Das Pariser Palais de Tokyo zeigt eine große Überblicksschau mit Werken der international erfolgreichen vietnamesischen Multimediakünstlerin Thao Nguyen Phan

Thao Nguyen Phan: Becoming Alluvium, Courtesy of the artist and Zink Gallery
„Ich denke, meine Arbeit ist sehr persönlich. Ich interessiere mich für Erzählungen und Literatur. Und auch für bewegte Bilder und Malerei“, sagt die vietnamesische Künstlerin Thao Nguyen Phan über ihren künstlerischen Ansatz. Dementsprechend breit ist auch ihr Medienspektrum. Es umfasst Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen, Installationen, die Arbeit mit gefundenen Büchern und Aufzeichnungen, aber auch bewegte Bilder in Mono- oder Mehrkanal-Videoarbeiten. All das ist jetzt in einer umfassenden, von Daria de Beauvais kuratierten Solo-Schau in Paris zu sehen.

Palais de Tokyo: Thao Nguyen Phan, Ausstellungsansicht, Foto: Palais de Tokyo
„Le soleil tombe sans un bruit“, zu Deutsch etwa „Die Sonne geht lautlos unter“, so lautet der Titel der ersten institutionellen Einzelausstellung der 1987 in Ho-Chi-Minh-Stadt geborenen Künstlerin in Frankreich. Wie alle Details im Werk von Thao, so die üblicherweise verwendete Kurzform ihres Namens, ist auch der Titel ihrer Pariser Schau mit Bedacht ausgewählt. Er spielt auf einen Band mit Kurzgeschichten des japanischen Schriftstellers Yasunari Kawabata an, der 1968 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Kawabata ist für seinen schwer übersetzbaren, von Mythen, magischen, und spirituellen Momenten durchsetzten Stil bekannt. Damit ist eigentlich auch schon der Kurs von Thaos Ausstellung weitgehend bestimmt. Denn um vollständige Auflösung oder Dechiffrierung ihrer vielschichtigen und metaphernreichen Werke durch das Publikum geht es auch ihr nicht, sondern vielmehr darum, durch künstlerische Setzungen spezifische polyphone Atmosphären und Stimmungen zu schaffen, in die sich die Betrachter:innen hineinbegeben können. Was genau auf persönlichen Erfahrungen beruht, was auf historischen Tatsachen und was auf Mythen, wird dabei bewusst offen gelassen.

Thao Nguyen Phan_Voyage de Rhodes, courtesy HANGARBICOCCA,2025-05, Courtesy Agostino Osio
In ihrer sehenswerten Ausstellung im Palais de Tokyo stellt Thao Bezüge zu verschiedenen Persönlichkeiten und historischen Begebenheiten her, die Vietnam und Frankreich miteinander verbinden. So ist beispielsweise eine Arbeit zu sehen, in welcher sie in Aquarelltechnik ein Buch mit den Reise-aufzeichnungen des Jesuiten-Priesters Alexandre de Rhodes (1591-1660) mit eigenen, teilweise feministisch unterfütterten Kommentaren versehen hat. Natürlich spart sie die traumatischen Ereignisse der Kolonialzeit nicht aus, sie reflektiert aber gleichzeitig auch die Gegenwart und die Zukunft, insbesondere auch im Hinblick auf aktuelle Umweltfragen und soziale Verwerfungen, die für die jüngere Generation ihres Landes eine zentrale Rolle spielen.

Palais de Tokyo: Thao Nguyen Phan, Ausstellungsansicht, Foto: Palais de Tokyo
Der Ort könnte dafür nicht besser gewählt sein. Das Palais de Tokyo, ein ursprünglich für die Weltausstellung 1937 gebautes Ausstellungshaus, das seit 2002 Schauplatz unzähliger Ausstellungen mit Gegenwartskunst war, ist kein klassischer White Cube, also ein so neutral wie möglich gestalteter weißer Würfel, der jede Interaktion zwischen Werk und Raum bewusst vermeidet, sondern ein bisweilen kolossaler , bisweilen verschachtelter Bau mit langer Historie. 2012 noch einmal erweitert und behutsam umgebaut von dem mit dem Pritzker Prize 2021 geehrten Architektenpaar Lacaton & Vassal, bekennt sich das Gebäude zu seiner wechselvollen Geschichte. Versorgungsleitungen laufen offen über den Putz verlegt durch die Räume, eine Klimaanlage gibt es nicht, und viele der Wände sind roh und unverputzt.. Dafür bietet der labyrinthische Bau aber mit rund 22.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche unendlich viel Platz und Nischen für Experimente wie kaum ein anderes europäisches Ausstellungshaus ohne eigene Sammlung.

