Mit dem Wort „Turbo“ verbinden wir gemeinhin Begriffe wie Beschleunigung, Schnelligkeit oder Unverzüglichkeit. In einer Gegenwart, die der Accelerationslogik einer spekulativen Ökonomie – dem „Turbo-Kapitalismus“ – untersteht und in der das Tempo der Kommunikation der Obsession einer global synchronisierten Jetztzeit folgt, beschreibt der Begriff „Turbo-Kultur“ sehr treffend die auf dem Balkan zu beobachtende Praxis der unverzüglichen Aneignung kultureller Versatzstücke aus Kunst, Mode, Architektur und Musik. Die altbekannte, kulturelle Hybridisierung des Balkans bekommt eine neue Qualität, denn im Heute werden, exzessiv und scheinbar nur dem Prinzip der Regellosigkeit verpflichtet, regionale und globale Einflüsse vermischt, sodass sich am Ende ein für den Außenstehenden groteskes und überraschendes Bild kultureller ‘Produktion‘ ergibt. Eine ‘Entgrenzung‘ – territorial oder geistig – prägt das Land und den Lebenslauf.
Die Künstlerin Aleksandra Domanovic, 1981 in Serbien geboren, untersucht in ihren Arbeiten kulturelle Phänomene und deren Einfluss auf die Ausbildung der eigenen wie auch kollektiven Identität. Der Titel ihres Video-Essays „Turbo Sculpture“ (2009-2012) verweist als Wortschöpfung klar auf den Begriff der „Turbo-Kultur“ und dokumentiert den speziell in Serbien verbreiteten – vielleicht befremdlichen – Prozess, sich von der eigenen, jüngsten Geschichte zu distanzieren, indem man an öffentlichen Plätzen Statuen von realen Stars oder fiktiven Helden westlicher Nationen errichtet.
Johnny Depp, Bruce Lee, Bob Marley und Rocky Balboa vermitteln vermeintliche Ideale und bleiben auch in den Wirren politischer Auseinandersetzungen neutral und werden vielleicht gerade deshalb zu meterhohen, plastischen Symbolfiguren aus Bronze und anderen Materialien – und auf diese Weise vielleicht auch zur Projektionsflächen des amerikanischen Traums, der persönlichen Erfolg aus eigener Anstrengung verspricht. Nach den Gräueltaten eines Krieges, den man weit hinter sich lassen möchte, sind sie für viele Menschen zwar fiktionale, aber dennoch bessere und beständigere Identifikationsfiguren als Kriegshelden oder nationale politische Führer.
Der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens, den die Künstlerin selbst schmerzhaft miterlebt hat, ist ein rekurrierendes Thema in Domanović’ Arbeiten. Dabei geht es ihr allerdings nicht darum das Land ihrer Kindheit zu nostalgieren, auch sind ihre Arbeiten keinesfalls bloße Vehikel im Dienste der persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Die Künstlerin bietet mit Arbeiten, die auf ihre eigene Jugend referieren immer auch einen phänomenologischen Blick auf sich selbst an.
Die Arbeit „Portrait“ (2011) zeigt ein 3D-Rendering der Büste des langjährigen Präsidenten Jugoslawiens Josip Broz Tito. Ein ähnliches Portrait Titos, maskulines Symbol für die damalige Staatengemeinschaft, zierte die Stirnwand eines jeden Klassenzimmers in ihrer ehemaligen Schule. Die Künstlerin greift die Ähnlichkeit einer ihrer früheren Lehrerinnen mit diesen Abbildungen auf und lässt im Dialog mit einem ukrainischen 3D-Modellbauer eine weibliche Version des einstigen ideologischen Führers entstehen. Die abgebildete Büste wird bewusst von einer computergenerierten Messing-Oberfläche geziert, um auf die starke Präsenz hinzuweisen, die der ehemalige Staatschef sowohl in Domanović’ persönlicher wie auch in der kollektiven Erinnerung der Bevölkerung auch Jahre nach der Auflösung Jugoslawiens noch hat.
Aleksandra Domanovic thematisiert und instrumentalisiert digitale Medien, zitiert, archiviert, modifiziert und wird selbst zur Vermittlerin. Gemeinsam mit drei Kollegen betreibt sie sehr erfolgreich den nahezu völlig von Bildern dominierten Kunst-Blog http://www.vvork.com und auch über ihre eigenen Arbeiten erfährt man am meisten wenn man ihre Homepagehttp://aleksandradomanovic.com besucht. Dort bietet sie unter anderem auch PDFs der „paper-stacks“ an, die von jedem Besucher der Website kostenlos heruntergeladen werden können.
