaas
„Hymnus (Fankurve)“, so lautet der Titel einer Ausstellung, die noch bis zum 23. Februar im Museum Abteiberg in Mönchengladbach zu sehen ist. Sie bildet den letzten und abschließenden Teil des von Museumsdirektorin Susanne Titz und Kurator Gian Marco Hölk in Zusammenarbeit mit Ari Benjamin Meyers 2022 begonnenen dreiteiligen Projekts „KUNSTHALLE FOR MUSIC ACT I-III“. Ein Performanceabend und eine Live-Musik-Ausstellung im Museum gingen dem nunmehr letzten Akt voraus.
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KUNSTHALLE FOR MUSIC, Act II, Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 2023, Foto: Carlos Albuquerque
Ari Benjamin Meyers Installation versammelt Fans ganz unterschiedlicher Herkunft. Von Schüler:innen über Hausmeister, Minijobber, LKW-Fahrer, Lehrerinnen, Menschen aus dem Gesundheitswesen bis hin zu einer Schaustellerfamilie sind nahezu alle gesellschaftlichen Milieus vertreten. Was sie zusammenschweißt, ist die oft jahrzehntelange Treue zu ihrem Verein Borussia Mönchengladbach. Oder, wie es einer der Fans in dem ebenfalls im Museum gezeigten Making-Of-Film von Linus Kaufhold sagt: „Borussia ist Hobby, Liebe, Leidenschaft“.
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Fan-Kneipe Humboldt-Schänke gegenüber dem Hauptbahnhof Mönchengladbach, Foto: Heiko Klaas
Ari Benjamin Meyers arbeitet häufig kollaborativ. Auch für dieses Projekt hat er weitere Akteur:innen mit ins Boot geholt. Sein engeres Team umfasst die Berliner Dokumentarfotografin Anna Tiessen, den Kölner Sounddesigner Heiner Kunkel, den Grafiker Lukas Weber und den Berliner Autor Evan Hugo Tepest.
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Besucher in der Ausstellung „Hymnus (Fankurve)“ im Museum Abteiberg, Foto: Heiko Klaas
Entstanden sind sieben großformatige Leuchtkästen, die von den Museumsbesucher:innen im abgedunkelten Ausstellungsraum nach und nach abgeschritten werden können. Zu sehen sind mal einzelne Personen, mal kleinere, mal größere Gruppen von ausgewählten Fans, die an ikonischen Orten Mönchengladbachs singen. So sind etwa Aufnahmen in der Ruine des Hauses Westland entstanden, einem seit Jahrzehnten leerstehenden monumentalen Gebäudekomplex aus dem Jahr 1955 direkt gegenüber dem Hauptbahnhof. Der heruntergekommene Bau bildete einst das schicke Entrée zur Mönchengladbacher Innenstadt.
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Leerstehender Gebäudekomplex Haus Westland gegenüber vom Hauptbahnhof, Rückseite, Foto: Heiko Klaas
Einen Gegenpol dazu repräsentiert das Gelände des ehemaligen Bökelberg Stadions. Hier, wo bis zum 20 Jahre zurückliegenden Umzug des Vereins ins moderne Borussia-Park-Stadion das Herz der Mönchengladbacher Fussballkultur schlug, sind noch Fragmente des alten Stadions erhalten. Ein Teil der einstigen Spielfläche dient als Park. Drumherum jedoch ist eine Nobelsiedlung mit schicken Einfamilienhäusern im Bauhausstil entstanden. Gedreht wurde aber auch in einer Kirche, einem alten Polizeipräsidium oder auf der Bühne der stolz über Mönchengladbach thronenden Kaiser-Friedrich-Halle, einem multifunktionalen Veranstaltungsort in einem Prachtbau aus der Zeit des Jugendstils.
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Hymnus, Foto: Anna-Tiessen
Über Kopfhörer hört man im Museum Abteiberg die an den ganz unterschiedlichen Orten aufgenommenen Gesänge. Natürlich dürfen die eingeübten Klassiker der Szene wie etwa „Das Borussenlied“ in dieser Zusammenstellung nicht fehlen. Zur Aufführung gebracht wird aber selbstverständlich auch die von Ari Benjamin Meyers zusammen mit den Fans erarbeitete neue Hymne „Die MG Elf“. Es handelt sich dabei um die wohl erste atonale Vereins-Hymne der Welt. Inspiriert von der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs, basiert Meyers Tonfolge jedoch nur auf elf Tönen, was sie nochmals eine Spur avantgardistischer macht. Um das sperrige Klangkunstwerk unters Fussball- aber parallel dazu auch visuell unters Kunstvolk zu bringen, hat Meyers die Partitur auf Schals drucken lassen. Die sehen in ihrer schwarz-weißen Optik zwar entschieden seriöser aus als der klassisch bunte Fanschal. Angenommen haben sie die erstaunlich aufgeschlossenen Gladbach-Fans aber trotzdem.