Porträt Thao Nguyen Phan, Foto: Heiko Klaas
Ihre Geschichten bezieht Thao ganz überwiegend aus der Historie und der aktuellen Situation ihres Landes. Die umfasst allerdings weit mehr Aspekte als nur den Vietnamkrieg, eine relativ kurze historische Phase, auf die vietnamesische Künstler:innen, wie Thaos Pariser Galeristin Le Thien-Bao beim Rundgang berichtet, leider bis heute immer wieder festgenagelt werden.
Thao hingegen taucht wesentlich tiefer ein in die vielschichtige Geschichte eines sehr komplexen Landes, das geprägt ist von verfeindeten ideologischen Lagern, großen Gegensätzen zwischen Stadt und Land, christlichen Missionaren, intensiver Landwirtschaft und Industrie, ökologischen Missständen und nicht zuletzt dem schweren Erbe der französischen Kolonialherrschaft. Ambivalenzen dominieren hier über Eindeutigkeiten.
Vietnam prägt also ihr künstlerisches Projekt. Doch das war nicht immer so. Thao musste sozusagen zunächst ihr artistisches Instrumentarium und das Themenspektrum ihrer Arbeiten erweitern, um sich künstlerisch mit ihrem Land beschäftigen zu können.
„Es gab eine Zeit in der ich die inhaltliche Auseinandersetzung mit Vietnam aus der Befürchtung heraus vermieden habe, dass ich dadurch bloß Empfindungen wie Nostalgie und Trauma auslösen würde, in dem Sinne, dass die meisten Amerikaner Vietnam nur deshalb kennen, weil dort der Krieg stattgefunden hat“, so Thao noch 2020 in einem Interview.

Thao Nguyen Phan: Untitled after JJ and FGT, 22 Solar-Noon Series 2025, Courtesy of the artist and Gallery Zink
In ihren aktuellen Werken verwebt sie historische Tatsachen mit Fiktionen, die offizielle Geschichtsschreibung kontrastiert sie mit Aspekten einer subjektiv aufgeladenen „Geschichte von Unten“. Statt die Verbrechen der Franzosen direkt zu benennen, kleidet sie bestimmte Begebenheiten in poetisch-metaphorisch aufgeladene Narrative ein. Dabei setzt sie unter anderem auf die Faszination, die von natürlichen Materialien wie Jute oder Seide ausgeht. So können die Besucher:innen ihrer Ausstellung, die im Untergeschoss des Palais de Tokyo auf einem Parcours eingerichtet ist und vier unterschiedliche Zonen umfasst, bereits von einer Empore aus auf zwei zentrale Arbeiten hinunterblicken: ein großes nierenförmiges Sofa, das mit weißer, leicht geraffter Seide überzogen, ist und gleich dahinter eine Art Raumteiler aus getrockneten Jutestängeln, der den Titel „No Jute Cloth for the Bones“ trägt. Wer ihn durchschreitet, den wird das Klackern der Stäbchen womöglich an das Aneinanderschlagen menschlicher Knochen erinnern.
Was auf den ersten Blick also poetisch aussieht und harmonisch inszeniert wirkt, weist auf ein dunkles Kapitel in der Geschichte ihres Landes hin: Die Zeit der japanischen Besetzung zwischen 1940 und 1945. Thao erzählt, dass das japanische Militär damals zugunsten des Anbaus der ursprünglich aus dem Mittelmeerraum stammenden Jutepflanze in Indochina große, eigentlich für den Reisanbau reservierte Flächen okkupiert hat. Rund zwei Millionen Menschen sind durch diese erzwungene Umnutzung von Agrarflächen verhungert.