Die aus etwa 10.000 gestapelten A3 oder A4 Blättern bestehenden Stelen sind randumlaufend mit verschiedenen Fotografien bedruckt, deren Themenumfeld vom Verfall des Hotels Marina Lučica an der kroatischen Küste bis hin zu den Fußball-Riots im Jugoslawien der frühen 90er Jahre reicht. Für Domanovic markiert der gewalttätige Hooligan-Konflikt vom 13. Mai 1990 – beim Heimspiel des Dynamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad – den inoffiziellen Kriegsbeginn auf dem Balkan, auch weil sogenannte Roter Stern-„Fans“ von dem bekannten Kriegskriminellen „Arkan“, der später vom Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen Verbrechen an kroatischen und moslemischen Zivilisten angeklagt und gesucht wurde, in Serbien mobilisiert und nach Zagreb gebracht wurden. Viele der Akteure dieses Hooligan-Konflikts waren in den folgenden 10 Jahren maßgeblich an den Gräueltaten des Balkan-Krieges beteiligt und so ist der Titel „Grobari“, den eine der Papier-Stelen trägt, sehr passend gewählt – auf serbisch bedeutet er „Totengräber“ und ist zugleich der Name einer der bekanntesten Hooligan-Gruppen.
Andere Arbeiten dieser Werkgruppe wurden mit Daten betitelt, welche auf die Abschaltung der ehemaligen jugoslawischen Internet-Domain „.yu“ referieren. Diese wurde für den 30.09.2009 angekündigt und erfolgte schließlich am 30.03.2010. Für Domanovic bezeichnet dieses Datum nicht nur das virtuelle, sondern auch das reale Ende der Staatengemeinschaft, des Landes in dem sie geboren wurde. Trotz ihres rauen politischen Hintergrunds wirken die „paper-stacks“ allesamt ästhetisch, als hätte man hier den Versuch unternommen, Blatt für Blatt und Schicht für Schicht wieder Ordnung in eine von gewalttätigen, politischen Konflikten geprägte Wirrnis zu bringen.
Eine weitere Arbeit Domanović’, die sich mit dem Zerfall Jugoslawiens und nationaler Identität befasst, ist die Videoarbeit „19:30“ (2010/11). Sie besteht aus mühsam zu einem eigenen Archiv zusammengetragenen „idents“, einer Kombination aus Vorspannmusik und animiertem Logo, der Jugoslawischen Nachrichtensendungen von 1958 bis heute. Die Künstlerin lud Techno-DJs ein, aus den aufwändig recherchierten, originären Sounds Remixe zu produzieren.
Das Projekt verbindet zwei unterschiedliche Erfahrungen von Zusammenhalt miteinander: Das zu Kriegszeiten fast rituelle, gemeinsame verfolgen der Abendnachrichten um 19:30 Uhr und Techno-Musik, die in den 90er Jahren unzählige junge Menschen aus der Region auf Raves zusammenbrachte und ihnen für kurze Zeit einen Raum gab, in dem Toleranz und das Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Nationalitäten möglich schienen. Durch die Vermischung dieser zwei Komponenten entwickelt Domanovic in „19:30“ ein komplexes Ebenen-Spiel aus Erinnerungen an historische und persönliche Ereignisse und an ein Land, das nicht mehr existiert.
In einer Zeit, in der mancher sagt, unser Leben könne nur noch einer Sammlung von Zitaten gleichen – das Konzept der Bricolage scheint in der kulturellen und medialen Produktion fast allgegenwärtig – und in der die Identität in einer ästhetischen Datenwolke konturlos zu werden droht, zeigt Aleksandra Domanovic wie wichtig künstlerische Gedächtnis- und Medienanalyse heute tatsächlich sind. Domanovic’ theoretischer wie künstlerischer Ansatz scheint crossmediale Methoden fast schon zu erfordern und gerät in logischer Konsequenz bisweilen in Konflikt mit Fragen des Copyrights. Aber vielleicht sind es gerade die Bewegungen in solchen Spannungsfeldern, die zu den substanziellsten Ergebnissen führen und aufzeigen, welche Grenzen im digitalen Zeitalter an die Stelle nationaler und politischer getreten sind.