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Ari Benjamin Meyers, Hymnus, KUNSTHALLE FOR MUSIC in Mönchengladbach, Act III, Museum Abteiberg Mönchengladbach, Foto: Achim Kukulies
Ari Benjamin Meyers, der 1972 geboren wurde und in Long Island, New York aufgewachsen ist, kam bereits 1996, ausgestattet mit einem der begehrten Fulbright-Stipendien, nach Berlin, wo er bis heute lebt und arbeitet. Ursprünglich ausgebildet als Pianist, Komponist und Dirigent, hat er im Laufe der Zeit zunächst durch Kooperationen mit Künstler:innen wie Philippe Parreno, Dominique Gonzalez-Foerster oder Tino Sehgal immer engere Kontakte zur bildenden Kunst geknüpft. Kollaborationen spielen weiterhin eine wichtige Rolle für ihn, aber seit 15 Jahren entstehen schon längst eigene künstlerische Arbeiten, die international in Museen, anderen Institutionen und auf Biennalen gezeigt werden.
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Zitat über dem Arbeitsplatz im Atelier von Ari Benjamin Meyers, Foto: Ari Benjamin Meyers
Seit 2013 wird Meyers auch von der renommierten Berliner Galerie Esther Schipper vertreten. Seit Oktober 2024 ist er als Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf tätig. Die Mönchengladbacher Ausstellung geht schon bald zu Ende. Ab dem 15. März besteht dann aber im Kunstverein Braunschweig die Gelegenheit, eine weitere Ausstellung Meyers zu besuchen. In der dortigen Remise zeigt der unermüdliche Wanderer zwischen Musik und Kunst dann seinen ersten richtigen Kunst-Film. Und für den lohnt sich auch eine weitere Anreise.
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Filmstill „Marshall Allen, 99, Astronaut“
Courtesy the artist and Esther Schipper, Paris/Berlin/Seoul
„Marshall Allen, 99, Astronaut“ ist eine respekt- und liebevolle Hommage an den mittlerweile 100-jährigen Saxophonisten Marshall Allen, der zusammen mit weiteren Musikerkollegen im Sun Ra House, einem geschichtsträchtigen, aber baufälligen Gebäude in Philadelphia, lebt und dort bis heute das musikalische Erbe des visionären Jazzmusikers Sun Ra (1914-1993) pflegt. Man könnte es als glückliche Fügung des Schicksals bezeichnen, dass Allens überhaupt erstes Soloalbum „New Dawn“ gerade vor ein paar Tagen rausgekommen ist und von der Fachwelt begeistert gefeiert wird.
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Porträt Ari Benjamin Meyers, Foto: Heiko Klaas
Ari Benjamin Meyers ist es durchaus bewusst, dass wir in unruhigen Zeiten leben. Die Wiederwahl Trumps, der Rechtsruck in Europa, diverse Kriege und der Klimawandel stellen auch ihn als Künstler gerade jetzt vor neue Herausforderungen: „Ich glaube, wir brauchen dringend Unterhaltung und Schönheit“, sagt er. „Aber Kunst muss auch etwas tun. Für mich ist wichtig, das jede Arbeit von mir eine reale Wirkung in der Welt hat.“
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Hymnus, Foto: Anna Tiessen
Auf einen Blick:
Ausstellung: Hymnus (Fankurve)
Kunsthalle for Music in Mönchengladbach
Act III
Ort: Museum Abteiberg, Mönchengladbach
Zeit: bis 23. Februar 2025. Di-Fr 11-17 Uhr. Sa und So 11-18 Uhr. Dritter Do im Monat 11-22 Uhr
Katalog: Begleitheft durch die Ausstellung, 36 S., kostenlos
Internet: www.museum-abteiberg.de
www.aribenjaminmeyers.com
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Ausstellung: Ari Benjamin Meyers. Marshall Allen, 99, Astronaut
Ort: Kunstverein Braunschweig
Zeit: 15.3.-1.6.2025
Internet: www.kunstvereinbraunschweig.de
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Nordkurve im Stadion im Borussia-Park, Foto: Heiko Klaas