Palais de Tokyo: Thao Nguyen Phan, Ausstellungsansicht, Foto: Palais de Tokyo
Die andere starke Geste, mit der Thao ihren Ausstellungsparcours einläutet, stellt das seidenbezogene Sofa dar, dass als Sitz- oder Liegefläche von den Besucher:innen benutzt werden kann.
Die eigentümliche Form dieses Möbels gibt schon einen dezenten Hinweis auf einen anderen zentralen Aspekt der Ausstellung. Thao schafft nämlich regelmäßig starke Bezüge zwischen ihren eigenen Arbeiten und Werken für sie einflussreicher Figuren. Diem Phung Thi (1920-2002), eine vietnamesisch-französische Künstlerin, die zu Thaos wichtigsten Inspirationsquellen zählt, nimmt mit ihren Werken großen Raum in der Ausstellung ein. Obwohl sie den Großteil ihres Lebens in Frankreich verbracht hat und erst 1992 zurück nach Vietnam gezogen ist, gilt Diem Phung Thi als die wichtigste Vertreterin der modernen vietnamesischen Bildhauerei und als „vietnamesische Antwort auf Louise Bourgeois“. Ausgehend von sieben selbst ausgedachten modulartigen Formen, die in immer wieder neuen Kombinationen miteinander verbunden werden können, hat sich Diem Phung Thi ein eigenes Formenrepertoire geschaffen, das eine unendliche Vielzahl von Möglichkeiten offeriert.

Palais de Tokyo: Thao Nguyen Phan, Ausstellungsansicht, Foto: Palais de Tokyo
Thao erweitert ihre künstlerische Praxis hier um eine kuratorische Komponente, indem sie etliche der von Diem Phung Thi geschaffenen Objekte, die teilweise auch als Modelle für große Skulpturen im öffentlichen Raum Frankreichs dienten, auf einem organisch geformten Tisch präsentiert. Außerdem sind Gemälde und Schmuckstücke ausgestellt – auch das ein wichtiger Aspekt im Werk von Diem Phung Thi. Mit eigenen Gemälden, die an ihre ursprüngliche Ausbildung als Lackmalerin erinnern, reagiert Thao in dieser Sektion auf das Werk der von ihr verehrten Künstlerin, deren Werk in Vietnam ein eigenes Museum gewidmet ist.

Thao Nguyen Phan: Video-Installation „Reincarnation of Shadows“, Foto: Palais de Tokyo
Die rund 16-minütige 5-Kanal-Videoinstallation „Reincarnation of Shadows“ rückt zwar wiederum Leben und Werk Diem Phung Thies in den Fokus, in ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit wechseln sich hier aber auch filmische Reflexionen über unberührte vietnamesische Flusslandschaften, moderne und traditionelle Architektur, das sorgsame Arrangieren grün glasierter Keramikelemente, meditative Zusammenkünfte und wichtige historische Ereignisse ab. Untermalt vom Sound der Dan tranh, einem an eine Zither erinnernden Saiteninstrument, versetzt diese Arbeit das Publikum in einen kontemplativen, leicht trancehaften Zustand.

Porträt Thao Nguyen Phan, Foto: Bejakon
Im ersten Moment könnte man denken, diese und die weiteren in diesem Raum gezeigten Videoarbeiten würden in völliger Dunkelheit präsentiert. Doch bei einer Künstlerin, in deren Werk Ambivalenzen, Zwischenwelten und Transformationen eine derart große Rolle spielen wie bei Thao verwundert es natürlich nicht, dass auch hier wieder flüchtige und unbestimmte Elemente mit eingebaut werden. Thao, die es als eine der Initiatorinnen des Künstler:innenkollektivs Art Labor gewohnt ist, regelmäßig Kollaborationen einzugehen, hat hier ihren ebenfalls als Künstler ausgebildeten Mann Truong Công Tung, Jahrgang 1986, zu einer Intervention eingeladen.
Er hat dafür gesorgt, dass der Ausstellungsraum eine kaum wahrnehmbare kreisförmige Öffnung erhält, durch die abhängig von der Tageszeit und den Wetterbedingungen gelegentlich ein paar Sonnenstrahlen in den Raum fallen. „Transference“, so der Titel dieser sehr zurückgenommenen, geradezu demütig daherkommenden Arbeit, ist ebenso inspiriert vom kosmologischen Wissensschatz der indigenen Vorfahren des Künstlers, wie von westlichen Vorstellungen über Zeit, menschliches Leben und dessen Vergänglichkeit.

Trương Công Tùng, Long Long Legacies…, 2021, exhibition view at Hamburger Kunsthalle. Photo: Galerie Bao
Wer mehr von Truong Công Tungs Arbeiten sehen will, der sei auf die sehr sehenswerte Ausstellung des Künstlers mit dem Titel „Der Tag neigt sich dem Ende zu… Die Nacht bricht herein“ verwiesen, die noch bis zum 14. September 2025 in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist. Truong Công Tung ist der aktuelle Stipendiat der Philipp Otto Runge Stiftung. In Hamburg zeigt er unter anderem interaktive Skulpturen aus verlassenen Termitenbauten oder ausgedienten Seidenraupenkästen, die mit Licht- und Soundeffekten überraschen, sobald Betrachter:innen sich ihnen nähern.

Thao Nguyen Phan: Sketch of Reincarnation of Shadows, Courtesy of the artist and Gallery Zink
Thao Nguyen Phan und Truong Công Tung scheinen mit ihrer von der Suche nach Identität im Spannungsfeld von Traum und Mythos, historischen Fakten, persönlichen Erinnerungen sowie indigenen, spirituellen und buddhistischen Elementen einen gewissen Nerv zu treffen, der im westlichen Kunstbetrieb derzeit auf großes Interesse stößt. Auch wenn sie in ihren Arbeiten Themen wie Kolonialismus, Krieg, Besatzung, landwirt-schaftliche Monokulturen und den Raubbau von Ressourcen behandeln, so wirken ihre Werke doch nie überpolitisiert oder didaktisch. Beiden gelingt es, komplexe Zusammenhänge in sinnlichen Arbeiten mit hoher Materialästhetik für ein aufgeschlossenes Publikum zugänglich zu machen. Wer nicht nach Paris oder Hamburg reisen kann, um ihre Ausstellungen zu besuchen, hat vom 29. Juni bis zum 21. September 2025 Gelegenheit, Werke der beiden in einer Gruppenausstellung mit dem Titel „Tales without Time – Poetry of Storytelling“ in der Galerie Zink in Waldkirchen in der Oberpfalz zu sehen.

Thao Nguyen Phan: Reincarnation of Shadows, Still, Courtesy the artist and Gallery Zink
Auf einen Blick:
Ausstellung: Thao Nguyen Phan: The Sun Falls Silently
Ort: Palais de Tokyo, 13, avenue du président Wilson, 75116 Paris France
Zeit: bis 7.9.2025, täglich außer dienstags 12-22 Uhr, Do 12-24 Uhr
Katalog: Monsoon Melody, Mousse Publishing Mailand, 224 S., 18 Euro, in englischer Sprache
Internet: www.palaisdetokyo.com
Ausstellungshinweis: Werke von Thao Nguyen Phan sind vom 29. Juni bis 21. September 2021 in der Gruppenausstellung „Tales Without Time –Poetry Of Storytelling“ Galerie Zink, Waldkirchen zu sehen.
www.galerie-zink.com
Die Ausstellung „Truong Công Tung: Dẻr Tag neigt sich dem Ende zu…Die Nacht bricht herein“ ist bis zum 14. September 2025 im Foyer der Galerie der Gegenwart in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.
www.hamburger-kunsthalle.de

Trương Công Tùng,In The Cyclical Play of Opposites…, 2025-ongoing, Day Wanes… Night Waxes… , exhibition view at Hamburger Kunsthalle. Photo: Galerie Bao